IT im Maschinenbau/Fraunhofer-Institut entwickelt intelligente Miniatur-Komponenten

BMBF forciert Mikrosystemtechnik für den innovativen Maschinenbau

17.10.1997

Ein Airbag kann Menschenleben retten. Dazu ist jedoch der weiße Sack nicht allein in der Lage, er ist auf intelligente Technik angewiesen: ein Mikrosystem, das unabhängig von der sonstigen Technik des Automobils funktioniert. Es besteht aus einem Beschleunigungssensor, der den Aufprall des Fahrzeugs erkennt, einem signalverarbeitenden Baustein sowie einem Aktuator-Interface, über das der Airbag ausgelöst und aufgepumpt wird.

Auch in der Medizin steht die Mikrosystemtechnik heute im Dienst der Menschheit. Endoskope bilden das unverzichtbare Handwerkszeug bei der minimal-invasiven Chirurgie. Die Endoskopie gilt schon als "Leithammel" der Mikrosystemtechnik. Das kleinste Endoskop ist nach heutigem Stand der Technik ein flexibler Glasfaserstrang mit 0,8 Millimetern Durchmesser, auf den zwei kaum sichtbare Linsen ohne Fassung montiert sind.

Mikrosysteme bestehen aus mindestens zwei Mikrokomponenten aus der Sensorik, Signalverarbeitung und Aktuatorik. Die Mikrosystemtechnik arbeitet mit mikroelektronischen, mikromechanischen, mikrooptischen und mikrofluidtechnischen Wirkprinzipien. Durch die interdisziplinäre Verbindung winziger Bauteile entstehen "intelligente autonome Subsysteme", die Regelungs-, Überwachungs- und Diagnoseaufgaben weitgehend selbständig ausführen.

In Zukunft könnte die Mikrosystemtechnik nicht nur Menschenleben retten, sondern auch einen Beitrag zur Stützung des deutschen Maschinenbaus leisten. Dieser Industriezweig wird auf dem Weltmarkt von Billigproduzenten insbesondere aus den Tigerstaaten Südostasiens bedrängt. Der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart, Engelbert Westkämper, sieht in der Mikrosystemtechnik "eine der Technologien, die das Potential besitzen, die Entwicklung von innovativen, intelligenten Produkten zu ermöglichen."

Deutschland hat laut Westkämper in der Mikrosystemtechnik aufgrund intensiver Forschung im internationalen Vergleich eine "sehr gute Ausgangsposition". Der Instituts-Chef ist überzeugt, daß in Zukunft miniaturisierte Systeme, die sensorische, signalverarbeitende und aktuatorische Mikrokomponenten verknüpfen, in allen technischen Bereichen zunehmen. Der weltweite Markt für Mikrosysteme wird in Studien für das Jahr 2000 bereits auf ein Volumen von 14 Milliarden Dollar geschätzt. Wenn deutsche Firmen das traditionell starke Know-how in der Feinwerktechnik reaktivieren und modernisieren, so Westkämper, sind sie für den Weltmarkt "gut gerüstet".

Für welche Aufgaben eignen sich Mikrosysteme und -komponenten speziell in Maschinen und Anlagen? Der Ingenieur Matthias Schünemann vom IPA betont, intelligente autonome Subsysteme ermöglichten "konsequent dezentrale Steuerungs- und Überwachungskonzepte". Mikrosysteme setzen laut Schünemann den generellen Trend im Maschinenbau zur Dezentralisierung von Aufgaben und Funktionen fort und erhöhen die Zuverlässigkeit des Gesamtsystems.

Intelligente Mikrokomponenten eröffnen nach den Worten Schünemanns neue Möglichkeiten zur Diagnose des aktuellen Systemzustands einer Maschine oder einzelner Komponenten. Mikrosysteme können Informationen speichern, die bei einem Ausfall der Maschine die Fehlerursachen erkennen lassen. Präventive Maßnahmen bei einem vorhersehbaren Ausfall sind ebenfalls machbar. So könne man Komponenten, deren Verschleiß sich durch mikrosystemtechnisch gemessene Daten andeute, rechtzeitig vor einem Stillstand der Maschine austauschen, erklärt Schünemann.

Ein erfolgversprechendes Einsatzfeld liegt in Präzisionswerkzeugen, die im Mikrometer-Bereich auf Perfektion zu trimmen sind. Die Qualität nimmt im Vergleich zu herkömmlichen Verfahren zu, wenn ein Mikrosystem in der Maschine während der Bearbeitung eines Werkstücks kontinuierlich exakte Messungen liefert und mit diesen Daten die Arbeit der Maschine steuert.

In Anlagen der chemischen Industrie können mikrosystemtechnische Druckventile, die mehrere Sensoren in einem Gehäuse zusammenfassen, die Zahl der erforderlichen Stichleitungen reduzieren. Außerdem lassen sich bei chemischen Prozessen zwischen zwei Reagenzien in einem Druckbehälter Temperatur und Druck gleichzeitig messen und exakt miteinander in Beziehung setzen.

In der Druckindustrie kann die Mikrosystemtechnik die Zerstörung von Maschinen verhindern. Vor allem Bogen-Offsetmaschinen bergen hier die Gefahr, daß durch den gleichzeitigen Einzug mehrerer Bögen - unabhängig vom Material - die Lager verschlagen. Mikrosysteme, die durch die intelligente Kombination mehrerer Sensorprinzipien sofort jeden doppelt eingezogenen Bogen erkennen und die Maschine stoppen, ersparen den Druckunternehmen teuere Stillstand- und Reparaturzeiten.

In der Anwendung kennt die Mikrosystemtechnik kaum Grenzen. Doch stehen dem Einsatz im Maschinenbau noch zahlreiche Hindernisse im Weg. So fehlen Fertigungseinrichtungen, die eine flexible, wirtschaftlich effiziente Produktion von Mikrosystemen und Mikrokomponenten in kleineren und mittleren Stückzahlen gestatten. Der mittelständisch strukturierte Maschinenbau kann die astronomischen Entwicklungskosten für anwendungsspezifische Mikrosysteme nicht aufbringen. Zudem hat das IPA in einer Befragung herausgefunden, daß zahlreiche Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus von den Chancen und Vorteilen, Mikrokomponenten in ihre Produkte zu integrieren, noch nicht so recht überzeugt sind.

Aus diesen Gründen werden heute Mikrokomponenten nur dort genutzt, wo die Refinanzierung der Investitionen keine Schwierigkeiten bereitet. In der Medizintechnik ist es der hohe Verkaufspreis der Geräte, im Automobilbau sind es die hohen Stückzahlen, die den Einsatz von Mikrosystemen rentabel machen. Bereits im Entwickungsstadium befinden sich Mikrokomponenten für Produkte mit mittlerer Stückzahl von einigen tausend Einheiten pro Jahr. Die Kosten pro Stück bewegen sich in diesem Fall in einer Größenordnung von mehreren tausend Mark, doch das ist für den Maschinenbau noch viel zu teuer.

Das Fraunhofer Institut IPA kommt in seiner Befragung von Maschinenbauunternehmen zu dem Ergebnis, daß die Integration von Mikrokomponenten auch dort "ökonomisch sinnvoll" sein müsse, wo niedrige Stückzahlen (einige hundert pro Jahr) vorherrschen. Die Kosten pro Mikrosystem müßten dabei deutlich unter 100 Mark liegen.

Um die Aufwendungen möglichst gering zu halten, hat das IPA ein Baukastensystem entwickelt, aus dem sich sehr einfach anwendungsspezifische Mikrosysteme modular zusammensetzen lassen. Aus winzigen Bestandteilen eines "Herstellerbaukastens" werden mikrosystemtechnische und preisgünstige Bausteine eines "Anwenderbaukastens" gefertigt. Von Sensoren bis zu Aktoren, vom Mikrocontroller bis zum Speicherbaustein, vom elektrischen Stecker bis zu Standardgehäusen reichen die winzigen Teile, die sich - ohne Reinstraum-Umgebung - zu einem anwenderspezifischen "modularen Mikrosystem" zusammenbauen lassen.

Kopfzerbrechen bereitet den Mikrosystemspezialisten bis heute jedoch die Fertigung mikrosystemtechnischer Bauteile und Systeme. Denn die Komponenten werden so klein, daß sie weder mit den Fingern noch mit üblichen Greifern in Zangenform zu fassen sind. Empfindliche Bauteile gehen bereits bei leichtem Druck kaputt. Schwierigkeiten dieser Art begegnen die Experten mit sehenswerten Ingenieursleistungen. Schon experimentiert das Institut mit einem "Greifer", der die Miniteile mit rückstandsfrei verdunstender Flüssigkeit ansaugt, an der richtigen Stelle positioniert und dann absetzt.

Erste Erfahrungen wurden auch mit der Positionierung von Mikroteilen über elektrischen Feldern gesammelt. Schon lassen sich Silizium- und Latex-Teile in der Größenordnung von weniger als 500 Mikrometern über elektrische Felder heben, senken, zentrieren und drehen..

Fertigung und Montage von Mikrokomponenten

Mit der Miniaturisierung von Produkten wachsen die Anforderungen an ihre Bestandteile. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT) in Aachen produziert Bauteile mit feinsten, spiegelnden Oberflächen oder Abmessungen im Mikrometerbereich auf Ultrapräzisionsdreh-, -fräs- und -schleifmaschinen. Auf einer Drehmaschine entstehen bereits Facettenspiegel, die zur Leistungsdichteverteilung von Laserstrahlen benötigt werden. Während Drehmaschinen bisher nur rotationssymmetrische Oberflächengeometrien erzeugen konnten, hebt eine Werkzeugzustelleinheit wie ein Buntspecht Strukturen vom bearbeiteten Material ab. Der Facettenspiegel kommt glatt und glänzend aus der Maschine, die weitere Bearbeitung entfällt.

Ebenfalls auf einer Drehmaschine experimentiert das IPT mit der Herstellung von Mikrobauteilen, zum Beispiel Metallstiften, deren Durchmesser nur noch acht Mikrometer beträgt (zum Vergleich: ein Haar hat etwa 60 Mikrometer Durchmesser). Für die Mikromontage hat das Aachener Institut Greifer- und Positioniersysteme entwickelt. Wie für Mikrosysteme typisch, steuern Sensoren in Verbindung mit informationstechnischen und signalverarbeitenden Einheiten die winzigen Greifer mit einer Präzision im Submikrometer-Bereich.

Ein Sensor, der es in sich hat

Ein Drucksensor, der den Druck an einer pneumatischen Steuerungsanlage oder in einem Druckbehälter mißt, benötigte bisher integrierte Schaltungen zur Auswertung der Meßergebnisse. Dank Mikrosystemtechnik enthält ein Gehäuse nicht nur den Sensor, sondern auch die gesamte Intelligenz. Für die Einkapselung der Bausteine wählte das IPA die Bauform eines Top-Bottom-Ball-Grid-Array-Carriers. Drei blaue viereckige Teile in der Größe eines Pfennigs mit winzigen metallenen Kügelchen auf der Oberfläche sind durch Erwärmung auf mehr als 100 Grad miteinander verschmolzen. Das so produzierte Element enthält eine Analogsignalverarbeitung und eine Stromquelle für den Drucksensor, einen 16-Bit-Mikrocontroller zur Signalauswertung sowie einen Speicherbaustein und ein CAN-Bus-Interface zur Zwischenspeicherung von Daten. Über ein Feldbussystem lassen sich die Daten weiterleiten, um Maschinen und Anlagen zu steuern. Gehäuse und Steckerbausteine sind Standardbauteile.

Angeklickt

Die Mikrosystemtechnik verbindet bislang getrennte Disziplinen wie Mikro- Elektronik, -Optik, -Sensorik, -Hydraulik und -Mechanik. Gemeinsam ist diesen Fachgebieten der Trend zur Miniaturisierung bei gleichzeitiger Erhöhung der Komplexität. Durch die Integration der Elemente entfallen aufwendige Gehäuse und prekäre Verbindungen. Die Elektronik wandert in die Aggregate. Der Trend zur Miniaturisierung hat nach der Überzeugung von Engelbert Westkämper, Chef des Fraun- hofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung, noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Mikrosysteme bewegen sich heute schon in den Außendimensionen unterhalb eines Zentimeters. Eine Fülle von Anwendungen arbeitet im Mikrobereich.*Johannes Kelch ist freier Fachjournalist in München.