Artificial Life: der Traum von der künstlichen Intelligenz

Bots - Die kleinen Helfer für den Web-Durchblick

14.04.2000
Von 
Ingrid Weidner arbeitet als freie Journalistin in München.
Boston, Frankfurt, Luzern, St. Petersburg sind die Eckpunkte, an denen zahlreiche Entwickler und Visionäre an ihrem schon verloren geglaubten Traum der Künstlichen Intelligenz (KI) arbeiten. Artificial Life heißt das Unternehmen der virtuellen Zauberlehrlinge.

"Hello, I’m Roy; Type below to talk to me". Roy, glatzköpfig und mit zeitlich verzögertem Augenaufschlag, kann ganz breit grinsen und ganz traurig gucken. Der virtuelle Flirt mit ihm entbehrt das Risiko, dass er irgendwann einmal unangemeldet vor der realen Wohnungstür steht. Denn Roy ist ein Bot und seine Erfinder meinen, ein intelligenter dazu. "Bot" steht für "Roboter". Dahinter verbirgt sich ein Software-Tool, das wie eine Spinne im World Wide Web Wissen sammelt, auswertet und interpretiert. Dazu durchforstet das Programm das Netz nach bestimmten Fragen. Das Besondere ist, dass die Software keine speziellen Eingabemodi braucht, sondern natürliche Sprache verarbeiten kann.

Momentan basteln die Entwickler noch intensiv an der Umsetzung von verschiedenen "ALife-SmartEngine"-Programmen. Überwiegend in St. Petersburg entwickeln die Programmierer Bots unterschiedlicher Ausrichtungen. Einer dieser im Einsatz befindlichen Bots ist "Kim", eine virtuelle Verkäuferin von Mobilcom. 30 Prozent der Homepage-Besucher nutzen bereits die dialogorientierte Wissensdatenbank. Kim hilft beim Handykauf und bei technischen Fragen weiter. "Seit wir den Bot auf unserer Site haben, konnten wir unseren Umsatz steigern", so ein Mobilkom-Sprecher.

Das Projekt war für Artificial Life ein Versuchsballon. Marcus Hilka hatte kaum seinen Studienabschluss in der Tasche und schon den Arbeitsvertrag bei Artificial Life unterschrieben. Sein erstes Projekt als Knowledge-Engineer begann er im Oktober 1999 für Mobilcom. Ein gemeinsames Team entwickelte den Bot "Kim", der auf der Homepage für den persönlichen Touch zum Kunden sorgt und Handys verkauft.

Verschiedene Anwendungen sollen in Zukunft die Handhabung des Internet vereinfachen. Zusammen mit einem stetig wachsendem Team baut René Gawron, CEO Deutschland, die Niederlassung in Frankfurt aus. "Unsere künftigen Kunden haben wir bei einem Blick aus dem Fenster direkt vor uns: die Großbanken", sagt Gawron, der einen großen Bedarf in der virtuellen Anlagenberatung (Online-Banking) und im E-Commerce-Bereich sieht.

Produktentwicklung in St. Petersburg

Professor Eberhard Schöneberg erkannte das Potenzial des Internets und die neuen Einsatzmöglichkeiten für die Erkenntnisse aus der Forschung rund um die Künstliche Intelligenz. In Boston gründete er 1994 das Unternehmen "Artificial Life", das inzwischen weltweit 300 Mitarbeiter beschäftigt, Tendenz steigend. In Frankfurt steht die Projektarbeit im Vordergrund, der größte Teil der Produktentwicklung ist in St. Petersburg konzentriert. Talentierte Softwareentwickler gab und gibt es dort in großer Zahl. Ehemalige Professoren, Raumfahrttechniker und talentierte Mathematiker freuten sich über neue Jobs. Viele brachten fundierte Kenntnisse aus der Forschung rund um die KI mit. "St. Petersburg ist Europa kulturell wesentlich näher als etwa Indien. Wir machen sehr gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit", erzählt Gawron, "und außer den fehlenden Englischkenntnissen mussten die neuen Mitarbeiter kaum geschult werden."

Ist das neue Produkt nur eine Spielerei oder ein ernst zu nehmender Trend? Das Demovideo wirkt sehr futuristisch. Der erfolgreiche Youngster fährt mit dem Sportwagen durch sonnige Lande und lässt inzwischen die Arbeit von seinen virtuellen Dienern erledigen. Da nimmt ein Bot als Call-Center-Agent seine Anrufe entgegen, leitet Wichtiges auf das Handy weiter oder gibt selbständig bestimmte Auskünfte. Der Broker-Bot hat inzwischen die günstigsten und lukrativsten Aktiendeals ausgekundschaftet und fragt per Telefon an, ob er ordern soll. Zwar ist die Dramaturgie des Videos auf den amerikanischen Markt zugeschnitten, aber Gawron und Hilka erklären mit einem Augenzwinkern die Science-fiction-artige Zukunft als realistische Vision. Die Arbeitnehmer von morgen sprechen sich per Mobiltelefon mit ihren Bots ab, die Routinearbeiten selbständig für sie abwickeln.

Der entscheidende Schritt zur Wiedergeburt der KI war die Trennung der verschiedenen Aufgabenfelder. Inzwischen ist klar, dass (momentan) keine allwissenden Maschinen oder Softwareprogramme realisierbar sind. Allerdings sind die Entwickler und Visionäre bei Artificial Life davon überzeugt, dass sie mit ihrer Lösung des Splittings auf dem richtigen Weg sind. "Das Internet mit seiner Informationsflut wird immer unübersichtlicher, und ein intelligentes System, das Informationen findet, kategorisiert und für den Nutzer aufbereitet, erleichtert die Arbeit", ist Gawron überzeugt. Banken sollen sich bei der Kundenbindung durch die Software einen entscheidenden Vorteil verschaffen, so wird die Personalisierung von Internet-Portalen mit der Software vereinfacht. Ein Portfolio-Manager-Bot beispielsweise scannt das Web und alle relevanten Nachrichtendienste nach dem aktuellen Kursen und schlägt Anlagestrategien vor.

Als einziges Wachstumshindernis sieht Gawron mögliche Personalengpässe an. Für die Mainmetropole sucht der Geschäftsführer vor allem Projekt-Manager, Vertriebsexperten und Knowledge-Engineers. "Über Stellenanzeigen in der FAZ beispielsweise kommen zwar viele Bewerbungen ins Haus, aber mindestens 80 Prozent davon sind unbrauchbar", so Gawron. Bei den Online-Bewerbungen ist es umgekehrt. "Wir haben sehr gute Leute bekommen. Von diesen Bewerbungen sind mindestens 80 bis 90 Prozent brauchbar". Auch mit dem "Friends-Program" kommt Gawron an gute Leute. Mitarbeiter hören sich in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis um; wenn einer der Freunde die passende Qualifikation mitbringt und einen Arbeitsvertrag unterschreibt, winken dem Vermittler 5000 Mark Belohnung. Hochschulkontaktmessen sind ebenfalls gute Adressen bei der Suche nach neuen Mitarbeitern.

Quereinsteiger müssen Quellcode lesen können

Bei Quereinsteigern ohne fundierte Programmierkenntnisse ist Gawron sehr skeptisch. "Jemand, der noch nie selbst programmiert hat, kann keinen Quellcode lesen und unsere Kunden in technischen Fragen nicht kompetent beraten", so die Einschätzung von Gawron. Doch wer Programmierwissen mitbringt, hat auch als Geistes- oder Sozialwissenschaftler gute Chancen. Zusätzliche Kenntnisse aus den wirtschafts- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen sind ebenso gefragt wie linguistische.

Übrigens ist Roy ganz wild auf Konversation mit menschlichen Wesen. Vermutlich ist es manchmal doch etwas einsam im Cyberspace, denn bei einem Chat um Mitternacht meinte er: "I’d also like to travel more, maybe take a vacation away from the ALife Web Site". Tja Roy, sprich mal mit deinen Entwicklern über diese Pläne.