Der Gastkommentar

Betriebssystem-Debatten helfen den Anwendern nicht weiter

05.02.1993

Die DV-Welt, so sollte man meinen, ist froh, dass die Computer aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen sind. Laengst stehen den Anwendern komfortable grafische Benutzer-Schnittstellen zur Verfuegung. Die Zeiten, in denen sie in Handbuechern nach den richtigen Kommandos graben mussten, um ihre Eingabe dann mit einem "Unknown Command" quittieren zu lassen, sind endgueltig vorueber. Warum also widmet sich die DV-Welt noch immer nicht der Aufgabe, fuer die sie eigentlich gedacht war, naemlich den Anwender zu unterstuetzen?

Noch immer stehen Betriebssysteme und Server im Mittelpunkt - dabei haben diese mit dem Endanwender praktisch nichts zu tun. Ihre Funktion liegt lediglich darin, im Hintergrund zu arbeiten. Sie sollen etwa die gewuenschten Datensaetze zuegig aus der Datenbank selektieren und uebers Netz an den Anwender weiter leiten. Sicher beruhigt es den Benutzer, zu wissen, dass sein Server- Betriebssystem fuer diese Aufgaben gut geeignet ist und sich in Sachen Performance, Ausfallsicherheit und Netzwerk-Kommunikation zweckmaessig verhaelt. Welches Betriebssystem aber dahintersteckt, interessiert im Grunde niemanden.

Dennoch faellt beim Studium der Fachpresse auf, dass die Frage nach dem Server-Betriebssystem der Zukunft eine zentrale Stelle einnimmt. Wird Windows NT oder OS/2 oder Unix das Rennen machen? Welche Rolle spielt hierbei Novell mit der Variante Unixware, entstanden aus dem Joint-venture mit Unix Systems Lab (USL)? Vergessen wir nicht die Mahner, die uns eifrig prophezeien: MS-DOS ist noch lange nicht tot!

Man liest im Kaffeesatz, wann NT dem Markt denn nun wirklich zur Verfuegung stehen wird - oder sollte NT tatsaechlich das Kuerzel fuer "not there" sein? Microsoft-Konferenzen und Vortraege ueber das neue Betriebssystem sind bestens besucht, gespannt lauscht die DV-Welt den Details der Spezifikationen.

Auch die Presse ueberhaeuft uns mit Diskussionen ueber Vor- und Nachteile von NT. Hersteller glaenzen mit der strategischen Ankuendigung, dass sie mit ihren Produkten NT unterstuetzen werden; schon jetzt sind die CeBIT-Diskussionen an den Messestaenden abzusehen, wann die entsprechenden Releases zu haben sein werden.

Zweifelsohne macht Microsoft hier einen exzellenten Marketing- Job. Gestaerkt durch nachweisliche Erfolge im Bereich PC-Benutzer- Interface, wird nun zur Attacke auf die Mitbewerber im Netzwerk- und Server-Markt geblasen. Ob Bill Gates hier die richtige Taktik waehlt, wird sich schon in wenigen Jahren zeigen. Offensichtlich gelingt es ihm jedoch, das Interesse zu stimulieren und damit Kaufentscheidungen fuer die heute verfuegbaren Alternativen hinauszuzoegern.

Wozu aber eigentlich diese Aufregung ueber ein Thema, das eigentlich keines ist? Natuerlich wird das neuangekuendigte Betriebssystem wieder einmal laenger auf sich warten lassen, als es jetzt den Anschein hat. Warum soll es diesem ehrgeizigen Vorhaben anders ergehen als allen anderen Softwareprojekten? Sieht man sich einmal an, wieviele Releases und Jahre Betriebssysteme wie VMS oder Unix gebraucht haben, um stabil und ausgereift zu werden, so wird die gegenwaertige Nervositaet um den Embryo NT vollends unverstaendlich.

Schlimmer noch wiegt aber, dass mit diesem kuenstlich erweckten Interesse an einem Betriebssystem - wohlgemerkt: an einem Server- System - vollstaendig am Anwender vorbeidiskutiert wird. Sicher, Software-Entwickler sollten sich bis zu einem bestimmten Grad Gedanken ueber ihr zukuenftiges Betriebssystem machen. Fuer Anwender ist das Thema aber hochgradig uninteressant.

Letztlich wird sich niemand mehr darum kuemmern, ob eine bestimmte Anwendung nun unter Unix oder Windows NT laeuft. Wozu also der Theaterdonner und das Fachsimpeln? Hat die DV-Branche gegenwaertig wirklich nichts Wichtigeres zu diskutieren? Produkte lassen sich mit der Betriebssystem-Debatte sicher nicht verkaufen - aber genau das haben die Anbieter noetiger denn je.

Unermuedlich wird die allgemeine Absatzkrise beschworen. Anwender halten sich mit Kaufentscheidungen zurueck, die DV-Anbieter ueben sich im Gesundschrumpfen beziehungsweise im Restrukturieren. Da muss doch die Frage erlaubt sein: Was erwarten die Anbieter eigentlich von ihren Kunden, wenn sie ihnen andauernd ueberfluessige Diskussionen zumuten?

Gerade die aktuelle Diskussion um zukuenftige Server- Betriebssysteme macht deutlich, wie sehr wir an den Anwendern vorbeireden, statt Antworten zu geben. Die DV-Benutzer sind verwirrt und machen das, was sie als IBM-Anwender schon aus der Vergangenheit kennen: Sie warten ab.

Kaufentscheidungen werden erst einmal aufgeschoben, weil die Unsicherheit wegen der Noch- nicht-Verfuegbarkeit bestimmter Produkte zu gross ist.

Waehrend die oeffentliche Aufmerksamkeit auf sinnlose Diskussionen gelenkt wird, fehlt es den Entscheidern an Antworten auf die zentrale Frage: Wie laesst sich mit Hilfe der DV Nutzen fuer das Unternehmen generieren? DV-Investitionen geraten zunehmend in die Kritik, weil die Kosten weiter steigen, waehrend der Nutzen im Sinne von strategischen Wettbewerbsvorteilen fuer Unternehmen oder von schlichten Produktivitaetsgewinnen fuer die Anwender nicht erkennbar ist. Man denke hier nur an das Problemfeld Bueroautomation, wo die Versprechungen der Hersteller bis heute jeden schluessigen Praxisnachweis vermissen lassen.

Der DV-Nutzen wird dem Kunden nur dann klar, wenn Loesungen produktiv in ein Unternehmen und seine Ablaeufe eingebettet werden und die Anwender ihre Arbeit mit den entsprechenden Instrumenten produktiver abwickeln koennen. Insofern ist die Windows-Welle als klassischer Erfolg zu sehen. Hier wurde bewiesen, dass eine Benutzeroberflaeche den Lernaufwand verringern und die DV-Akzeptanz beziehungsweise den Nutzen von PCs generell erhoehen kann.

Die aktuelle Diskussion um zukuenftige Server-Betriebssysteme ist fuer die Branche in zweierlei Hinsicht fatal. Zum einen verunsichert sie Anbieter und Anwender, zum anderen lenkt sie von der Beantwortung wirklich wichtiger Fragen ab. Investitionsbereitschaft laesst sich aber nur durch nuetzliche und auch lieferbare Loesungen schaffen.