Kreatives Denken kommt vor der technischen Umsetzung

Big Data oder die Umkehr der Retrospektive

13.03.2015
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Henning von Kielpinski ist Technical Account Manager bei der Google Germany GmbH. Zu den persönlichen thematischen Steckenpferden des studierten Informatikers zählen IT-Trends wie Cloud Computing, Big Data oder das Internet of Things - und die kritische Auseinandersetzung mit diesen.
Bevor sich durch die Nutzung von Big Data positive Effekte einstellen, ist vor allem eines gefragt: Kreativität und der Mut, Fehler zu machen. Denn Big Data ist die Umkehr der retrospektiven Unternehmensführung hin zur Antizipation. Das erfordert ein progressives Denken. Und auch die Bereitschaft, Wege zu gehen, deren Ende am Anfang ungewiss ist.
Ein Big Data-Projekt sollte zunächst im "Kopf des Unternehmens" beginnen als ein gedankliches Ausprobieren von Möglichkeiten und Abhängigkeiten.
Ein Big Data-Projekt sollte zunächst im "Kopf des Unternehmens" beginnen als ein gedankliches Ausprobieren von Möglichkeiten und Abhängigkeiten.
Foto: ktsdesign - Fotolia.com

Viele Vorteile und Einsatzmöglichkeiten von Big Data und den entsprechenden Technologien werden von Medien und Anbietern beschworen: Es geht um Wettbewerbsvorteile, um ein schnelleres Agieren, um eine Steigerung der Produktivität und erhöhte Absätze. Aber auch die Verbesserung alltäglicher Probleme wie Verkehrschaos und Stau, die Bekämpfung von Betrug und Kriminalität und vieles mehr werden im Zusammenhang mit Big Data genannt.

Das Ende der Retrospektive

Unternehmen haben bislang meist folgendermaßen agiert: Unternehmerische Entscheidungen wurden getroffen, umgesetzt, und dann rückblickend bewertet, ob sie erfolgreich waren oder nicht. Dazu wurden vorhandene Datenquellen analysiert, beispielsweise mit Business-Intelligence-Werkzeugen. Bei großen Datenmengen konnte dies Stunden, Tage oder Wochen dauern. Entsprechend des Erfolges oder des Misserfolges haben die Unternehmen dann korrektive Maßnahmen eingeleitet und sich so weiterentwickelt.

Dieses Prinzip der Retrospektive wird durch den Big Data-Ansatz umgekehrt. Big Data stellt technische Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen sich umfangreichere Analysen viel schneller ausführen lassen, sogar in Echtzeit. Die Reaktionszeiten verkürzen sich dadurch auf ein Minimum. Will ein Unternehmen die Vorteile von Big Data aber richtig nutzen und sich einen tatsächlichen Wettbewerbsvorteil verschaffen, muss es noch weiter gehen und progressiv nach vorne denken: Die Technologie ermöglicht es, Datenmengen aus der Vergangenheit und Gegenwart und aus den unterschiedlichsten internen und externen Quellen in Beziehung zueinander zu setzen und Korrelationen und Muster aufzudecken.

Es geht darum, Auswirkungen und Ergebnisse rechnerisch zu antizipieren. Ob diese dann tatsächlich so eintreten oder nicht und ob die angenommenen Zusammenhänge sich als valide erweisen, bleibt zunächst jedoch ungewiss. Dieses Vorgehen erfordert unternehmerischen Mut. Big Data ist daher nicht nur gleichzusetzen mit einer Vielzahl von Technologien und Werkzeugen, sondern vor allem mit der Bereitschaft zu einer antizipatorischen Denkweise. Sie erfordert ganz klar die Bereitschaft, Fehler zu machen.
Übereilte Big Data-Projekte, die aus dem Glauben heraus getrieben werden, dass der Wettbewerb "ja schon lange Big Data mache und man sich nun schnell auch diesem Thema widmen müsse", sind der falsche Weg. Stattdessen sollten Unternehmen genau überlegen, was sie mit Big Data überhaupt erreichen wollen - und auch können. Sie müssen kreative Szenarien entwickeln, die immer auch ein Risiko des Scheiterns in sich bergen.

Marketing ist Big Data-Treiber

Das Marketing ist einer der größten Treiber für Big Data-Projekte. Denn die Marketiers möchten antizipieren, was Menschen in welchem Kontext und unter welchen Bedingungen an welchem Ort wahrscheinlich tun, benötigen und kaufen werden - und welche Parameter ihre Kaufentscheidung beeinflussen. Die Parameter scheinen dabei schier unendlich: interne wie Produkt, Marke, Material, Farbe, Preis sowie externe wie das Wetter, Werbeträger, das Image, Events, politische Ereignisse, die Reputation, Testberichte, persönliche Interessen und Vorlieben, Empfehlungen, Freunde und so weiter.
Je mehr Informationen den Marketiers zu diesen Parametern zur Verfügung stehen, desto genauer können sie berechnen, welche Produkte wahrscheinlich wie oft, wo, von wem und wann gekauft werden. Die dazu notwendige Daten entstammen zum einen dem Unternehmen selbst, in Form von Vergangenheitswerten über Absatzzahlen, Kundendaten, Produktionszahlen und so weiter. Zum anderen stammen sie aus externen Quellen wie (sozialen) Medien und Netzwerken oder Statistiken.

Gelingt es Unternehmen, sich die Massenmeinung und Massenwirksamkeit für Produktentwicklung und Verkaufsstrategie zunutze zu machen, dann ist der Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen vorprogrammiert. Eine wahre Explosion erfahren könnte Big Data zudem, wenn sich das Internet-Protokoll IPv6 und damit das Internet der Dinge flächendeckend durchsetzt. Dann könnte theoretisch jeder Gegenstand und jedes Gerät eine eigene IP-Adresse haben und Daten liefern. Allerdings gibt es hier auch Einschränkungen: Denn nicht jeder potenzielle Käufer ist in sozialen Netzen unterwegs oder bereit, seine persönlichen Daten zu teilen.

Natürlich ist es nicht nur das Marketing, das Big-Data-Initiativen ergreift. Auch die Produktion lässt sich durch die auf die Zukunft gerichtete Analyse von Informationen optimieren, Stichwort Predictive Analytics. Auch dabei spielen zum Beispiel klimatische Faktoren eine interessante Rolle, etwa in der Lebensmittelproduktion. Hier könnten in der Erwartung eines eintreffenden Problems, etwa einer schlechten Ernte und damit verbunden einer schlechten Produktqualität, Rezepturen im Vorfeld umgestellt werden. Oder aber die Maschinenauslastung, Bestellvorgänge, die Auswirkungen von neuen Mitarbeitern auf die Produktivität, der Einfluss von bestimmten klimatischen Verhältnissen auf die Maschinen lassen sich prognostizieren.

Big Data hat Konsequenzen

Big Data-Projekte führen in der Praxis fast zwangsläufig zu gravierenden Änderungen innerhalb der Prozess-Organisation eines Unternehmens - als logische Konsequenz auf die gewonnenen Erkenntnisse. Das bedeutet: Bevor mit Big Data gestartet wird, muss sich ein Unternehmen darüber im Klaren sein, dass es beispielsweise seine Vertriebs- und Produktionsprozesse anpassen oder gar ganz neu gestalten muss. Und zwar häufig und schnell. Nicht immer sind alle Abteilungen dazu bereit oder die IT-Infrastruktur gibt dies her. Auch dies kann ein Grund sein, warum ein Big Data-Projekt scheitert. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, alle betroffenen Fachabteilungen von Anfang an mit ins Boot zu holen und zunächst für Akzeptanz und die Bereitschaft zu Veränderungen zu sorgen. Anschließend muss die IT-Landschaft daraufhin überprüft werden, ob sie mögliche Prozessänderungen oder die Implementierung ganz neuer Prozesse erlaubt und welche möglichen Kosten dabei entstehen.

Bestandsaufnahme und technische Umsetzung

Um zu wissen, ob und wie ein Unternehmen Big Data nutzen kann, ist auch eine Bestandsaufnahme der vorhandenen internen und der optional erhältlichen externen Daten erforderlich. Erst, wenn bekannt ist, man weiß, welche Informationen tatsächlich zur Verfügung stehen und welche für den sinnvollen Einsatz von Big Data zur Verfügung stehen müssten, kann eine Entscheidung pro oder contra getroffen werden. Manchmal ist es auch notwendig, Daten zuerst einmal zu digitalisieren.

Hat sich ein Unternehmen entschieden, den Big Data-Weg zu gehen, erfolgt die technische Umsetzung. Diese ist in der Regel "banal". Dabei kommt es vor allem darauf an, möglichst viele Datenquellen miteinander zu kombinieren. Die In-Memory-Technologie ist hierfür sicher die schnellste - aber auch teuerste - Variante.
Genauso zum Einsatz kommen können auch NoSQL- und klassische relationale Datenbanken. NoSQL-Datenbanken gab es schon lange vor der Geburt von Big Data. Sie wurden im wissenschaftlichen Umfeld entwickelt, um Forschungsdaten zu verwalten und auszuwerten. Welche technische Lösung die geeignetste ist, hängt vom Unternehmen selbst, seinen Fragestellungen, den vorhandenen Datenbeständen und letztlich vom Budget ab. In der Praxis erweist sich dann meist ein Hybrid-Ansatz als sinnvoll und kostengünstig. Dabei werden für unterschiedliche Anforderungen und Auswertungen verschiedene Techniken, aber auch On-Premise- und Outsourcing-Varianten sinnvoll miteinander kombiniert.

Fazit

Unternehmen sollten sich gerade bei Big Data nicht dazu drängen lassen, übereilte Entscheidungen zu treffen. Einfach einem Trend hinterherzulaufen, ist in diesem Fall nicht zielführend. Zu groß ist das Risiko des Scheiterns. Ein Big Data-Projekt sollte zunächst im "Kopf des Unternehmens" beginnen als ein gedankliches Ausprobieren von Möglichkeiten und Abhängigkeiten. Je kreativer Unternehmen an diese Aufgabe herangehen, desto besser. Dienstleister können beratend tätig sein, einen unternehmerischen Mehrwert durch Big Data zu entwickeln. Das Interesse ist ungebremst, aber viele Firmen scheuen die tatsächliche Umsetzung. Nicht wegen des technischen Aufwandes, sondern wegen gedanklicher Hürden und einer vielleicht für den deutschen Raum grundsätzlichen Vorsicht vor Risiken und Veränderungen.
Unsere Erfahrung zeigt, dass hier oftmals viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Auch im Bereich Change Management: Denn wer Big Data ernsthaft betreibt, wird um Prozessveränderungen nicht herumkommen. Wer jedoch den Mut aufbringt und das Risiko von Fehlentscheidungen eingeht, wird am Ende eines oftmals längeren Zyklus aus Trial & Error die richtigen Muster erkennen und die passenden Prozesse etablieren. Wer das schafft, hat sich die Zukunft ein Stück weit gesichert. (bw)