Bestehende Applikationen werden unbefriedigend emuliert Es fehlt noch an Anwendungen fuer die 32-Bit-Betriebssysteme Von Heinrich Seeger*

04.03.1994

Der Markt scheint fuer den Einsatz von 32-Bit-Betriebssystemen reif zu sein. Mit den 486er PCs sind die noetigen Hardware- Voraussetzungen geschaffen. Auch sind die PC-Anwender inzwischen der DOS-Begrenzungen ueberdruessig geworden. Woran es allerdings fehlt, sind Anwendungen.

1992 waren ueber 60 Prozent aller ausgelieferten PCs 486er; 1993 schon drei Viertel. Im Durchschnitt hat ein PC heute ueber 4 MB RAM und eine 100-MB-Festplatte. Mehr als 65 Prozent der PCs haengen in LANs, und zirka 80 Prozent aller weltweiten MIPS werden auf dem Desktop verarbeitet.

Die Hardwarevoraussetzungen fuer den Einsatz von 32-Bit- Betriebssystemen sind also gegeben, meint John Ganz vom IDC aus Framingham, Massachusetts. Auch installierte E-Mail, Groupware und Client-Server-Anwendungen sprechen demnach fuer den Einsatz von 32- Bit-Betriebssystemen. Die Anbieter kaempfen deshalb mit allen Mitteln um Marktanteile.

Harter Wettbewerb auf Desktop-Ebene

IBM etwa, orakelte Ganz juengst, hat hier vielleicht die letzte Chance, im Betriebssysteme-Markt eine Groesse zu bleiben, und Microsoft kann ein Bein in das Segment der Grosssysteme setzen. Der Wettbewerb, eigentlich erfreuliches Zeichen eines Marktes mit wirklichen Alternativen, verbreitet unter den Anwendern hingegen Unsicherheit und die Angst, sich mit der Entscheidung fuer ein bestimmtes Betriebssystem von kommenden Entwicklungen abzuschneiden.

Es gibt kaum Anhaltspunkte, zu welchem Desktop- und Server- Betriebssystem man der User-Gemeinde raten sollte: OS/2, Windows NT, die diversen Unix-Derivate oder das Mac-OS: Sie alle werden ueber kurz oder lang von einer akzeptablen technischen Qualitaet sein, meint Owen Linderholm, Senior Reviews Editor vom Testcenter der amerikanischen CW-Schwesterpublikation "PC World".

Unix gehe dabei mit dem Vorteil der Reife ins Rennen. Anforderungen in puncto Sicherheit und Zuverlaessigkeit wuerden momentan zwar noch nicht von allen Betriebssystemen voll erfuellt; die Anbieter seien jedoch gezwungen, ihre Hausaufgaben schnellstens zu erledigen, um im Rennen zu bleiben. Als Unterscheidungskriterium zwischen konkurrierenden 32-Bit- Betriebssystemen sieht Linderholm Sicherheits- und Zuverlaessigkeitsstandards kuenftig schwinden.

Das gleiche gelte fuer die Frage der unterstuetzten Hardwareplattformen: Die 32-Bit-Betriebssysteme werden nach Ansicht des "PC-World"-Manns auf mehreren Plattformen laufen: "NT auf Power-PC, Pentium, Mips, Intergraph und vielleicht einigen mehr, und das gilt auch fuer die meisten anderen Betriebssysteme am Markt."

"Die Tests von OS/2 und NT haben uns dennoch eine Menge Aerger gemacht", berichtet Linderholm aus seiner Praxis, "weil wir noch kaum Anwendungen hatten."

Das sei noch die grosse Falle fuer 32-Bit-Anwender. Weder OS/2 noch NT wuerden am Markt weiterkommen, bevor eine wirkliche Auswahl an Standardanwendungen wie Lotus 1-2-3 oder Excel zur Verfuegung stehe.

Die Auslieferung von 32-Bit-Applikationen erfolge noch viel zu langsam. "Microsoft will angeblich irgendwann 1994 Excel auf NT portieren", maekelt der PC-World-Testverantwortliche, "momentan aber kommen sie noch nicht einmal mit ihrer naechsten 16-Bit- Version klar." Aehnliches gelte fuer alle anderen wichtigen Anwendungen.

Linderholms Fazit deshalb: "Vor Ende 1994 werden sich 32-Bit- Systeme nicht auf breiter Front durchsetzen." Aehnlich aeussern sich Industrieanwender. Weder Standardsoftware noch Entwicklungs-Tools oder Backups seien bisher ausreichend vorhanden. Obwohl man etwa beim OS/2-Anwender Aid Association for the Lutherans mit dem IBM- Produkt zufrieden ist, was die Robustheit und Performance angeht, heisst es auch hier: keine Anwendungen. Multimedia-Applikationen zum Beispiel, so die Erfahrung der Lebensversicherer, gestalten sich in der Entwicklung unter OS/2 zwar einfacher als unter einem 16-Bit-Betriebssystem, es mangelt indes an Tools, die die System- Power auch ausnutzen. Windows-NT-Anwender Larry Shaw vom Unternehmen Nordstrom bemaengelt ebenfalls, dass sich noch zu wenige Drittanbieter mit Tools und Anwendungen vorwagen, die der Hardware zeigen, was ein 32-Bit-System ist.

Entwickler warten den NT-Erfolg ab

Fuer Linderholm stecken die Software-Drittanbieter (Independent Software Vendors = ISVs) in einer klassischen Zwickmuehle: Zwar versuchen Microsoft und IBM, sie dazu zu bewegen, massenhaft 32- Bit-Anwendungen masszuschneidern. Solange es jedoch kein Absatzpotential dafuer in Form einer breiten installierten 32-Bit- Systembasis gibt, werden die ISVs diesem Begehren nicht entsprechen.

"Das Brot- und Butter-Geschaeft der Anwendungsentwickler", stellt Linderholm klar, "machen immer noch die 16-Bit-Applikationen aus." Der Markt dafuer sei immer noch hart umkaempft, weshalb die ISVs sich vorrangig darum kuemmern muessten. "Wer sich auf Kosten der 16- Bit- jetzt auf die 32-Bit-Anwendungen konzentriert, riskiert viel. Das wird kaum jemand machen, zumal es sehr arbeitsaufwendig ist, Applikationen zu konvertieren. Features wie Multithreading muessen eingebaut werden, und das geht nur, indem die Applikation neu geschrieben wird, nicht einfach mit einem Compiler-Lauf", meint Linderholm.

Der Effekt, wie man ihn bei der Aid Association for the Lutherans wahrnimmt: Unter 16-Bit-Windows gebe es bessere Mainstream- Applikationen als unter OS/2. Das beziehe sich vor allem auf Textverarbeitungen und Spreadsheets. Am Zug, meint Linderholm, seien daher die Betriebssystem-Anbieter. Sie muessten beweisen, dass mit ihren Produkten die vorhandenen Anwendungen zunaechst einmal mindestens ebensogut laufen wie in einer 16-Bit-Umgebung. Um die Anwender zur Investition in ein 32-Bit-System zu bewegen, muessen die alten Anwendungen auf den neuen Systemen sogar schneller werden.

Dieser Schluessel in die 32-Bit-Welt klemmt jedoch ganz offensichtlich. OS/2 und Windows NT sind zu existierenden Applikationen nicht hinreichend abwaertskompatibel. Im Testlabor der "PC-World" hat man 16-Bit-Windows-Anwendungen auf einer Maschine mit auf 150 Megahertz getakteter Mips-R4400-CPU per Emulation unter Windows NT gefahren, und sie waren langsamer als unter Windows 3.1 auf einem 486er PC mit 66 Megahertz. "Die Mips- Maschine", rueckt Linderholm die Verhaeltnisse klar, "kostet aber das Fuenffache!"

Dabei haette das Ergebnis noch schlechter ausfallen koennen: Die PC- World-Tester haetten keine Probleme gehabt, so der Laborchef, eine Excel-Tabelle zu generieren, die ueberhaupt nicht auf der Mips- Maschine lief. "Egal, was die Anbieter erzaehlen", schaerfte Linderholm dem Publikum auf der Comdex ein, "16-Bit-Anwendungen laufen nicht problemlos unter einem 32-Bit-Betriebssystem." Nach allem, was ihm bekannt sei, werde sich das auch mit den naechsten Releases von OS/2 und NT nicht aendern.

Nordstrom-Mann Shaw hat mit NT vor allem das Problem, dass "anders als bei OS/2 alle 16-Bit-Anwendungen unter einer einzigen virtuellen DOS-Maschine laufen. Alle Windows-Anwendungen stellen also eine einzige OS/2-Anwendung dar, die die Maschine mit allen originaeren 32-Bit-Anwendungen teilen muss, und das ist das Problem. Faktisch betreibt man Windows 3.1 unter NT - mit allen Einschraenkungen, wie zum Beispiel kooperatives statt praeemptivem Multitasking." Die technischen Vorteile von 32-Bit- Betriebssystemen sind also ganz offenbar noch nicht so zwingend, dass die Mehrzahl der professionellen Anwender die erforderlichen grossen Investitionen in Haupt- oder Massenspeicher taetigen wuerden, meint IDC-Analyst Brad Williams. Mindestens 16 MB fuer Windows NT und 8 MB fuer OS/2 sind erforderlich, mehr ist zu empfehlen, um die Leistungsfaehigkeit der Systeme ausnutzen zu koennen.

Darum werden 32-Bit-Environments nach Williams' Voraussage "nicht das Universum uebernehmen. Wer nicht weiss, wozu er eines braucht, der gebraucht es auch nicht." Acht Prozent des Marktes fuer Desktop-Betriebssysteme entfielen nach IDC-Zahlen 1993 auf das 32- Bit-Segment. Bis 1996 werde dieser Wert auf 20 bis 22 Prozent ansteigen. Fuer die Mehrheit der Anwender liege der Umstieg auf Windows NT oder OS/2 noch zwei bis drei Jahre in der Zukunft. Ueber die beiden populaersten Konkurrenten urteilt Williams: "OS/2 ist stabil und laeuft ganz gut." Das IBM-Produkt, so stellt der Analyst es dar, sei in der gleichen Situation gewesen wie Bushs Vizepraesident Dan Quayle: Niemand nahm es ernst, und davon konnte es profitieren. Mittlerweile jedoch habe IBM ein "Al-Gore-Problem mit OS/2: Innen ist das System ziemlich ausgefuchst, aber IBMs aeusseres Erscheinungsbild ist immer noch ziemlich steif und hoelzern."

NT macht sich nach Williams' Einschaetzung ganz gut auf dem Server. Auf dem Desktop dagegen muesse es kuenftig noch bessere Gruende geben, NT einzusetzen. Grosskunden schaetzten die verbesserten Netzwerkfaehigkeiten des Systems, aber die Anwendungen muessten noch zahlreicher und besser werden, um NT davon profitieren zu lassen.

Unterdessen beginnt sich mit Next ein bislang kaum beachteter Konkurrent ins Spiel einzumischen. Die CW-Schwesterzeitung "Computerworld" meint, mit fallenden Kosten fuer Haupt- und Massenspeicher habe das objektorientierte 32-Bit-Betriebssystem der von Steve Jobs gegruendeten ehemaligen Hardware-Company die Chance auf einen ganz beachtlichen Marktanteil in ein oder zwei Jahren.

Von der "Computerworld" befragte Anwender zeigten sich besonders von dem sehr bedienungsfreundlichen Interface und den im Lieferumfang des Systems enthaltenen Tools stark beeindruckt. Bob Holmes, der fuer die Southern California Gas Co. neue Technologien bewertet, konstatiert sogar: "Wenn Next schon Anfang 1992 auf die Intel-Architektur gewechselt waere, koennte das Unternehmen jetzt den Markt fuer technologisch fortgeschrittene Betriebssysteme in der Hand haben."

*Heinrich Seeger ist freier Journalist in Muenchen.