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Brokat sitzt in der Kostenfalle

20.06.2001
Die Stuttgarter Brokat AG steckt in der schwersten Krise ihrer Firmengeschichte. Der einstige Börsenliebling ist zu einem harten Sparkurs gezwungen. Ohne zusätzliches Kapital droht die Zahlungsunfähigkeit.

Von CW-Redakteur Wolfgang Herrmann

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Die Stuttgarter Brokat AG steckt in der schwersten Krise ihrer Firmengeschichte. In einem Markt, der immer höhere Entwicklungs- und Marketing-Aufwendungen erfordert, ist der einstige Börsenliebling zu einem harten Sparkurs gezwungen. Ohne zusätzliches Kapital droht die Zahlungsunfähigkeit.

Am 10. März 2000 erreichte die Aktie der Brokat AG am Neuen Markt einen Höchststand von 195 Euro. Das 1994 gegründete Unternehmen hatte sich vom kleinen Online-Banking-Dienstleister zu einem international tätigen Hersteller von E-Business-Software entwickelt. Seitdem ging es bergab. Am 12. Juni 2001 senkte das Bankhaus Metzler das Kursziel von sieben auf null Euro. Am 13. Juni stürzte die Notierung auf ein vorläufiges Jahrestief von 4,47 Euro - Tendenz weiter fallend.

Kapitalvernichtung

Ausgelöst hatte den Einbruch eine Verlustanzeige nach Paragraph 92 des Aktiengesetzes, die Brokat am 11. Juni in einer Ad-hoc-Meldung publizierte (Computerwoche online berichtete). Derzufolge nehmen die Schwaben eine bilanzielle Neubewertung einiger Tochtergesellschaften und Beteiligungen vor. Die Ertragsaussichten der betreffenden Landesgesellschaften seien geringer ausgefallen als erwartet. Was sich nach einem harmlosen buchungstechnischen Vorgang anhört, hat ernste Konsequenzen: Wegen des dadurch entstandenen Verlusts hat das Unternehmen die Hälfte seines bilanziellen Grundkapitals aufgebraucht. Setzt sich die Kapitalvernichtung in diesem Tempo fort, droht die Zahlungsunfähigkeit.

Um das zu verhindern, hat die Führungsriege einen harten Sparkurs eingeschlagen. Brokat streicht rund 300 Stellen - ein Fünftel der Belegschaft - und schließt Standorte in Holland, Belgien und Israel. Die Maßnahmen sollen im vierten Quartal 2001 zu Einsparungen in Höhe von 15 Millionen Euro führen. Unternehmenssprecher Reiner Jung betont, die Neubewertungen beträfen lediglich den Einzelabschluss der AG nach den Richtlinien des HGB und seien "nicht Cash-relevant". Er verweist auf einen Barmittelbestand von 89 Millionen Euro zum 30. März 2001.

Doch die Reserven schmelzen schnell. Vergangenes Jahr wies die Gesellschaft noch liquide Mittel von 135 Millionen Euro aus; allein im ersten Quartal 2001 sind diese um 46 Millionen Euro gesunken. Wegen einer noch ausstehenden hochverzinslichen Anleihe in Höhe von 125 Millionen Euro weise Brokat nunmehr eine Nettoverschuldung auf, rechnet die Hamburger Berenberg Bank vor. Die geringe Umsatzdynamik könne sich zusätzlich belastend auf die Liquidität auswirken. Sollten die Maßnahmen zur Kostensenkung nicht wie erwartet greifen, seien zum Beginn des Jahres 2002 Liquiditätsprobleme zu erwarten. Maximilian Schoeller, Analyst bei der Privatbank Merck Finck & Co, wird deutlicher: "Wenn es auch nur annähernd bei der derzeitigen Cashburn-Rate bleibt, wird Brokat das erste Quartal 2002 nicht überleben können, es sei denn, man findet noch andere Finanzierungsformen."

Die Ursachen der Krise liegen vor allem in den hohen Aufwendungen für die aggressiven Wachstumspläne. Finanzanalysten wie Marko Röder von Standard & Poor´s bemängeln, Brokat habe seine Kosten nicht mehr im Griff. Die Bruttomarge habe sich von zuletzt 51 auf 44 Prozent verschlechtert und bewege sich damit unter dem Branchendurchschnitt. Gemessen am Umsatz beliefen sich die Kosten für Absatz und Marketing auf 65 Prozent während die Branche durchschnittlich auf 33 Prozent komme. Bei Forschung und Entwicklung liege die Quote bei 29 Prozent verglichen mit 16 Prozent in der Branche, Verwaltungskosten schlügen mit 31 Prozent gegenüber zehn Prozent zu Buche.

Teure Internationalisierung

Teuer zu stehen kam die Stuttgarter insbesondere die breit angelegte Internationalisierung, die durch den hohen Aktienkurs erst möglich wurde. Brokat setzte seine Anteilscheine in großem Umfang als Akquisitionswährung ein; allein in den USA übernahm man im Jahr 2000 drei Softwarefirmen: Blaze Software, Gemstone Systems und Automated Financial Systems. Jetzt stehen die Beteiligungen mit viel zu hohen Werten in den Büchern und müssen abgeschrieben werden.

Die Expansionsstrategie stößt auf heftige Kritik von Anlegervertretern: "Das Management hat sich ausschließlich auf Umsatzzukäufe konzentriert, ohne dabei auf die Erwirtschaftung von Erträgen zu achten", moniert Rudolf Neumann, Sprecher der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK). "Mit dem Glauben der Anleger an die Zukunft des Unternehmens ist man immer locker umgegangen." Für die hohen Kosten hat er eine einfache Erklärung: "Schlechtes Management, mangelnde Vorsicht, die Fixierung und das blinde Vertrauen darauf, dass das Wachstum es irgendwann einmal schon bringen wird."

Zunehmender Wettbewerb im Kernmarkt

Zur finanziellen Schieflage beigetragen hat auch der zunehmende Wettbewerb in Brokats Kernmarkt. Im Mittelpunkt des Produktportfolios steht die Software "Brokat Server Technologies 4.5" (vormals "Twister"), eine Integrationsplattform für E-Commerce-Anwendungen. Sie stellt die Verbindung zwischen Web-basierten Applikationen und Backend-Systemen her. Zwar setzen immer mehr Unternehmen solche Integrationslösungen ein. Mit seinem Angebot konkurriert Brokat jedoch mit potenten Herstellern von Java-Applikations-Servern wie Sun, Bea Systems, IBM oder Iona.

Application-Server sind mittlerweile weit verbreitet und teilweise schon zu Commodity-Produkten geworden, der Wettbewerb wird deshalb immer stärker über den Preis geführt. Etliche Hersteller offerieren kostenlose Entwicklerversionen und schließen Partnerschaften, um ihre Plattform zu stärken. Hinzu kommt der Trend, Application-Server mit immer mehr Funktionen und vorgefertigten Modulen auszustatten. Auf diese Weise wollen die Hersteller die Systeme zu universalen Integrationsplattformen ausbauen. Der dafür notwendige Entwicklungsaufwand treibt die Kosten in die Höhe - und stellt kleinere Anbieter wie Brokat vor eine kaum zu lösende Aufgabe.

Zu den Stärken der Schwaben gehört traditionell die Ausrichtung auf Kunden aus dem Finanzsektor. Dazu zählen auch Großunternehmen wie Allianz, Mastercard oder American Express. Insbesondere in Deutschland und Europa konnten sich der E-Business-Pionier eine gute Ausgangsbasis erarbeiten. Doch dieser Wettbewerbsvorteil schmilzt; immer mehr US-Anbieter erkennen das Marktpotenzial auf dem alten Kontinent und buhlen um die attraktive Klientel. Erschwerend kommt für Brokat hinzu, dass sich Schlüsselkunden wie etwa Online-Banken aus Kostengründen mit Investitionen zurückhalten.

Spagat zwischen Entwicklung und Sparkurs

Wie der Hersteller den Spagat zwischen steigenden Entwicklungsaufwendungen einerseits und dem Zwang zum Sparen andererseits schaffen will, fragen sich nicht nur besorgte Anleger. Auch IT-Verantwortliche, die ihre Infrastruktur auf einem Application-Server aufbauen wollen, dürfte die Antwort interessieren. "Indem wir uns auf das Mobile Business fokussieren", sagt Sprecher Jung und verweist auf erste Erfolge. Mit der Telekom-Tochter T-Motion und mit der britischen Vodafone habe man bereits Verträge geschlossen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre wolle man 30 Prozent des Geschäfts aus dem M-Commerce generieren. Im Geschäftsjahr 2000 lag der Umsatzanteil des neuen Geschäftsfelds allerdings bei weniger als zehn Prozent.

Um überhaupt liquide zu bleiben, braucht Brokat dringend zusätzliches Kapital. Die geplanten Sparmaßnahmen reichen nicht aus, wie Finanzvorstand Michael Janßen einräumt. Vergangenes Jahr hat sich Siemens mit drei Prozent beteiligt, Intel besitzt ein Prozent der Brokat-Anteile. Dass die Investoren noch einmal nachlegen, hält Merck-Finck-Analyst Schoeller für unwahrscheinlich: "Wenn sie das täten, würden sie eingestehen, dass sie beim ersten Investment ungefähr zehnmal zu viel bezahlt haben." Beide Unternehmen sind zu wesentlich höheren Kursen eingestiegen. Auch die Suche nach neuen Investoren gestalte sich schwierig. "Ein strategischer Partner muss sich bewusst sein, dass er vielleicht nochmal nachschießen muss, wenn er jetzt investiert", urteilt Schoeller. Ein solcher Geldgeber müsste letzten Endes die Existenzgrundlage für Brokat sichern. Die Möglichkeiten, über den Kapitalmarkt Geld zu beschaffen, seien ebenfalls sehr begrenzt.

Übernahmegerüchte

Nach den jüngsten Kurseinbrüchen sind Gerüchte um eine mögliche Übernahme lauter geworden. "Das wäre nahe liegend", meint Anlegervertreter Neumann. Brokat verfüge über eine hochinteressante Kundenbasis und gute Produkte. "Eine Übernahme hätte Vorteile für die Aktionäre. Ich sehe im Augenblick nicht, dass das Unternehmen aus eigener Kraft die gesetzten Ziele erreichen wird."

Dass Brokat wie geplant im vierten Quartal schwarze Zahlen auf EBITDASO-Basis schreiben kann (Ergebnis vor Steuern, Zinsen, Abschreibungen und Mitarbeiterbeteiligungen), halten auch Finanzanalysten für wenig realistisch. Bereits im April korrigierte das Management die Umsatzerwartungen für das Geschäftsjahr von 240 auf 180 bis 190 Millionen Euro. Nach den negativen Erfahrungen in der Vergangenheit sei die Verlässlichkeit der Unternehmensprognosen in Zweifel zu ziehen, kritisiert die Berenberg Bank. Auch Schoeller malt ein düsteres Bild: "Ich glaube nicht, dass Brokat in der Lage ist, 13 Millionen Euro im vierten Quartal einzusparen." Er halte seine Verkaufsempfehlung für die Aktie aufrecht. "Im ersten Quartal 2002 wird Brokat massive Probleme bekommen, oder es ist sogar ganz vorbei."