Aufträge wurden als Umsatz gebucht:

Britische Micro Focus schreibt rote Zahlen

24.05.1985

LONDON (CW) - Die Micro Focus Group Plc., Iiebstes Kind britischer High-Tech-lnvestoren, ist trotz einer Umsatzsteigerung um 129 Prozent auf 21.4 Millionen Pfund tief in die roten Zahlen gerutscht. Die 60 Wochen zum 31. Januar 1985 brachten nach Steuern, Berücksichtigung von Minderheitsgesellschaftern und Steuerrückstellungen einen Verlust von 467 000 Pfund. Im Vorjahr hatte das auf Cobol-Anpassungen für PC spezialisierte Software-Unternehmen noch 2,3 Millionen Pfund verdient.

Belastungen aus dem laufenden Geschäft waren ein Wechselkursverlust von 1,3 Millionen Pfund sowie Rückstellung für dubiose Forderungen (833 000 Pfund) und künftige Steuerzahlungen (480 000 Pfund). Vor Steuern ging der Gewinn um fast 75 Prozent auf 721 000 Pfund zurück und war damit weit von den Prognosen entfernt, die ein Ertragswachstum um 78 Prozent auf fünf Millionen Pfund (vor Steuern) für wahrscheinlich gehalten hatten. Die katastrophale Ertragsentwicklung scheint allerdings weniger die Folge schlechten Wirtschaftens als einer überraschenden bilanztechnischen Maßnahme zu sein.

Kollaps durch andere Bilanzierung

Ausgelöst wurde der Kollaps durch die plötzliche Umstellung auf eine konservative Bilanzierungsmethode. Die Buchprüfer hätten, so ist in London zu hören, auf dieser Umstellung als Voraussetzung für eine amtliche Notierung der Micro-Focus-Aktien - sie wurden bisher im Freiverkehr gehandelt - bestanden. Kenner des Unternehmens meinen denn auch, daß sich an der fundamentalen Situation des Unternehmens nichts geändert habe.

(...)ibt zu fragen, warum die Grundregeln, nach denen die Bücher des Unternehmens geführt werden, ohne Vorwarnung und Kommentar geändert wurden. Micro Focus selbst sagt dazu, man habe erst vor wenigen Tagen festgestellt, daß das Zahlenwerk so miserabel aussehen werde. Wenn dem so sein sollte, würde das erhebliche Bedenken gegen das hausinterne Controlling rechtfertigen.

Bisher habe Micro Focus unterzeichnete Verträge als Umsatz gebucht. Die aktuelle Lage der Mikrocomputerbranche und Veränderungen in der Kundenstruktur hätten die Wirtschaftsprüfer veranlaßt, auf einer Änderung dieser Praxis zu bestehen und zu verlangen, daß künftige Umsätze als das behandelt werden, was sie sind: künftige Umsätze eben. In der Gewinn- und Verlustrechnung des abgeschlossenen Geschäftsjahres sind auf diese Art und Weise sechs Millionen Pfund Umsatz verschwunden.

Die Geschäftsführung räumt ein, daß sich dieser Vertrags- und Auftragsbestand möglicherweise nicht vollständig in Umsätze verwandeln läßt. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein zum Kundenkreis von Micro Focus gehörender amerikanischer Mikroanbieter Gläubigerschutz nach Chapter eleven beantragt. Nach Abschluß des Verfahrens sehen die Gläubiger dann nur noch Bruchteile ihrer Forderungen wieder, und auch das erst nach meistens zwei oder drei Jahren.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Kundenstruktur des Softwareanbieters erheblich gewandelt. Aufträge im Wert von mehr als einer Million Pfund stellen mittlerweile 28 Prozent des Umsatzes, 1983 waren es gerade 15 Prozent. 22 Prozent aller Umsätze entstehen aus Auftragswerten zwischen 500 000 und einer Million Pfund - 1983 waren es lediglich acht Prozent. Weil diese Aufträge größer sind und ihre Realisierung eine längere Zeitspanne beansprucht, bestanden die Wirtschaftsprüfer sicherlich zu Recht darauf, sie nicht schon beim Abschluß vollständig als Umsatz zu buchen.

Unbeschadet der heftigen Reaktion der Börse - der Kurs sackte von 745 auf 420 Pence ab - sieht sich Micro Focus nach diesen Änderungen für die Zukunft gerüstet. Die Perspektiven scheinen, glaubt man den Informationen aus London, so schlecht nicht zu sein. So ist die Rede von ersten Erfolgen im Geschäft mit der amerikanischen Regierung. Trotz der auf den ersten Blick ernüchternden Bilanz setzt das Unternehmen weiter auf Expansion. In den Ausbau der Verkaufsmannschaft sollen 176 Prozent mehr als im Vorjahr gesteckt werden. Die Aufwendungen für Entwicklung wurden um das 3,6fache auf 2,4 Millionen Pfund aufgestockt. Dieser Betrag kommt neuen Produkten wie etwa "Cobol Workbench" zugute. Die neuen Produkte zielen mehr auf Endkunden in der Fortune-1000-Liste als auf OEMs, deren Bedeutung als Umsatzträger für Micro Focus zurückgegangen ist. Die direkte Belieferung von Endkunden könnte künftig auch höhere Margen bedeuten.