Digitales Indien

Bürokratie und Schlaglöcher halten technologische Revolution nicht auf

28.04.2000
In der Debatte um die Green Card werden ausländische Computerspezialisten oft nur mit indischen Programmierern gleichgesetzt. Warum soll ein Schwellenland wie Indien die besser ausgebildeten Spezialisten haben, fragen sich Gegner der Initiative. Peter Popham* beschreibt die Entwicklung des Subkontinents zwischen Softwareentwicklung und Analphabetismus.

Dahintrottende Kühe, alte Autos, zweifelhafte hygienische Zustände, Massen von Analphabeten und Computer: Die Inkompatibilität scheint absolut. Indien hat aber eine lange Geschichte der Mathematik. Im alten Indien erfanden weise Männer die Zahl Null. Unter den schönsten Monumenten von Delhi und Jaipur sind jahrhundertalte astronomische Observatorien verborgen, die von fortgeschrittenen mathematischen Kenntnissen zeugen. Der Inder Vinod Dham entwickelte den Pentium-Prozessor.

Mit einer kleinen, aber blühenden Softwareindustrie steht Indien mit China und Südostasien im Wettbewerb. Das Internet breitet sich zunehmend aus. Vor allem arme Unternehmen sehen das Netz als Möglichkeit, die Chancengleichheit mit reichen Konkurrenten im Ausland herzustellen. Es scheint wahrscheinlich, dass bald sogar die arme, nicht ausgebildete Bevölkerung in den Slums und auf dem Land davon profitiert.

Die Softwarebranche schrieb die größte wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Indiens in den 90er Jahren. "Wenn ich davon höre", sagt der Pentium-Mann Dham, "fühle ich mich genau eine Nanosekunde lang gut. Die Statistiken zeigen, dass Indien am 500 Milliarden Dollar schweren Weltmarkt für Software einen Anteilvon drei Milliarden Dollar hat. Das sind etwa 0,6 Prozent."

Dennoch bleibt es eine Erfolgsgeschichte. Vor 15 Jahren existierte die Branche in Indien kaum. Während der 90er Jahre wuchs sie jährlich um mehr als 50 Prozent, 1999 um fast 70 Prozent. Jetzt gibt es 200000 Softwarespezialisten im Land, mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen. Jährlich kommen über 60000 neue Stellen für Programmierer hinzu. Vor allem in Bangalore und Hyderabad konzentriert sich der Großteil der indischen Softwareindustrie. Das größte Unternehmen ist Tata Consultancy Services mit über 11000 Mitarbeitern und einem Umsatz von mehr als zehn Milliarden Rupien (etwa 465 Millionen Mark).

Insgesamt sollen auch in Indien 67000 Computerexperten fehlen. Softwareprogrammierer sind Indiens Exportschlager. Viele junge Absolventen mit einer Begabung für Zahlen und abstraktes Denken streben einen Platz in der Computerindustrie an, wandern aber immer häufiger zu besser bezahlten Jobs ins amerikanische Silicon Valley ab. S. Shekar, Vorstandsvorsitzender von Mascot Systems, einem Teil des amerikanischen Mastech-Imperiums, ist besorgt über diesen "Braindrain".

Jahrzehntelang war es aufgrund einer repressiven Regierungsbürokratie für indische Unternehmen schwierig, ins Ausland zu expandieren. Die Computerrevolution aber hat zu einem "Tod der Entfernung" geführt, wie es der Verwaltungschef eines führenden indischen Softwareunternehmens ausdrückte. Das Internet mit seinen niedrigen Verbindungsgebühren ermöglicht es indischen Unternehmern, die ganze Welt als ihren Hinterhof zu betrachten. Auch Vorurteile verlieren mit der Entfernung ihre Bedeutung. "Im Internet bin ich einfach nur ein ,John''. Niemand kommt darauf, dass ich ein dunkelhäutiger John bin", sagt ein indischer Softwarespezialist.

Eines der prägnantesten Worte Mahatma Ghandis war: "Bevor Du eine neue Politik in die Tat umsetzt, frage Dich selbst, welchen Nutzen sie den Ärmsten der Armen bringt." Heute haben Computer für die Hälfte der Inder keine Bedeutung, da sie zu den Analphabeten zählen. Doch das ändert sich. In einem nordindischen Dorf können Menschen, die nicht die geringste Ahnung von Computern haben, Video- und Tonnachrichten über das Netz schicken. Analphabetische Paare, die wegen ihrer Arbeit getrennt leben, können so in Kontakt bleiben.

Computer in den SlumsIndiens Bevölkerung beträgt fast eine Milliarde Menschen, aber im Moment hat nur jeder 5000. von ihnen direkten Zugang zum Internet. Ein Experiment in einem Slum von Delhi zeigt jedoch, dass unter Analphabeten und verarmten Slumbewohnern Computerkenntnisse genauso leicht verbreitet werden können wie die Liebe zum Kino oder die Verwendung des Telefons - allerdings mit noch bedeutenderen Auswirkungen.

Im Januar installierte Sugata Mitra, Professor am privaten National Indian Institute of Technology (NIIT) in Delhi, einen PC mit Internet-Zugang an der Außenmauer des Instituts, nur einige Meter von einem Slum entfernt. Zu Anfang hatten die Slumkinder, die sich darum scharten, keine Ahnung, um was es sich handelte. Trotzdem dauerte es nur Tage, bis sie im Web surften, zeichneten, sich selbst Dinge beibrachten, Ordner anlegten, ausschnitten, einfügten und Nachrichten schrieben. "Was wir beobachteten, war seltsam und wundervoll zugleich", sagt Mitra. Er ist überzeugt davon, dass diese einfache Schnittstelle ein Modell dafür sein könnte, wie Computer die indische Gesellschaft verändern können.

Bangalore ist Indiens inoffizielle Hauptstadt der Hochtechnologie, Heimat für Dutzende von Softwarefirmen, die Indiens größte wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ausmachen. Als Hauptstadt des Bundesstaates Karnateka im tiefen Süden des Landes ist Bangalore nach indischen Maßstäben grün, wohlhabend und angenehm.

Ashok Khosla, Amerikaner indischer Herkunft, wurde von Apple hergeschickt, um ein Softwareunternehmen aufzubauen. Als er Infosys, die erste Adresse unter den ortsansässigen Unternehmen, in der 30 Kilometer entfernten Electronic City besuchte, brauchte er für den Hinweg über eine Stunde: "In den wenigen asphaltierten Teilen der Straße waren halsbrecherische Schlaglöcher in Kratergröße, dazwischen 20 Zentimeter hohe Schwellen gegen schnelles Fahren. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 25 Stundenkilometer."

Trotzdem lernte Khosla schnell, die indischen Computerfachleute zu respektieren. "Ich bin sehr stolz auf das Talent, das es hier gibt", schrieb er in sein Web-Tagebuch. "Die Ingenieure sind sehr clever. Das müssen sie auch sein, um in einem Land ohne Ressourcen Erfolg zu haben." Zu einer kürzlich in Bangalore stattfindenden fünftägigen IT-Messe kamen jeden Tag 70000 Besucher.

Neue ArbeitsplätzeDer Schlüssel zu Indiens Erfolg im Softwarebereich sind seine Arbeitskräfte. Inder aus der Mittelschicht beherrschen Englisch fast so gut und sicher wie Briten oder Amerikaner. Sie sind ehrgeizig, arbeiten hart und lang für Gehälter, die nach westlichen Maßstäben völlig unzureichend wären: Das Einstiegsgehalt für einen Programmierer liegt zum Beispiel bei 12000 Rupien im Monat, was etwa 530 Mark entspricht. Dieses Gehalt vervierfacht sich dann innerhalb von sechs Jahren.

Die Minimallöhne und die Zeitverschiebung - der Subkontinent ist der Londoner Zeit viereinhalb, der New Yorker Zeit zehneinhalb Stunden voraus - bedeuten, dass Indiens Computerfachleute in ihrer Branche das Äquivalent von über Nacht arbeitendem Reinigungspersonal sind. Sie beseitigen Programmfehler und installieren das System neu, während ihre reichen Kunden schlafen. Aber kluge Leute in der Branche wissen, dass sich das ändern muss. "Wenn wir nur Hochtechnologie am unteren Ende der Lohnskala produzieren, geht der Schuss nach hinten los", warnt Computerguru Dham. In der jüngsten Vergangenheit sind indische Unternehmen durch das Jahr-2000-Problem reich geworden, da das Aufspüren der fehlerhaften Programmcodes arbeitsintensiv war und viele westliche Firmen dafür auf billigere indische Programmierer zurückgriffen.

Rote BänderEs ist eines der vertrautesten Bilder in Indien: Das Regierungsbüro ist staubig und heruntergekommen, jede verfügbare Oberfläche ist mit dicken alten Akten bedeckt, die von roten Bändern zusammengehalten werden - kein einziges modernes technisches Gerät in Sicht. Einige dieser schwankenden Stapel sehen aus, als wären sie seit der Unabhängigkeit nicht angerührt worden.

Schon seit langem gibt es Bestrebungen, diese Arbeitsweise zu ändern. In den 80er Jahren startete der später einem Attentat zum Opfer gefallene Premierminister Rajiv Gandhi, der auf Reisen immer seinen Laptop mitnahm, ein Programm zur Einführung von Computern in der Verwaltung auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene. Es war nur teilweise erfolgreich. Die indischen Bürokraten - im Sprachgebrauch der Einheimischen "Babus" genannt - sind streng konservativ. Viele von ihnen interpretierten die "Computerisierung" auf ihre Weise und bestellten statt PCs Klimaanlagen für ihre stickigen Büros. Dennoch gab es bedeutende Durchbrüche. So läuft die Reservierung von Bahnfahrkarten seit Jahren über Computer.

VisionäreDie indischen Unternehmen werden seit Jahren von der drückenden Last des so genannten Erlaubnis- (oder Lizenz-) Raj behindert: Die zentrale Kontrolle aller wirtschaftlichen Aktivitäten war das verheerendste Merkmal von Pandit Nehrus Version des Sozialismus. Die Softwareindustrie konnte im Gegensatz zu anderen Wirtschaftssektoren auch deshalb aufblühen, weil die Regierung noch keinen Weg gefunden hat, dieser neuen Branche Vorschriften zu machen. "Sie fällt unter keine bestehenden Industrie- oder Exportlizenzen", schreibt Mark Nicholson in der "Financial Times". "Keine der verstaubten zentralen Kontrollinstanzen in Indien hat die technologische Revolution vorausgesehen. Es gab kein Ministerium, das sie mit Bürokratie eingedämmt hätte."

Unter der ausgewählten Gruppe indischer Visionäre, die das Potenzial der Computer für Indien begreifen, ist F. C. Kohli der große alte Mann. Im Alter von jetzt 75 Jahren ist er der stellvertretende Vorsitzende des größten indischen Softwareunternehmens Tata Consultancy Services. Kohli ist Indiens Cyber-Guru. In den 60er Jahren hatte er Tatas Engagement bei Computern eingeleitet, indem er eine IBM 1401 kaufte, um Lohn- und Kostenbuchhaltung einzuführen. Heute wird der Unternehmenswert von Tata Consultancy, das sich in Privatbesitz befindet, als doppelt so hoch eingeschätzt wie der seines nächsten indischen Konkurrenten. Tata ist der größte asiatische Softwaredienstleister mit 500 Klienten unter den Blue-Chip-Unternehmen auf der Welt.

Auch Chandrababu Naidu, Regierungschef des Bundesstaates Andhra Pradesh, machte sich als Cyber-Guru einen Namen, der seinen Laptop überallhin mitnahm. Konsequenterweise machte man ihn zum Chef der Indian National Computer Taskforce. Es gelang ihm persönlich, Bill Gates davon zu überzeugen, einige von Microsofts Programmierzentren in die Staatshauptstadt Hyderabad zu verlegen.

In der indischen Gesellschaft führt der dringende Bedarf an Computerspezialisten zu einem Umdenken in der Geschlechterfrage. Die traditionelle Rolle der Ehefrau lässt den Frauen keinen Spielraum offen: Wenn ein Mädchen Kindersterblichkeit, Unterernährung und schlechte Ausbildung überlebt hat und ihre Eltern sie mit einer ausreichenden Mitgift ausstatten konnten, kommt es als Niedrigste der Niedrigen in das Haus ihres Ehemannes. Ist die Mitgift nicht groß genug, besteht auch heute noch die Gefahr, dass die Frau von der aufgebrachten Familie des Ehemanns bei lebendigem Leibe verbrannt wird. Dass Witwen ihrem Ehemann auf den Scheiterhaufen folgten oder dazu gezwungen wurden ("Sati"), ist als Brauch heute allerdings kaum noch verbreitet.

Was in den letzten Jahren geschehen ist, gleicht angesichts dieser Traditionen einer Revolution, die ebenso unauffällig wie schnell abgelaufen ist. Frauen drängen auf den indischen Arbeitsmarkt. 1971 stellten Frauen 14 Prozent der Erwerbstätigen, heute sind es 23 Prozent. Der Anteil von Frauen in qualifizierteren Jobs ist noch viel stärker gewachsen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Hochschulabsolventinnen, die ins Arbeitsleben eintreten, verachtfacht. Heute stellen Frauen die Hälfte des Personals im Dienstleistungssektor. Im Softwarebereich ist dieser Anteil weit höher, in einigen IT-Unternehmen arbeiten fast nur Frauen.

Das Vordringen der Frauen in die Berufswelt erzwingt schnelle Änderungen in der gesellschaftlichen Einstellung. Im Heiratsteil indischer Zeitungen wie der Hindustan Times findet man neben Gesuchen um würdige Bräute aus der richtigen Kaste auch Anzeigen wie diese: "Fähiges, hübsches, qualifiziertes, berufstätiges Gegenstück für sehr stattlichen Einzelsohn...", "Angemessenes, hübsches, erfolgreiches Gegenstück aus angesehener Familie für stattlichen, intelligenten Jungen aus dem Punjab..."

Den indischen Internet-Cafés fehlen die nette Beleuchtung und die coolen Bedienungen ihrer europäischen Pendants. Trotzdem erfüllen sie dringendere Bedürfnisse. Für Tausende junger Inder, die unbedingt auf den Internet-Zug aufspringen wollen, ist der Preis für einen PC plus Web-Anschluss weit jenseits ihrer Möglichkeiten. Für sie ist ein Internet-Café nicht der Platz für ein schickes Rendezvous oder Mittagessen, sondern der einzige Weg in die vernetzte Welt.

Es klang wie ein drohendes Echo des restriktiven alten Indiens, als der indische Provider VSNL den Internet-Cafés vor zwei Jahren rechtliche Schritte wegen der Verletzung seines Monopols androhte. Ein stark frequentiertes Café in einem Luxushotel in Bombay schloss als Folge davon. Inzwischen hat VSNL aber sein Monopol verloren, in den großen Städten schießen die Cafés wie Pilze aus dem Boden. Das Surfen kostet zwischen 60 und 200 Rupien pro Stunde (zwischen 2,60 bis 8,80 Mark). Noch sind 40 Prozent der Internet-Verbindungen in Bombay. Das Café Cyberia plant aber, eine Kette von zehn Cafés im ganzen Land zu eröffnen und lediglich 30 Rupien (1,30 Mark) pro Stunde zu verlangen.

Die wirkliche Herausforderung liegt nicht in Bombay, sondern im Hinterland. Die Londoner Firma World Tel hat im vergangenen Jahr angekündigt, Millionen Mark in eine Reihe von etwa 1000 "Internet Community Centres" in den Bundesstaaten Westbengalen und Tamil Nade pumpen zu wollen. Das Modell dafür sind öffentliche Telefonbüros (STD PDOs), die es im ganzen Land gibt. Sie sind einfach, schmuddelig und unverzichtbar.

Als Indien 1991 begann, seine Wirtschaft zu liberalisieren, hofften viele auf eine schnelle Veränderung. Neun Jahre danach gibt es nur langsame, mühselige Fortschritte, die oft in politischen Problemen stecken bleiben. Mit Monopolen ausgestattete Interessengruppen haben an ihren Privilegien festgehalten. Aber die Regierung beherrscht die Wirtschaft nicht mehr so stark wie zuvor. Als die gegenwärtige Regierung auf die unregulierte Computerindustrie, die keine Vertretung hatte, aufmerksam wurde, war es eine Gnade, dass sie kein Ministerium für Informationstechnologie gründete, um die Zügel straff in die Hand zu nehmen. Statt dessen wurde eine 18-köpfige "nationale Arbeitsgruppe für die Informationstechnologie" ins Leben gerufen.

Die Arbeit der Gruppe hat bereits das Arbeitsumfeld der Branche vereinfacht und verbessert. "Dies ist eine großartige Gelegenheit für Indien", urteilt eines der engagiertesten Mitglieder der Gruppe, Sudheendra Kulkarni, der auch dem Büro des Premierministers angehört. "Hier ist ein Gebiet, auf dem Indien einen natürlichen Vorteil besitzt. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir stellen sicher, dass die Regierung unterstützt und nicht behindert. Vieles von dem, was in Indien in diesem Sektor passiert ist, hat nicht wegen der Regierung, sondern trotz ihr stattgefunden."

* Peter Popham schreibt als Indien-Korrespondent für die britische "Independent Newspaper".