Industrie 4.0 - Die Fertigungsindustrie im digitalen Wandel

Braucht Europa die Digitale Union?

23.12.2016
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Deutschland möchte die vierte industrielle Revolution federführend mitbestimmen. Doch kann Deutschland alleine die Industrie-4.0-Entwicklung prägen oder benötigt es dazu eine Digitale Union?
Überflügeln Länder wie China und die USA Deutschland bei der Digitalisierung?
Überflügeln Länder wie China und die USA Deutschland bei der Digitalisierung?
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

Der Wille die vierte industrielle Revolution zu gestalten, ist da - das zeigen Initiativen wie die von der Bundesregierung gegründete Plattform Industrie 4.0. Doch welche Aufgaben sind zu stemmen und wie sehen die Erfolgsfaktoren für Industrie 4.0 aus? Können wir das im globalen Wettbewerb überhaupt im Alleingang? Wie sehen die Erfolgsfaktoren einer erfolgreichen Digitalisierungsstrategie für ein Unternehmen aus?

Vier Fragen der Digitalisierung

Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), sieht vier zentrale Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung:

  • Welches ist die Kernkompetenz eines Unternehmens bei der Digitalisierung?

  • Lässt sich ein digitaler Zwilling erstellen, der die Vorteile eines physischen Produktes in die digitale Welt überführt?

  • Inwieweit kann skaliert werden?

  • Wo können die Unternehmen Partnerschaften eingehen, um die digitale Transformation erfolgreich zu meistern?

Der Mittelstand schläft

Und dabei läuft Deutschland, das sich in Sachen Manufacturing immer gerne als Musterknabe darstellt, durchaus Gefahr im globalen Wettbewerb zu verlieren. "Es gibt noch viel zu tun", stellt denn auch Michael Dowling, Vorstandsvorsitzender des Münchner Kreis, fest. So würden hierzulande erst vier Prozent Industrie-4.0-gerecht produzieren. Im Vergleich zu Großunternehmen sind viele kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) meist nicht auf die Digitalisierung vorbereitet, sondern in abwartender Stellung, da ihre Umsätze derzeit noch wachsen. Was allerdings ein gefährlicher Trugschluss ist. "BMW, Siemens und andere - alle verfolgen Digitalisierungsstrategien. Die kleineren Unternehmen müssen da mitspielen, sonst können sie künftig nicht mehr liefern", warnt Dowling mit Blick auf die Zukunft.

Henning Kagermann (Acatech), Günther Oettinger (EU-Kommissar) und Michael Dowling (Münchner Kreis) (v.l.) diskutieren Fragen der Digitalisierung.
Henning Kagermann (Acatech), Günther Oettinger (EU-Kommissar) und Michael Dowling (Münchner Kreis) (v.l.) diskutieren Fragen der Digitalisierung.
Foto: Stefan Pielow / MÜNCHNER KREIS

Ungemach droht noch von einer anderen Seite: Ausländische Unternehmen, die in Sachen Digitalisierung und Industrie 4.0 einen greenfield-Start hinlegen können, drohen den deutschen Mittelstand zu verdrängen. Damit Unternehmen aus dem Ausland den deutschen Mittelstand zukünftig nicht verdrängen, wird ein Katalysator für Industrie-4.0-Prozesse benötigt. Abhilfe können zum Beispiel kostengünstige und einfach zu nutzende Tools für KMUs leisten - wie Apps für die Maschinensteuerung -, die den Einstieg in digitale Fertigungsprozesse erleichtern.

Fehlende Business-Modelle

Allerdings ist dies nur die halbe Miete. Was dem deutschen Mittelstand auch fehlt, wie Dowling feststellt, sind die passenden Business-Modelle. Diesbezüglich sind laut Dowling die USA und China deutlich weiter. Deshalb sei das Aufbrechen von Silodenken und die Veränderung der Business-Modelle ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Industrie 4.0 in Fertigungsunternehmen. Eine "Willingness to Change" müsse in der Unternehmenskultur verankert werden - angefangen bei der Bereitschaft eigene Prozesse kritisch zu hinterfragen, Disruption zu wagen bis hin zur Erwägung einer Kooperation mit Wettbewerbern. Dowling fordert deshalb ein entschlosseneres Handeln seitens der Unternehmen bei Transformationsprozessen. Ferner müssten die Unternehmen aus der Fertigungsindustrie begreifen, dass sie auch dem Endkonsumenten dienen müssen. Viele Experten sprechen deshalb im Zusammenhang mit dem Industrial Internet bereits vom B2B2C-Ansatz.

Grundsätzlich laufe die deutsche Industrie Gefahr, von Ländern wie China oder den USA bei der Digitalisierung überholt zu werden. Diese seien stärker Business-Modell-orientiert und zudem eher horizontal aufgestellt als Deutschland. Ferner sollten die Deutschen weniger über Besitzstandswahrungsfragen diskutieren, sondern sich lieber überlegen, wo die Wertschöpfung der Unternehmen liegt, wenn das Know how von der Hardware in die Software wandert. Und welche Wertigkeit habe ein deutscher Zulieferer in einer solchen digitalen Lieferkette.

Fehlende Standards

Der fehlende Breitbandausbau entpuppt sich in der EU als Bremser bei der Digitalisierung.
Der fehlende Breitbandausbau entpuppt sich in der EU als Bremser bei der Digitalisierung.
Foto: PeterPhoto123 - shutterstock.com

Ein Kette, die vor allem in der Digitalisierung von einem lebt: Der Zusammenarbeit beziehungsweise Coopetition. Ein Themenfeld auf dem gerade hierzulande Nachholbedarf besteht. Nachholbedarf besteht auch noch mit Blick auf die Standards, wenn die Zukunft der Fertigungsindustrien wirklich in der Kooperation liegen soll. Letztlich muss in den Augen der Experten der Weg für globale Standards geebnet und derzeit noch bestehende Barrieren im "Industrial Internet of Things" abgebaut werden.

Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist für Kagermann und Dowling die seit Anfang 2016 bestehende Zusammenarbeit zwischen dem Industrial Internet Consortium (IIC) aus den USA, das einen vertikalen Ansatz über verschiedene Branchen verfolgt, und der deutschen Plattform Industrie 4.0, die sich der Fertigungsindustrie widmet. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob Deutschland bei der Suche nach globalen Standards überhaupt eine Chance hat, bei übermächtigen Markt-Playern wie China oder den USA überhaupt mitzusprechen. Letztlich besteht die Gefahr, dass USA und China die defacto-Standards bestimmen und Deutschland dann eventuell sein eigenes Standardsüppchen kocht. "Es darf nicht wie im Mobilfunk vor zehn Jahren passieren, dass ich drei Handy benötige, wenn ich in verschiedene Länder reise", warnt Dowling, "wir benötigen offene Standards." Hier sei auch Europa gefragt.

Lösung Digitale Union?

Für Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, muss Deutschland eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung in Europa spielen. Er plädiert für eine "Digitale Union" und es müsse eine gemeinsame digitale Sprache (Standards) gefunden werden, die in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten gesprochen wird: Europäische Projekte, wie grenzüberschreitende Testfelder für die Bereiche Automobil und Transport, sind für die Erreichung dieser Ziele ebenso zentral wie Investitionen in die Infrastruktur, Cyber-Security-Maßnahmen, Forschungsprojekte und die Frage nach der Qualifizierung und Ausbildung von dringend gesuchten Fachkräften. Politikerworte die zwar schön klingen, aber wenig mit der Realität zu tun haben. So räumt auch Oettinger ein, dass die EU ein Rieseninfrastrukturproblem in Sachen Breitband habe und Industrie 4.0 nicht ohne Infrastruktur funktioniere. Gleichzeitig bremse die Vielstimmigkeit der 28 Staaten die Digitalisierung. Ein Beispiel dafür ist für Oettinger die nächste Mobilfunkgeneration: Während 5G in Südkorea bereits 2018 an den Start geht, dauert es in der EU noch bis 2022.