Betriebsdatenerfassung zwischen Wunsch und Wirklichkeit

18.11.1977

Wulf Riedell, Vertriebsleiter Kabel- & Metallwerke, Gutehoffnungshütte AG, Hannover

Betriebsdatenerfassung (BDE) galt lange Zeit hindurch als Geheimtip für schnelle Expansion: Ähnlich wie erst die Groß-EDV und dann die mittlere Datentechnik Siegeszüge in der kaufmännischen Datenverarbeitung feierten, schien sich für Betriebsdaten- und Terminalssysteme ein Boom für die zweite Hälfte der 70er Jahre anzukündigen. Marktstudien von Experten verhießen außergewöhnliche Wachstumsraten, und ein zweifellos vorhandener Nachholbedarf in Fertigungsbetrieben aller Größenordnungen ließ ein hohes potentielles Marktvolumen erkennen.

Ursprünglich boten nur wenige Hersteller auf diesem speziellen Markt an, insbesondere die "Großen" der Branche hielten sich zunächst zurück. Je lauter jedoch der Zukunftsmarkt BDE gepriesen wurde, um so mehr Anbieter aller Größenordnungen beeilten sich, dieses gute Geschäft nicht zu verpassen. Sowohl kleine Hersteller mit ein paar einem Rechner angepaßten Terminals als auch Groß-EDV-Hersteller (der Marktführer bot allein fünf verschiedene Systeme als BDE-geeignet an) drängen heute auf diesen angeblich so stark expandierenden Teilmarkt. Die über mehrere Seiten reichende BDE-Herstellerliste, vor wenigen Wochen in der Computer-Woche veröffentlicht, spricht Bände.

Nun ist tatsächlich das Interesse der Industrie an BDE-Systemen und BDE-Know-how außerordentlich groß und scheint das Marktvolumen zu bestätigen: BDE-Seminare erfreuen sich großer Beliebtheit, Hersteller-Informationen werden bereitwillig aufgenommen, und Verkäufer von BDE-Systemen finden fast immer interessierte und aufgeschlossene Gesprächspartner in den Unternehmen.

Aber: Dieses Interesse an Beratung und Information findet - zumindest im Augenblick - noch keinen ausreichenden Niederschlag in Geschäftsabschlüssen und Installationen. Bemerkenswert ist, daß bei Veröffentlichungen über erfolgreich realisierte BDE-Projekte immer wieder die gleichen Anwender-Namen genannt werden. Professor Roschmann, anerkannte Kapazität in der wissenschaftlichen Behandlung der BDE, kann zwar stets mit interessiertem Fachpublikum gefüllte Hörsäle vorweisen, hat aber Mühe, eine ausreichende Anzahl neuer realisierter BDE-Installationen für seine Seminare zu finden.

Gemessen an dem breiten Akquisitions-, Werbungs- und Beratungsaufwand, ist die Anzahl der jährlichen zukommenden BDE-Neuinstallationen zu gering, um die optimistischen Prognosen der zu erwartenden Marktentwicklung auch nur annähernd zu bestätigen. Und, gemessen an den Kosten der Produktentwicklung, des Marketing und Vertriebs sowie - vor allem - der Entwicklung leistungsfähiger und problemgerechter Betriebssysteme und Anwenderprogramme hat wohl kaum ein Hersteller bislang mit der BDE das erwünschte große Geschäft machen können.

Fragt man nach den Gründen für diese Differenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der Entwicklung des BDE-Marktes, so fallen dabei zwei Dinge besonders auf: Beim Hersteller die mangelnde Fähigkeit, mit Standardlösungen den komplexen Anforderungen zu entsprechen, und beim Anwender die falsche Einschätzung des BDE- Instrumentariums, verbunden mit oft unrealistischen Erwartungen

Der Hersteller muß standardisieren, um durch ausreichende Stückzahlen gleicher Hardware und Software ein befriedigendes wirtschaftliches Ergebnis zu erreichen. Bisher aber haben sich die komplexen BDE-Probleme allen Standardisierungsversuchen erfolgreich entzogen. Gelungene BDE-Installationen sind fast immer ein "individueller Maßanzug", der dem jeweiligen Anwender zwar ausgezeichnete Rationalisierungseffekte bringt der aber nicht übertragbar ist auf andere Unternehmen. Also wird bei jedem BDE-Projekt von Grund auf neu geplant, das Rad immer wieder neu erfunden. Vor allem in Großbetrieben mit vielköpfigen Planungsstäben ergeben sich Planungszeiträume (Hersteller sprechen von "Vor-Auftrags-Phase"), die ein oder sogar mehrere Jahre umfassen und die (unentgeltliche) Beratungsleistung der Hersteller erheblich beanspruchen.

Beim Anwender stößt die BDE unmittelbar in das Spannungsfeld zwischen der meist kaufmännisch orientierten Datenverarbeitung und dem von Computern unbeleckten Betrieb. Die Datenverarbeitung orientiert sich an gewohnten Groß-EDV-Maßstäben. Sie verwechselt allzu gern Rechner-Leistung und System-Leistung, obwohl gerade in der BDE hier entscheidende Unterschiede bestehen. Außerdem wird eifersüchtig darüber gewacht, daß im Betrieb nicht ein "konkurrierendes Computer-System" entsteht - eine Befürchtung, der BDE-Systeme weder leistungs- noch kapazitätsmäßig entsprechen könnten.

Der Betrieb dagegen kommt häufig mit unrealistischen Forderungen und Erwartungen auf die Systeme zu, die durch leichtfertige Verkäuferaussagen geweckt oder noch verstärkt werden können. Ein fertigungsorganisatorisch in der Steinzeit befindlicher Betrieb kann allein durch Kauf eines noch so modernen BDE-Systems nicht mehrere Entwicklungsstufen überspringen wollen. Ohne engagiertes Mitwirken des Anwenders bei der Problemlösung und ohne die Bereitschaft, selbst Mitverantwortung in der Durchführung zu tragen, wird ein solches Projekt scheitern.

Trotz allem jedoch haben die bisherigen BDE-Installationen für die Anwender durchweg sehr positive Ergebnisse gebracht. Richtig eingesetzte Betriebsdatenerfassung ermöglicht erhebliche Rationalisierung. Erfolgreiche Organisationen zur Lohndatenerfassung, Auftragsverfolgung und Fertigungssteuerung liefern dafür klare Beweise.

Allerdings sollten Anwender und Hersteller ihre Erwartungen an dieses neue Gebiet auf ein realistisches Maß reduzieren: Die Anwender müssen wissen, daß nur ein engagiertes Mitwirken bei der BDE-Einführung Erfolg bringen kann. Und die Hersteller werden gemerkt haben, daß der Markt sich erheblich langsamer entwickelt, als bisher angenommen wurde. Für sie bedarf es noch langfristig angelegter und konsequent durchgehaltener Anstrengungen, verbunden mit viel engagierter Know-how-Entwicklung, um der BDE zum erhofften breiten Durchbruch zu verhelfen.