Big Blue setzt weiter auf Fear, Uncertainty and Doubt Gerstners Sechs-Punkte-Plan weist wenig neue Elemente auf

08.04.1994

MUENCHEN (ciw) - IBM-Chef Louis Gerstner will die Anwender von ihrer "Verwirrung" und dem sie bedraengenden "Chaos konkurrierender Technologien" befreien. Mit der "De-Integration" der IT-Landschaft muesse Schluss sein, erklaerte Gerstner vor Finanzanalysten in New York (siehe auch Kolumne, Seite 9).

Gerstners Sechs-Punkte-Plan bleibt eine eindeutige Antwort schuldig, wie das Big-Blue-Revival zu verwirklichen sei. Auf den Technologiemaerkten - angefangen bei PCs ueber Client-Server- Loesungen bis hin zu netzwerkbasierten Systemen - tummeln sich Spieler, die ihre Marktanteile nicht kampflos der IBM ueberlassen werden.

Das Strategiepapier sieht vor, IBM-Technologie weit besser auszunutzen als in der Vergangenheit, den Anteil am Client-Server- Markt zu erhoehen und die Fuehrerschaft in der "netzwerkzentrierten Welt" zu erringen. Ausserdem soll Big Blue die Attituede gegenueber Kunden veraendern, die Position in den sich entwickelnden geografischen Maerkten ausbauen sowie die eigene Groesse benutzen, um Kosten- und Marktvorteile zu erreichen.

Gerstner raeumte jedoch ein, dass der Hersteller nur dann erfolgreich sein koenne, wenn er seine "Kultur" veraendere: "Es hat nur wenige Trends in der Industrie gegeben, die IBM nicht hat kommen sehen, wenige Veraenderungen, die sie nicht vorhergesehen oder kreiert hat. IBM hatte viele aufschlussreiche Visionen. Das Problem war nur - diese beeindruckenden Einsichten wurden nicht benutzt, um aktuelle Entscheidungen zu treffen."

Der Unterschied zwischen Strategien und Erfolg, "zwischen Gewinnen und Verlieren, liegt einzig und allein im Vollstrecken" der Plaene. "Deshalb lautet die oberste strategische Prioritaet fuer IBM - wenn man es auf den Kern reduziert - das umzusetzen, was sie weiss und schon seit Jahren gewusst hat." Nur "Execution" (O-Ton Gerstner) werde IBM wieder auf den Erfolgspfad zurueckfuehren.

Den Hintergrund des angekuendigten Vorstosses in die bisher von IBM immer misstrauisch beaeugte Welt der offenen und dezentralen Systeme bildet der Niedergang des Hardwaregeschaefts. Dem amerikanischen Wirtschaftsblatt "Business Week" zufolge loesten sich zwischen 1990 und 1993 rund 14 Milliarden Dollar Gewinn aus dem Hardware- Business in Luft auf. Die Verkaeufe der Mainframes, der "Big Irons", die IBM frueher die Margen brachten, um das gesamte Business profitabel zu machen, seien zwischen 1991 und 1993 um 50 Prozent auf 6,6 Milliarden Dollar gesunken.

Auch die AS/400-Verkaeufe schrumpften im vergangenen Jahr um zehn Prozent. Die Armonker fuehren das zwar auf die Rezession in Europa zurueck - allein in Deutschland gibt es 25000 AS/400-Kunden -, aber einige Analysten sehen dieses Geschaeftsfeld am Beginn der gleichen Abwaertsspirale, deren unteres Ende die 370-Grossrechner bereits erreicht haben. Charles Ferguson, Berater und Mitautor des Buches "Computerwars", erklaerte: "Der Druck wird ungefaehr noch ein Jahr zunehmen, und dann in etwa zwei Jahren, glauben wir, stuerzen die Verkaeufe ab - genauso wie bei den Mainframes."

Der rasant gestiegene PC-Verkauf - 1993 setzten die Armonker fuer 9,7 Milliarden Dollar PCs ab - trug kaum zu hoeheren Gewinnen bei. "Tatsaechlich stellen PCs, Workstations und Services schnell wachsende Geschaeftsbereiche dar, aber sie bringen nur die Haelfte der Handelsspanne, die IBM mit Grossrechnern erzielt", berichtet Business Week. Fuer Steven Milunovich, Analyst bei Morgan Stanley & Co., ist deshalb klar: "Es gibt keine einfache Antwort (auf die Probleme der IBM, Anm. d. Red). Sie muessen nach wie vor Bereiche mit hoeherem Wachstum und hoeheren Margen finden."

Das sieht IBM-Stratege Gerstner aehnlich: "Wir verdienen mit unseren Mainframes nicht viel Geld", zitiert ihn der englische Branchendienst "Computergram". "Die Frage ist nicht, wie wir den Mainframe ersetzen. Die Zeiten der Mainframes sind vorbei. Die Frage ist, wie wir genuegend hohe Margen erzielen, die uns Profitwachstum bringen." Offenbar ist sich der CEO darueber klar, dass die Zeiten nicht wiederkehren, in denen IBM anstatt der heutigen 38prozentigen Handelsspanne 55 bis 60 Prozent Bruttomarge erzielte.

Die Frage von Analysten, von welchen Spannen die IBM kuenftig leben muesse, wollte oder konnte Gerstner nicht beantworten. In vielen Bereichen wuerden die Veraenderungen laengere Zeit in Anspruch nehmen. Ein grosses Problem sei in diesem Zusammenhang die Unternehmenskul-tur und der Ruf, zu langsam zu reagieren und "arrogant" zu sein. Zwar solle die IBM wieder zu alter Staerke zurueckfinden, aber die Mitarbeiter duerften nie denken, dass "sie sich nicht mehr anstrengen muessen und dass wir das Ziel erreicht haben".

Vor allem mit Client-Server-Systemen und dem Loesungsangebot im netzwerkbasierten IT-Bereich will IBM verlorenes Terrain zurueckgewinnen.

"Network-Centric Computing" reicht fuer Gerstner von infrastrukturellen Angeboten fuer Telekommunikations-, Kabel-, Informations- und Unterhaltungsanbieter bis hin zu konkreten technischen Loesungen wie digitalen Video-Servern, Mehrwertdiensten wie Prodigy, ATM-Hard- und Software sowie den Set-Top- Konverterboxen, die fuer jedermann mittels des Fernsehgeraets die interaktive Kommunikation im Information-Highway ermoeglichen sollen.

Im Client-Server-Markt sieht der seit einem Jahr auf dem Chefsessel der IBM sitzende Manager eine gute Chance, wenn "wir alles benutzen, was wir ueber leistungsstarke Host-basierte Systeme wissen und neue Hardware- und Softwareprodukte fuer die offene, dezentrale Welt kreieren." Allerdings, meinte er selbstkritisch, haette man das bereits vor zehn Jahren machen sollen. "Wir werden unseren Kunden helfen, die Probleme der dezentralen IT zu loesen (...), indem wir ueber alle Plattformen der IBM und des Mitbewerbs hinweg Verbindungsmoeglichkeiten schaffen."

Dabei richten sich die Anstrengungen der Armonker sowohl auf Hard- als auch auf Software. "Weil wir unsere gesamte Produktpalette auf Mikroprozessor-basierte Systeme umstellen, erhalten unsere Rechner einen hoeheren Grad an Kompatibilitaet und Skalierbarkeit." Allerdings wuerden auch nach der Einfuehrung der Workplace-Familie - die die Betriebssysteme AIX, OS/2 und OS/400 in einer gemeinsamen und "hochskalierbaren" Betriebssystem-Familie zusammenbringen soll - die User-Interfaces und Anwendungsprogramme weiter unterstuetzt. "Aber unterhalb dieser Ebene werden wir all die Dinge implementieren, die fuer eine problemlose verteilte Datenverarbeitung notwendig sind", versprach Gerstner.

Services: Das schnellste Pferd im Client-Server-Stall

Den dritten Teil des Client-Server-Angebots der IBM bilden Middleware-Produkte wie Datenbanken und Transaktionsmonitore. So werde man offene und verteilte Versionen von DB/2 entwickeln. Gerstner nannte DB2/2 und DB2/6000 als Beispiele fuer diese Anstrengungen. Darueber hinaus will IBM ihre Transaction-Software CICS weiter oeffnen.

Fuer das letzte und wichtigste Pferd im Rennen der IBM um den CS- Markt haelt der Chef den Service fuer diesen Sektor: "Solange Kunden daran denken, Client-Server-Systeme zu gestalten und einzufuehren, wird der Bedarf an konkurrenzfaehigen Services weiter ansteigen. Obwohl wir verdienterweise den Ruf haben, zu langsam in diesen Markt eingetreten zu sein, glauben wir, dass wir heute bei weitem der groesste Lieferant von Services im Client-Server-Umfeld sind", betonte Gerstner.

Eine weitere Chance sieht er im Vermarkten IBM-eigener Technologie wie Mikroprozessoren und Festplatten. "Wir haben wunderbare, im Weltmassstab erstklassige Technologien. Aber mit der Kreation neuer Technik ist nur die halbe Schlacht geschlagen. Wir haben unsere ueberlegenen Basistechnologien nicht ausgenutzt, um maximale Wettbewerbsvorteile zu erlangen, weder bei den Produkten noch im Vermarkten von Technologie als eigenstaendiger Leistung. Deshalb ist es eine unserer wichtigsten Prioritaeten, Schluesseltechnologien ueber unsere gesamte Produktpalette hinweg einzusetzen", meinte Gerstner, der heute ein Verhalten als kaum wiedergutzumachenden Fehler geisselt, das seine Vorgaenger aus firmenpolitischem Kalkuel an den Tag legten. Beispielsweise verfuegte Big Blue als erster Rechnerhersteller schon Anfang der 80er Jahre ueber einen RISC- Prozessor. Das Konzept verschwand aber in den Schubladen, weil die Marketiers befuerchteten, damit das 370-Geschaeft zu gefaehrden.

Allerdings denkt der Chairman wohl vor allem an den Ausbau des OEM-Geschaeftes, das sich in den vergangenen drei Jahren von einem 300-Millionen- zu einem Drei-Milliarden-Dollar-Business entwickelt hat. Zwar bestreitet Gerstner, dass diese Strategie eher dazu angetan ist, die Fabriken zu beschaeftigen als Gewinne zu generieren, aber Beobachter sehen auch in diesem Sektor zu niedrige Spannen fuer Profite.

Den Power-Prozessor nennt Gerstner "unsere aufregendste Moeglichkeit". "Die Power-Technologie wird die Grundlage fast all unserer Systeme bilden, angefangen bei Supercomputern ueber AS/400, RS/6000 bis hin zu neuen PCs". Eine Mikro-Controller-Version der Power-CPU soll ausserdem den Einstieg in das Konsumelektronik- Geschaeft ermoeglichen. Der Controller koennte in Autos, den Set-Top- Konverterboxen und anderen Produkten Dienst tun, plant der IBM- Chef.

Doch das alles ist noch Zukunftsmusik. Gerstner hat selbst gesagt, fuer die IBM gebe es keine einfachen Antworten. Ausserdem wirft die Warnung von Finanzchef Jerome York ein Schlaglicht auf die kommenden Probleme. Er meinte, die Mainframe-Umsaetze koennten bis Ende 1995 nochmals um die Haelfte - also auf 3,8 Milliarden Dollar - zusammenschmelzen. "Das Fenster wird kleiner (...), und der Raum fuer Manoever wird enger", sagte Analyst Ferguson gegenueber "Business Week".