BPM: Wer macht den Anfang?

03.04.2006
Das Business-Process-Management (BPM) steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Darüber, warum das so ist, diskutierte eine Expertenrunde unter der Gesprächsleitung des Beraters Thomas Olbrich.

Wer ist vom Thema Business-Process-Management mehr gefordert: die Fachabteilung oder die IT? Dem allgemeinen "Sowohl als auch" hatte Max Meili, Vice- President des Versicherers Winterthur Life & Pensions, einen konkreten Hinweis hinzuzufügen. Die Definition der Prozesse darf seiner Ansicht nach auf keinen Fall den Fachbereichen überlassen bleiben: "Sonst kann es passieren, dass die Daten aus einem bestimmten Primärsystem geholt werden, anschließend in Anwendungen wie Excel fließen und ausschließlich innerhalb der eigenen Abteilung verarbeitet werden, weil die übergreifende Perspektive der Automatisierung fehlt." Die IT verfüge über die globalere Sichtweise und sollte deshalb auch bei der Umsetzung der Prozesse helfen.

Zentrale Thesen

• Die IT verfügt über eine globalere Sichtweise als die Fachabteilungen und sollte bei der Umsetzung der Prozesse helfen.

• Der Fokus des Business-Process-Managements liegt weniger auf den modellierten Soll-Prozessen als auf der strukturellen Analyse der Ist-Prozesse.

• Vorsicht bei der Modellierung! Sonderfälle, mit denen man höchstens einmal im Jahr rechnet, machen unter Umständen plötzlich 15 Prozent des Geschäfts aus.

• Mit der betriebswirtschaftlich unsinnigen Optimierung trivialer Prozesse sind viele Unternehmen in eine Falle getappt.

• Es gilt, Prozesse zu finden, die nah an der Wertschöpfungskette liegen und mit denen sich Geld verdienen oder sparen lässt.

• Es reicht nicht, sich erst mit BPM zu beschäftigen, wenn das Unternehmen unter Druck gerät; die Umsetzung dauert häufig Jahre.

• Erst wenn der Anwender verstanden hat, wie sein Geschäftsmodell und die Prozessziele aussehen, kann er sie modellieren und in eine Engine überführen.

• Standardsoftware taugt als Ideengeber für die Fachseite, aber nicht als ausführende Instanz.

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Menschen lassen sich nur beurteilen, nicht messen

Mit dem Prozess-Management verbunden ist in vielen Fällen das Thema Performance-Management, also das Messen der Unternehmensleistung. Dagegen bestehen allerdings breite Ressentiments. "Mich wundert immer wieder, wie schnell die Leute zunächst vom Performance-Management begeistert sind", berichtete Helge Heß, im Rang eines Direktors bei der IDS Scheer AG tätig, "doch sobald es an die Umsetzung geht, heißt es: Fangen wir lieber bei meinen Kollegen an." Denn schließlich seien transparentere geschäftliche Abläufe gefordert, und da fragten sich die Betroffenen häufig: "Werde ich messbar?"

Der Analyst Wolfgang Martin, Gründer des Beratungsunternehmens Wolfgang Martin Team, erinnerte daran, dass nur Prozesse und nicht Menschen gemessen werden: "Menschen kann man nur beurteilen. Das muss auch den Mitarbeitern klar gemacht werden." Deshalb sei es unbedingt zu empfehlen, beim Thema Performance-Management den Personalvorstand und den Betriebsrat mit ins Boot zu nehmen.

Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Prozessen

Wie Heß betonte, sollte der Fokus des BPM auf der strukturellen Analyse der Ist-Prozesse liegen. Wie sind die Prozesse "Auftragsbearbeitung" oder "Neukunden-Akquise" in der Realität abgelaufen? Die Antwort auf derartige Fragen offenbarten die typischen Diskrepanzen zwischen dem modellierten Soll-Prozess und dem tatsächlichen Ist-Prozess. Sie lassen sich, so Heß, auf eine nachlässige Modellierung zurückführen: "Fast alle Unternehmen verfahren hier nach der 80-20-Regel: Man konzentriert sich auf den Hauptprozess, beschreibt noch ein paar wesentliche Abweichungen und lässt bewusst alle Sonderfälle weg. Doch dann macht ein Sonderfall, mit dem man höchstens einmal im Jahr gerechnet hat, plötzlich 15 Prozent des Geschäfts aus."

Olbrich verwies zudem auf die Historie der Prozessautomatisierung: Vor etwa zehn Jahren hätten viele Unternehmen auf der Basis von Workflow-Techniken ausprobiert, wie sich Unternehmensabläufe beschleunigen oder automatisieren ließen. Objekt dieser Versuche seien beispielsweise die Kreditprüfung bei den Banken oder die Policenerstellung bei den Versicherungen gewesen. Doch der Erfolg habe sich selten eingestellt - unter anderem deshalb, weil die Technik noch nicht so weit gewesen sei. In der Folge hätten die Unternehmen die Automatisierungsverfahren auf triviale Themen wie Urlaubsantrags-Prozesse übertragen. "Und damit sind sie in eine Falle geraten; für einfache Lösungen wurde unverhältnismäßig viel Geld ausgegeben." Heute gebe es Beispiele für große BPM-Szenarien, aber noch keine Antwort auf die Frage, ob die Unternehmen nicht auch auf einer niedrigeren Ebene einsteigen könnten.

"Bezogen auf administrative Prozesse, die ohnehin wenig kosten oder nicht eng mit der Wertschöpfungskette verzahnt sind, ist BPM unrentabel", urteilte Wolfgang Kelz, Director Solution Consulting bei der Tibco Software GmbH. Es sei deshalb wichtig, Prozesse zu finden, die nah an der Wertschöpfungskette lägen und mit denen sich Geld verdienen oder sparen lasse - "also standardisierte Prozesse für hochgradig vereinheitlichte Produkte mit wenigen Ablaufvarianten". Darüber hinaus sei es nicht nur möglich, sondern empfehlenswert, klein anzufangen, aber "das große Bild" vor Augen zu haben.

In vielen Fällen reiche eine Prozessoptimierung ohnehin nicht aus, fuhr Kelz fort, vielmehr sei ein Prozess-Reengineering notwendig. Als Beispiel nannte er die Reisebranche: "Bisher hatten die Veranstalter das Problem, dass sie einen Produktkatalog zusammengestellt und somit Reisen auf Lager gelegt hatten. Bei schlechtem Geschäft wurde dann über Last Minute billig abverkauft." Heute gehe der Trend weg von der Pauschalreise hin zu dynamischen Komponenten, die im Internet angeboten würden: "Diesen Hinflug, jenen Rückflug, ein bestimmtes Hotel und vielleicht auch noch die Veranstaltungs-Tickets am Urlaubsort - alles in Echtzeit zusammengeklickt. Das kann man nicht mit Prozessoptimierung erreichen."

Als Paradebeispiele für Firmen, die sogar völlig neue Prozesse erfunden haben, gelten Ebay und Ryanair. "Die haben eigentlich gar kein Produkt, sondern einen Prozess neu definiert und zum Produkt gemacht", weiß Kelz - um diese Pioniertaten gleich zu relativieren: "Beide konnten auf der grünen Wiese anfangen und ein BPM-System aufbauen. In gewachsenen IT-Landschaften ist es ungleich schwieriger, eine unabhängige Prozessebene einzuziehen."

Kann ein Unternehmen zu erfolgreich für BPM sein?

Das eine oder andere Unternehmen sieht von dieser aufwändigen Aufgabe ab, weil es darin keinen Vorteil erkennt. Und das sind nicht unbedingt die Verlierer des Marktes, wie Martin einwandte: "Ein europäischer Autohersteller hat mir gesagt: BPM ist eine gute Sache, wir machen es aber nicht. Wir verdienen so viel Geld, dass wir uns Rationalisieren nicht leisten können."

Allerdings habe ihm das Unternehmen auch versichert, dass es Gewehr bei Fuß stehe, schränkte Martin ein: Sollten der Markt härter und die Margen geringer werden, könne es ohne Zeitverzug ein BPM-System ausrollen, weil die Pläne hierfür bereits in der Schublade lägen: "Wenn eine Firma schneller und flexibler werden muss, ist Geschäftsprozess-Management die einzige Antwort."

Winterthur-Manager Meili hingegen warnte davor, das Thema auf die lange Bank zu schieben. Es sei utopisch, zu glauben, dass ein großes Unternehmen den Weg zum Prozess-Management innerhalb von drei Jahren hinter sich bringen könne. Deshalb reiche es nicht, sich erst damit zu beschäftigen, wenn das Unternehmen unter Druck sei: "Dann ist es zu spät."

Keine leicht implementierbare Fertiglösung aus der Dose

Andere Unternehmen schrecken aus einem weniger erfreulichen Grund vor BPM zurück. Olbrich sprach ihn an: "Es gibt ja keine fertigen Lösungen, sondern eigentlich nur nackte BPM-Engines - und das bedeutet viel Arbeit." Aus diesem Grund plädierte IDS-Scheer-Direktor Heß dafür, zunächst ein Vorgehensmodell zu entwickeln: "Es ist unbedingt zu vermeiden, schon am ersten Tag mit der Prozessmodellierung zu beginnen." Erst müsse der Anwender verstanden haben, wie sein Geschäftsmodell aussehe und welche die Hauptfaktoren für das Erreichen der Prozessziele seien: "Dann erst geht es darum, wie diese modelliert und in eine Engine überführt werden."

"Außerdem sollte das erste Release die Mitarbeiter auf keinen Fall mit Funktionen erschlagen", ergänzte Martin, "denn das führt zu einer schlechten Akzeptanz." Wichtig sei es, die Prozesskette von Anfang an durchgängig abzubilden und sich auf Basisfunktionen zu konzentrieren.

Olbrich wies zudem auf ein Missverständnis hin: "Wenn man die Firmen fragt, wie sie Prozess-Management betreiben, heißt es oft: ,Wir haben doch SAP.‘" Auf seine Frage, ob sich SAP-Anwender das Thema sparen könnten, konterte Heß: "SAP hat ja selbst erkannt, dass die R/3-Plattform nicht wirklich prozessorientiert ist. Deshalb gibt es die Plattformdiskussion um Service-orientierte Architekturen, mit deren Hilfe sich das Prozesswissen herausziehen und über eine Middleware steuern lässt."

"Was heißt überhaupt prozessorientiert?" wandte Rüdiger Liebe, Management Consultant beim Serviceanbieter Unilog Avinci, ein: "Eigentlich ist der SAP-Prozess ja schön standardisiert, aber an den Implementierungszeiten sehen wir, dass diese Standardisierungen nicht in jedem Unternehmen verwendet werden können." Deshalb werde um die SAP-Software herum sehr viel angepasst. Die Standardsoftware sei lediglich als "Ideengeber und Mitgestalter für die Fachseite", nicht als ausführende Instanz zu gebrauchen.

Diesen Gedanken spann Kelz weiter: "Ende der 80er Jahre hat man erkannt, dass Daten nicht in Applikationen, sondern in Datenbanken gehören; heute sehen wir, dass Prozesse nicht in Applikationen gehören, sondern separat behandelt werden sollten." Künftig werden die Fachabteilungen von der IT unabhängig ihre Prozesse inhaltlich abbilden, prognostiziert der BPM-Spezialist. Die Verantwortung der IT liege im Bereitstellen der Services. (Wolfgang Miedl/qua)