Brücke zwischen Informatik-Fachbereich und Wirtschaft:DV-Profis und Studenten bilden Softwareteam

08.11.1985

Das Informatikstudium weist bisher eine Diskrepanz auf: Zum einen möchten die Hochschulen Grundlagen des Faches vermitteln, zum anderen berichtet die Industrie von einem Praxisdefizit, unter dem die Informatiker gerade in den ersten Berufsjahren leiden. Die TU Braunschweig und das Stahlwerk Peine-Salzgitter bauen eine Brücke zwischen Uni und Wirtschaft.

Mangelnde Praxiserfahrungen frischgebackener Informatiker, von denen die Industrie ein trauriges Lied zu singen weiß (1), lassen sich abbauen, wenn Hochschule und Wirtschaft gemeinsam Pfadfinder in einem noch recht unerschlossenen Land spielen. Neue Wege suchen seit 1979 in Kooperation das Institut für Informatik an der Technischen Universität Braunschweig und die Zentrale Datenverarbeitung der Stahlwerke Peine-Salzgitter AG (ZDV/P + S).

Anfänglich stand die Vergabe und Betreuung einzelner Studienarbeiten im Vordergrund, die interessierte Studenten in der ZDV/P + S bearbeiten konnten. Die positiven Ergebnisse ermutigten beide Partner, das Modell auf Diplomarbeiten auszuweiten, da es sich zeigte, daß von den Stahlwerken P + S anspruchsvolle Aufgaben angeboten werden konnten. Nach insgesamt fünfjähriger erfolgreicher Zusammenarbeit wurde beschlossen, die Brücke zwischen Hochschule und Wirtschaft zu festigen.

Naheliegend war dabei die Institutionalisierung einer praxisnahen Ausbildung durch die Integration des softwaretechnischen Praktikums in die Informatikausbildung. Dieses Praktikum wurde erstmals im Wintersemester 1984/85 in den Informatiklehrplan aufgenommen. Zielsetzung des Instituts war und ist es, den Studenten eine Informationsvermittlung anhand realer Softwareentwicklungs-Projekte in der Industrie anzubieten. Dabei ist die Intention aller Beteiligten, den Know-how-Transfer zwischen Lehre und Forschung einerseits und der Wirtschaft andererseits zum beiderseitigen Nutzen zu aktivieren.

Darüber hinaus besteht von der Industrie, hier die Stahlwerke P + S, großes Interesse darin, das Potential der künftigen Mitarbeiter und Führungskräfte frühzeitig auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Die Studenten sind neugierig auf die sogenannte "reale Welt", insbesondere auf die Produktion von Software in einem großen Industriebetrieb.

Erstmalig wurde das Praktikum in der Zentralen Datenverarbeitung von P + S in der Zeit vom 1. Oktober 1984 bis zum 28. Februar 1985 in Salzgitter durchgeführt. 16 Studenten, die bereits ihre Diplomvorprüfung abgelegt hatten, nahmen an der "Premiere" teil.

Sie besaßen dreisemestrige Kenntnisse in einer höheren Programmiersprache, jedoch keine Praxiserfahrung. Vier Teams zu je vier Studenten arbeiteten in der ZDV/P+ S an der Realisierung der definierten Aufgaben. Der Umfang dieser DV-Projekte war so gewählt, daß die Studenten zirka 16 bis 20 Stunden pro Woche vor Ort anwesend sein mußten. Die Begeisterung fehlte nie.

Zur Durchführung dieses Praktikums wurden die Ressourcen des Zentralen Rechenzentrums von P + S genutzt. Zu seiner Ausstattung gehören Rechner des Modells IBM 4341 und IBM 3033 mit den Betriebssystemen VM/SP und MVS/SP. Des weiteren waren die Programmiersprache PL/1 und die Verwendung des Dialogsystems CICS sowie des Maskengenerators SDF vorgegeben. Das Betriebssystem VM/SP war den Studenten von dem Rechenzentrum der TU her bekannt, wogegen PL/1, CICS und SDF "Neuland" für sie bedeuteten.

Im Mittelpunkt des Praktikums stand für alle Beteiligten die Nutzung des Salzgitter-Software-Engineering-Modells (SM). Dieses Produkt unterstützte mittels Methoden und Tools sowie Phasenkonzept und Projektmanagement den gesamten Lebenszyklus von Informationssystemen einheitlich, durchgängig und effizient. Die derzeit laufende Version des SM wurde von der ZDV/P + S und unter Mitwirkung des Instituts für Informatik der TU Braunschweig von 1980 bis 1984 entwickelt. Bild 1 zeigt die Komponenten des Salzgitter-Software-Engineering-Modells.

Das Software-Engineering-Management orientiert sich an den Methoden "Structured Analysis", "Structured Design" und "Structured Programming", die geeignet kombiniert und anhand eines Phasenkonzeptes für Planung, Entwurf und Implementierung praxisnah ausgelegt wurden. Das Software-Engineering-System besteht aus Werkzeugen für Software-Planung, -Entwurf und -Implementierung sowie aus einer relationalen Datenbank, der Software-Engineering-Bibliothek. Der Methodeneinsatz wird mittels eines speziell entwickelten hierarchisch strukturierten Pseudo-Codes gesteuert.

SM ist für alle Projekte der Informationsverarbeitung, also für kommerzielle und technische Anwendungen sowie im Bereich der Systemprogrammierung einsetzbar. Neben der Individual-Entwicklung und Pflege von Software werden die Integration von Standard-Software und der Einsatz von Sprachen der vierten Generation ermöglicht (2).

Das Salzgitter-Modell ist seit 1984 auf dem Markt verfügbar und wurde seitdem bereits mehrfach unter den Betriebssystemen VM/SP, MVS/SP und BS2000 installiert. Mit dem Einsatz des SM wurde erfolgreich sichergestellt, daß sowohl die Mitarbeiter von P+ S als auch die Praktikanten der TU nach einheitlichen und anerkannten Methoden arbeiten. Software-Planung, -Entwurf und -Implementierung werden im Sinne eines Produktionsprozesses diszipliniert durchlaufen. Auf diese Weise gelang es, DV-Praktiker und Informatikstudenten effizient zu Software-Teams zu integrieren.

Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, daß bei der Entwicklung komplexer Informationssysteme itimmer stärkerem Maße Methode der Software-Technologie zum Einsatz kommen. In Vorlesungen und Übungen an der Hochschule werden solche Methoden im Normalfall nur theoretisch oder an relativ kleinen Anwendungsprogrammen behandelt. Dies belegt, daß Praktika der hier beschriebenen Art eine praxisnahe, sinnvolle Ergänzung des Studiengangs Informatik bilden.

Einen nicht geringen Anteil am Erfolg des Praktikums besitzt die Tatsache, daß alle Programme termingerecht fertig und von den P+ S-internen Prüfstellen qualitativ akzeptiert und zur Inbetriebnahme freigegeben wurden. Darüber hinaus kommt den Studenten die Kenntnis der beim Praktikum eingesetzten Methoden und Werkzeuge zugute. Im Ergebnis ist das Praktikum von der ZDV/P + S und von dem Institut für Informatic als Erfolg zu sehen. Die Studenten, die am Praktikum teilnahmen, betrachten die Veranstaltung als Bereicherung ihres Studiums und empfahlen dem Institut und nachfolgenden Kommilitonen eine Wiederholung.

Auf der Grundlage der positiven Erfahrung wurde darüber hinaus einigen Studenten die, Möglichkeit geboten, ihre Studienarbeit in der ZDV/P + S anzufertigen. Hiervon machten im Sommersemester 1985 sieben Studenten Gebrauch. Im derzeit laufenden Wintersemester 1985/86 wird das zweite Praktikum in der ZDV/P + S veranstaltet. Mittelfrisitg besteht die Zielsetzung, dieses Industrie-Praktikum als festen Bestandteil im Informatik-Studienplan anzubieten.

Eine ausführliche Beschreibung des Salzgitter-Modells ist für eine der folgenden CW-Ausgaben geplant.

Dr. Peter Friedrich ist als Leiter der Abteilung Systemtechnik - Methoden und Sprachen, Betriebssysteme und Benutzerservice - im Stahlwerk Peine-Salzgitter AG, Zentrale DV, tätig.

Dr. habil. Rudolf Kruse und Dr. Werner Struckmann sind Mitarbeit des Instituts für Theoretische und Praktische Informatik der technischen Universität in Braunschweig.

Literaturhinweise:

(1) Strunz, Horst: Anforderungen der Software-lndustrie an die Informatik, Angewandte Informatik 26 (1984), Heft 12, Seite 513 - 515.

(2) Friedrich, Peter: Salzgitter-Software-Engineering-Modell in H.-J. Scheibel (Ed): Software-Entwicklungssysteme und -Werkzeuge, Kolloquium, Techn. Akademie Esslingen, 1985.