Professor Rüdiger Lutz, Institut für Zukunftsforschung Tübingen

Bewußtseins-Hacker

10.02.1989

Von Hackern Computerviren, systemsprengender Software und Datenklau ist in letzter Zeit oft zu hören - ist es doch ein Ärgernis, wenn digital abgespeicherte Informationen manipuliert, von Unbefugten gelesen oder gar zerstört werden. Also gilt es, diese Systemfehler und -lücken zu eliminieren, so geht die immer wieder geforderte Lösung aus der Branche - doch gerade dort müßte man es eigentlich besser wissen. Nicht nur die wenigen, aber von den Medien zu Monstern aufgebauten Freaks zeigen die Probleme komplexer Informationssysteme, sondern die täglichen Fehler und "bugs" in Entwicklung und Nutzung solcher neuen Infrastrukturen.

Offensichtlich wollen viele nicht wahrhaben, daß wir schon in die Informations-Ökonomie eingetreten sind, mit allen Potentialen und Gefahren. Dazu gehört zum Beispiel die den Medien immanente Qualität (oder Nachteil - je nach Standpunkt) der Transparenz und Informationsentropie, das heißt, es ist grundsätzlich nicht möglich elektronische Informationsnetze vollkommen dicht zu gestalten. Es gibt immer Lecks und deshalb Möglichkeiten der Spionage beziehungsweise Datenverbreitung.

Informations-Ökonomie heißt Abschied nehmen von den mechanistisch-materiellen Konzepten der Industriewirtschaft, wie wir sie kennen: Bisher wechselte eine Ware den Besitzer, wenn sie verkauft wird; der Käufer hat nun, was der Verkäufer nicht mehr hat. Anders sieht es mit Informationen, Daten, also Software, aus: Eine Information wird "weitergegeben", aber weiterhin vom Geber gewußt, somit können sich Informationen ständig ausbreiten, gleichgültig ob sie gekauft, vermietet oder geklaut sind.

Selbstverständlich versucht man diesem Problem heute zu begegnen: Rechte, Royalties, Copyrights etc. sind die Versuche, Information als Ware "hardwaremäßig" zu bewirtschaften. Doch es ist insgesamt ein hilfloses Verweigern und Nichtakzeptieren der neuen Dimension einer immateriellen Ökonomie, die nicht mehr nach den Kategorien der klassischen Wirtschaftstheorie funktioniert. Selbst im Zentrum des globalen Finanzpokers wird die immaterielle (Ir-) Realität der Informations-Ökonomie deutlich: Gegenwärtig ist durch die elektronische Geldtransaktion weltweit ein Vielfaches von dem verbucht, was real existiert. Es ist Computergeld, "funny money", Spielgeld, produziert durch die Informationssphäre schnell interagierender Systeme zwischen allen Finanzzentren rund um den Globus.

Einmal mehr wird damit die These der amerikanischen Wirtschaftstheoretikerin Hazel Henderson gestützt, daß "Ökonomie eine Form von Geisteskrankheit darstellt, welche nur mittels massiver Gehirnwäsche erhalten wird". Längst wissen wir, daß ein globaler Finanzcrash durch "bloße" Standardsoftware entstehen kann (siehe den Beinahe-Crash 1987).

Somit ist das Feld der Computer, Informationssysteme und Mediennetze keineswegs so rational und logisch, wie es manche meinen möchten. Vielmehr führt der "Informationsschock" und die dadurch produzierte Informationsentropie zu neuen Wahrnehmungsmustern und Bewußtseinsstadien, welche kaum mit dem mechanistischen "Hardware"-Modell von Computerstrukturen zu erklären und begreifen sind.

"Information-Overload is pattern-recognition" ließ schon vor 20 Jahren der Medienwissenschaftler Marshal McLuhan verlauten und prognostizierte das "globale Dorf" elektronischer Kommunikation, das gegenwärtig mittels ISDN und Satellitenübertragungssystemen auch gebaut wird.

Die rein quantitative Informationszunahme ist also gegeben - aber wo bleibt das neue Muster, die Gestalt und Erkenntnis einer neuen Ordnung? Offensichtlich blieb da etwas auf der Strecke: Während fast die gesamte Menschheit schon eine neuartige globale Kommunikationsgemeinschaft darstellt, reproduzieren unsere wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen noch die Mechanismen und Regeln der obsolet werdenden Hardware-Gesellschaft. Und während die Industrieautomatisierung als Rationalisierungsmaßnahme die Dialektik von Kapital und Arbeit aufhebt, und damit zur Selbstenthauptung des Kapitalismus führt, wird gerade diese High-Tech-Philosophie forciert, um neue Märkte und Profite zu ermöglichen.

Postmoderne Paradoxie könnte man diese Zwischenzeit nennen, in der wir leben - wo die einen mit neuen Medien alte Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle wiederholen und wo andere, die avantgardistische Konzepte für die nachindustrielle Informationsgesellschaft entwickeln, zu Fortschrittsfeinden gestempelt werden.

Statt die Chance der Informationsentropie zu erkennen und den damit verbundenen Schock zu überwinden, erstarren die High-Tech-Kaninchen vor ein paar Klapperschlangen (manchmal auch nur Blindschleichen) von Hackern, Crackern und Freaks, die sich lediglich mal im neuen Informationsuniversum umschauen wollen.

Für diese Infonauten gelten nicht die Regeln der materialistischen "Hardware-Ökonomie", sondern die Gesetze der "Hacker-Ethik", die zum Beispiel besagen, daß "jede Information frei zugänglich sein muß - und zwar kostenlos" und daß der "Zugang zu Computern und Datenbanken - und alles was Dich etwas über die Welt und ihr Wirken lehrt, frei und uneingeschränkt möglich sein soll". Daraus leitet sich die Motivation der Hacker ab, fremde Datennetze zu erforschen, die Systeme und Strukturen offenzulegen, damit sie für jedermann und -frau transparent werden. Somit sind diese Hacker keine Verbrecher, sondern die Robin Woods im Datenwald einer zunehmend komplexer werdenden Welt, eines Drahtverhaus elektronischer Kontroll-, Kommando- und Kommunikations- sowie Desinformationssysteme. Von Information kann ja wohl dort keine Rede sein, wo die Kanäle nur mit reduntantem, also bekanntem und überflüssigen Material übervoll sind.

Hier scheint sich wirklich die Entsorgungsproblematik der Informationsgesellschaft zu zeigen, denn wenn die Medienkonzerne und öffentlich-rechtlichen Anstalten nur unkonzentrierte Dünnsäure im Bewußtseinsmeer der Zuschauer und -hörer verklappen, dann steht es echt schlecht um die Informationskultur unserer Welt.

Demgegenüber sind die Versuche, das "System zu hacken oder cracken" geradezu avantgardistische Vorstöße in die Dimensionen einer wirklich freieren Informationswelt, wo alle teilhaben und mitwirken können, um in gemeinsamer Anstrengung das zur Lösung unserer Probleme erforderliche Wissen zu verbreiten.

Informationen sind ja nicht durch "Bits" und "Bytes", durch die Anzahl verbreiteter, fader "Infoburgers" und überfüllter Kommunikationskanäle definiert, sondern durch das, was sie bewirken! "Information ist, was einen Unterschied macht", pflegte Gregory Bateson, der Bewußtseinsforscher und Kommunikationsökologe, zu sagen. Also geht es um Veränderung, Weiterentwicklung und Transzendenz verengter Konzepte und Realitätstunnel. Die Informationsgesellschaft darf kein Abbild der spät(h)kapitalistischen Industriegesellschaft sein, das wäre kein Fortschritt, sondern eine Barbarei mit den neuen Instrumenten. Statt dessen gilt es, die Potentiale zu erkennen, die mit der heutigen Kommunikationstechnologie machbar sind:

- Überwindung hierarchischer Organisations- und Entscheidungsstrukturen zugunsten netzwerkartiger, heterarchischer Kommunikationsmodelle,

- Entwicklung partizipatorischer, interaktiver Systeme, anstelle passivierender (TV) und repräsentativer, pseudo-demokratischer Machtstrukturen und Informationskonzepte (Propaganda),

- globale Interaktionsmuster und grenzüberschreitende Kommunikation statt nationalistischer oder blockorientierter Politik, um damit die internationale Verständigung bis hin zum Nord-Süd-Dialog weltweit zu ermöglichen,

- Obsoleszenz der "Hardware-Ökonomie" und Übergang ins Informationszeitalter der "software-society", wo aufgrund allgemein verfügbarer Daten die Ressourcen und Materialien, Energien und Ausstattungen für alle optimal verteilt werden.

Es ist also eine konzeptionelle Veränderung, ja geradezu eine Bewußtseins-Revolution, die sich bei den neuen elektronisch-sozialen Bewegungen abspielt: Auflösung der materialistisch-mechanistischen Vorstellung von Ökonomie und Politik - diese Hierarchie wird von einem immer größer werdenden Netzwerk selbstorganisierter und informierter Gruppen ersetzt.

Die Technologie macht uns deutlich, daß Zentralisierung und rein quantitatives Wachstum nicht mehr relevant sind - die Rezepte der "Hardware-Ökonomie" greifen nicht. Ein Umdenken, ein Paradigmenwechsel steht an: Der konzeptionelle Meister-hack ist gefragt! Ansätze gibt es viele - aber welcher davon ist das Ei des Kolumbus beziehungsweise die Durchschlagung des gordischen Knotens einer zu eng geflochtenen Datenwelt?

Dies gilt es noch zu erforschen und zu klären, denn die vielen Informationen ergeben noch lange kein Wissen darüber.

*Rüdiger Lutz, Zukunftsforscher und Planer, Leiter des Future Lab Institute, Zukunftswerkstatt Tübingen. Herausgeber der "Pläne für eine menschliche Zukunft" und Autor von "Die sanfte Wende" und von "Ökopolis".