Internetworking/Ulmer Verlagshaus setzt auf ISDN-Router-Loesung

"Being Digital" beim Uebertragen von druckfertigen Zeitungsseiten

15.03.1996

Ueber eine Million Menschen lesen taeglich den ueberregionalen Teil der "Suedwest Presse", die im Verlag der Neue Pressegesellschaft in Ulm erscheint. Dort sitzt auch die Zentralredaktion fuer 22 baden-wuerttembergische Zeitungen, die den von der Suedwest Presse produzierten Zeitungsmantel uebernehmen. Insgesamt 20 rechtlich selbstaendige Verlage in der geografischen Ausbreitung von Bad Mergentheim im Norden bis Schwenningen im Suedwesten kooperieren also auf diese Weise sowohl verlegerisch als auch publizistisch.

Die einzelnen Ausgaben werden an zwoelf Orten gedruckt beziehungsweise hergestellt. "Fuer uns bedeutete dies natuerlich ein erhebliches Problem, das es jeden Tag zu loesen galt", berichtet Hartmut Staiger, Verlagsleiter der Neuen Pressegesellschaft. So waren die Kuriere zum Teil mehrere Stunden unterwegs, ehe die Druckvorlagen die jeweiligen Druckereien erreichten. Ein Mantelseiten-Transport von Ulm nach Eberbach dauerte beispielsweise fast vier Stunden. Gedruckt werden konnte dort somit erst in den fruehen Morgenstunden. "Eine nachtraegliche und mehrmalige Aktualisierung der Seiten, etwa bei grossen Politik- oder Sportereignissen, machten teilweise weitere Fahrten erforderlich. Also mussten zusaetzliche Fahrer eingestellt werden", beschreibt der Verlagschef den damaligen Zustand. Auch der voruebergehende Einsatz von ISDN-Fax brachte hier keine Verbesserung.

Aus diesem Grund orientierte man sich in Ulm hin zur Ganzseitenuebertragung via ISDN, auch deshalb, weil man sich weitere Vorteile davon versprach - fuer den Verlag selbst wie fuer die angeschlossenen Druckereien. Ergebnis: Der gesamte Produktionsprozess kann nun wesentlich flexibler gehandhabt werden, und, was besonders wichtig ist, der Druck der einzelnen Ausgaben kann frueher beginnen. Letzteres ist besonders entscheidend, da der Zeitungsvertrieb der Deutschen Post AG seit einiger Zeit hoehere Anforderungen stellt. Zeitungen, die frueher erst um zwei Uhr morgens die Druckerei verlassen mussten, sind jetzt um einiges eher versandbereit zu machen.

Die Produktion erfolgt derzeit noch mit dem integrierten Redaktions- und Anzeigensystem (IRAS), das vom Medien System Haus Rechenzentrum Suedwest (MSH) in Stuttgart entwickelt wurde. Es basiert auf einem IBM-Host und deckt alle Produktionsstufen im Zeitungsgewerbe ab, umfasst also die Text- und Auftragserfassung, Korrektur und Layout sowie die Belichtung. Die jeweiligen Redakteure und Mitarbeiter der Anzeigenabteilung sind mit ihren 3270-Terminals per Standleitung mit dem Grossrechner verbunden.

Die Tage von IRAS im Ulmer Verlagshaus sind jedoch gezaehlt, denn die Neue Pressegesellschaft, die Stuttgarter Zeitungsgruppe und der in Leutkirch/ Allgaeu ansaessige Schwaebische Verlag fassten den Entschluss, mit Hilfe des MSH gemeinsam ihre Produktion auf eine moderne, dezentrale Plattform umzustellen. Die Stuttgarter RZ- Spezialisten - inzwischen auch Fachleute fuer dezentrale Systeme und deren Einfuehrung - werden dabei die gesamte Verantwortung fuer das Dezentralisierungsprojekt uebernehmen.

Derzeit werden die kompletten Textseiten aber noch komplett aus dem IRAS vom Host des MSH auf den Fileserver der jeweiligen Druckerei (in der Regel handelt es sich dabei um einen Sun Sparc- Server "1000E") uebertragen. Quasi vor Ort erfolgt dann auf PCs die notwendige Konvertierung: Die redaktionellen Texte werden ins EPS- Format umgesetzt und anschliessend in Quark Xpress, der im Verlagswesen wohl am haeufigsten verwendeten Layout-Software, eingelesen.

Ausserdem ist im Ethernet-LAN der Ulmer Zentrale jeweils ein Macintosh- Server fuer den Empfang digitaler Agenturbilder von dpa und AP, die via Satellit uebermittelt werden, eingerichtet - Fotomaterial, das ebenfalls von der Produktion in das Layout eingefuegt wird. Via ISDN finden zudem die taegliche Wetterkarte und die Fernsehprogrammseite, die von externen Dienstleistern erstellt werden, Eingang ins System. Zu diesem Zweck wurden zwei weitere Macintosh-Server mit spezifischen Programmen ins Netz integriert. Bilder und Anzeigenvorlagen, die noch nicht in elektronischer Form vorliegen (derzeit noch der groesste Anteil), werden in Ulm mit einem Hochleistungs-Scanner digitalisiert.

Die Speicherung der Daten (Texte, Bilder, fertige Seiten) erfolgt ebenfalls auf einem Sun-Rechner mit 256 MB Hauptspeicher, vier Prozessoren und einer Festplattenkapazitaet von 20 GB. Dadurch laesst sich problemlos die komplette Zeitungsproduktion eines Tages speichern. Als Sicherheitskomponente ist zu dem Server, auf dem das Betriebssystem Solaris 2.4 laeuft, ein Double gleicher Konfiguration parallelgeschaltet.

"Beim Betriebssystem setzten wir auf Unix", erklaert Manfred Ehrmann, Leiter DV-Koordination bei der Neuen Pressegesellschaft. Nur ein Multitasking-faehiges Betriebssystem ermoegliche, so der IT- Spezialist, die staendige Empfangsbereitschaft waehrend des Ablaufs weiterer Druckprozesse wie etwa Komprimieren, Dekomprimieren, Speichern und Senden an den Belichter. Ausserdem unterstuetzen Ehrmann zufolge die Raster-Image-Prozessoren (RIP), also die Belichtersteuereinheiten, das bei Unix uebliche TCP/IP-Protokoll.

Nachdem die Zeitungsseiten am Mac fertig montiert sind, werden die Daten auf dem Server fuer die Uebertragung komprimiert. Auf der Grundlage des taeglich hinterlegten Produktionsplans erfolgt dann die Verteilung der kompletten digitalen Seiten im Postscript- Format an die Belichter in den angeschlossenen Druckereien.

Der zustaendige Mitarbeiter am jeweiligen Empfangsort erhaelt eine grafische Uebersicht ueber alle Seiten, die an einem Produk- tionstag von der Zentrale geliefert werden. Die Seiten sind mit ihren zeitlichen Soll- und Ist-Werten versehen, so dass jederzeit eine aktuelle Uebersicht ueber das Produktionsgeschehen gegeben ist. Zur schnelleren Uebersicht sind die Seiten mit ihrem Status farblich gekennzeichnet. Sollte sich kurzfristig der Produktionsplan aendern, erfolgt am Empfangsort automatisch ein Update.

Die zeitgleiche Uebermittlung der Zeitungsseiten uebernehmen zwei ISDN-Router des Typs ISI/ Gate des Nuernberger Herstellers Bintec. Als Backup-Loesung ist ein dritter Router installiert. "Als wir uns nach einem geeigneten Router umsahen, der mehrere Kanaele buendeln kann, war der Bintec-Router im Unix-Bereich der einzige, der dieses Anforderungsprofil erfuellen konnte", berichtet Ehrmann. Bei der Auswahl der ISDN-Router fuer dieses Projekt war die Regensburger Firma BSP Service als Partner des MSH Stuttgart entscheidend beteiligt.

Michael Gruber, Geschaeftsfuehrer von BSP Service: "Die verwendeten ISDN-Router koennen momentan jeweils 16 B-Kanaele parallel bedienen. Geplant war fuer die Ganzseitenuebertragung die dynamische Buendelung von jeweils vier B-Kanaelen. Tests haben ergeben, dass drei Basiskanaele ausreichend sind, so dass ein Bintec-Router die Seiten an jeweils fuenf Empfaenger gleichzeitig versendet." Sollte spaeter zusaetzlicher Leitungsbedarf bestehen, koennen die Router, wie es heisst, sogar bis zu 64 Kanaele buendeln.

Ab 21.15 Uhr wird nun taeglich mit der Uebertragung jener Seiten, die nicht mehr aktualisiert werden muessen, begonnen. Durchschnittlich umfasst eine komprimierte Seite 1,6 MB (unkomprimiert sind es 7,8 MB). Abhaengig davon, aus welchen Elementen (Text, Grafik oder Bildern) sich eine Seite zusammensetzt, sind pro Seite bis zu 15 MB zu uebertragen (unkomprimiert sind es immerhin stattliche 150 MB).

ISDN ermoeglicht eine zusaetzliche Schmuckfarbe

In den einzelnen Druckereien befinden sich Sun-Workstations vom Typ Sparc-Station "5" als sogenannte Empfangsrechner, auf der die ISDN-Loesung "Sun" von Bintec implementiert ist. Diese besteht aus jeweils zwei ISDN-Karten und der dazugehoerigen ISDN-Software. Die ISDN-Router verfuegen damit ueber eine Bandbreite von vier B- Kanaelen, die statisch und dynamisch variiert werden koennen. Die Uebertragung fuer eine 1,6-MB-Seite dauert bei Nutzung von drei Kanaelen zwischen ein und zwei Minuten. Unmittelbar nach dem Empfang wird auf den Sun-Workstations simultan zu weiteren Uebertragungen mit der Dekompression der Postscript-Seiten begonnen. Anschliessend erfolgt die Belichtung der Zeitungsseiten.

Jeder der adressierten Empfangsrechner erhaelt im Durchschnitt taeglich rund 25 Seiten. Bisher werden ausschliesslich die redaktionellen Seiten mit Anzeigenstreifen in Schwarzweiss oder mit einer zusaetzlichen Schmuckfarbe ueber ISDN uebertragen. Bald sollen jedoch auch Seiten mit vierfarbigen Anzeigen folgen. Da die Anzeigenkunden meist Vorlagen in nichtdigitaler Form einreichen, muessen diese erst gescannt werden. Dabei entstehen vergleichsweise grosse Dateien. Handelt es sich um farbige Vorlagen, so vergroessert sich die zu transferierende Datenmenge nochmals erheblich, denn an die Rechner in den Druckereien muessen dann sogenannte Vierfarbsaetze uebertragen werden. "Die von uns zwischenzeitlich durchgefuehrten Tests sind eigentlich sehr ermutigend, so dass wir sicher bald auch die farbigen Druckvorlagen ueber ISDN an die Druckereien weitergeben koennen", freut sich Hartmut Staiger.

Kurz & buendig

Frame Relay gilt unter Insidern als Uebertragungstechnik, die hohe Geschwindigkeit und geringe Verzoegerung der Leitungsvermittlung mit den Vorzuegen der "klassischen" X.25-Paketvermittlungstechnik verbindet. Das in erster Linie fuer die LAN-LAN-Kopplung konzipierte Verfahren koennte daher, wenn man so will, als eine Art technische Schnittstelle bei der Kombination beziehungsweise dem Uebergang von "Alt" zu "Neu" in Sachen WAN-Internetworking fungieren.

*Ingo Paszkowsky ist freier Fachjournalist in Berlin.