Common Application Environment zur Anwendungs-Plattform avanciert:

Bei den BK-Anbietern fällt X/Open am meisten ins Gewicht

17.02.1989

Die Beschäftigung mit Unix ist seit geraumer Zeit auch für Hersteller. die sich im Bereich Bürokommunikation Rang und Namen gemacht haben, zur Pflicht geworden. Hinsichtlich der die "Szene" bestimmenden Standards bekennt sich die Branche ziemlich einhellig. aber ohne großen Einfallsreichtum zu den im X/Open-Portability-Guide festgelegten Spezifikationen und den Posix-Normen. Im Spannungsfeld der zum Teil gegenläufigen Unix-Aktivitäten wollen sich die BK-Anbieter - so zeigt es zumindest die CW-Umfrage - offensichtlich nicht auf's Glatteis begeben.

Wenig von dem, was den Unix-Engagierten anderweitig die Kopfe rauchen läßt, spiegelt sich in den Antworten der insgesamt neun befragten Unternehmen wider. Fast durch die Bank gibt man sich zurückhaltend. Ohne große Worte kristallisiert sich "lediglich" heraus, daß auch aus der Office-Automation-Perspektive der X/Open-Portability-Guide, Band 2 und 3, und der Posix-Ansatz des US-Standardisierungsgremiums IEEE eine solide Basis mit Zukunft abgeben.

Die weiteren aufgeführten Spezifikationen, die sich X/Open zum Teil auch zu eigen gemacht hat: AT&Ts System V Interface Definition - kurz SVID -, Berkeley-Unix (BSD), der als Entwicklungs-Tool dienende Sprachenstandard Ansi X3J 11, die Benutzeroberfläche X/Windows, Level 0 der OSF-Spezifikationen und ABI 386. Zu den relevanten Kommunikations-Standards zählen die Befragten das im neuen Unix System V.4 "gleichberechtigt vorhandene" NFS (Network File System) von Sun Microsystems, das Transmission Control Protokoll/Internet Protokoll TCP/IP und als aufsetzenden ISO-Dienst auch X.400.

AIX soll zu Posix kompatibel werden

Eine ausführlichere Antwort bei der Frage nach den akzeptierten internationalen Standards findet sich ausschließlich bei DEC: "Als echte internationale Norm ist heute die Schnittstellen-Norm IEEE-Posix 1003.1 akzeptiert". Digital hat eigenen Angaben zufolge diesen Standard als erster Hersteller in das eigene Produkt integriert und geht davon aus, daß auch andere Unternehmen in Bälde diese Definition unterstützen. X/Open würde Posix als Grundlage für die in Ausgabe 3 des Portability Guide erweiterte einheitliche Anwendungsumgebung CAE (Common Application Environment) nehmen.

Erwartungsgemäß bringt IBM sein Unix-Strickmuster AIX auf's Tapet, bekräftigt aber im gleichen Atemzug die schon seit längerem bekundete Absicht, AIX mit Posix 1003.1 konform zu machen.

Neben X/Open orientieren sich die Spezialisten für Bürokommunikation bei Unix-Entwicklungen an den beiden als Pressure-Groups eingestuften Gremien Open Software Foundation (OSF) sowie der im vergangenen Herbst gegründeten Gruppe Unix International und nennen daneben ISO/OSI. Auch hier laßt sich nur Digital Equipment zu einem Statement hinreißen. Mit Blick in die Zukunft argumentiert das Münchner Haus: "Den meisten Diskussionsstoff liefern zur Zeit die Standardisierungsbemühungen der Unix International und der OSF. Zum Teil wird diese Diskussion sehr emotional geführt und ist durch Schlagwörter wie Unix-Schisma, Unix-Kontras und Ähnliches geprägt. Die Diskussion wird sich dann versachlichen, wenn diese Gruppen sichtbare und vergleichbare Ergebnisse beziehungsweise Produkte den Anwendern vorstellen." Die OSF habe jetzt mit der Einbringung ihrer zukünftigen Benutzeroberfläche (OSF/Motif), die noch in diesem Jahr zur Verfügung stehen werde, den ersten Schritt in diese Richtung getan.

Siemens gliedert die in der Diskussion befindlichen und im Unix-Kontext bedeutsamen Funktionen und Standards in insgesamt sechs Gruppen: Erweiterung der Internationalisierung (16-bit-Code), Security-C2-Level, Standardisierung der Multiprozessorfähigkeit, Einbeziehung der Real-Time-Fähigkeit, das X/ Open-Transaction-Processing und die X/Open-Netzwerk-Dienste. Bezüglich der letztgenannten Services würde zur Zeit insbesondere die Standardisierung von Programm-Schnittstellen und Protokoll-Stacks für höhere Dienste, also oberhalb der Transportebene des OSI-Referenzmodells, diskutiert.

Im übrigen ist für den Elektro- und Elektronikkonzern bei Normen alles relevant, was eingebracht wird: "Standards können nicht von oben verordnet werden, sondern bilden sich aus dem praktischen Anwendungsgeschehen heraus. Hervorgehoben sehen wollen die Münchner aber das X/Open-Transport-Interface (XTI), für das X/Open künftig Funktionen bereitstellen möchte. Diese Kommunikationsschnittstelle ist nach dem ISO-Referenzmodell (Schicht 4) standardisiert - als Reaktion auf den Bedarf der Integration von Netzwerken verschiedener Hersteller. XTI weist Ähnlichkeiten mit TLI von AT&Ts Unix-System V. 3 auf. Als zweite signifikante Schnittstelle nennt Siemens das User-Interface sowohl für grafische als auch für alphanumerische Terminals.

DEC rückt das Anwenderinteresse in den Vordergrund. Eine derartige Betrachtungsweise schließe aber mit ein, daß solche Empfehlungen die bestehende Nicht-Unix-DV-Welt und ihre Standards berücksichtige."

Außerdem kommt man hier zu dem Ergebnis, es werde nicht ausreichen nur eine bestimmte Unix-Version zum Standard zu erklären. In einer wirklich offenen Anwendungsumgebung müsse es auch standardisierte Schnittstellen im Bereich der Benutzeroberfläche, der Kommunikation und des Datenmanagements geben.

Integration von PCs als Schlüsselfunktion

An der Frage, ob und wenn ja, welche Varianten dieses portablen Betriebssystems aus dem Rennen sind, scheiden sich die Geister. Nixdorf beispielsweise geht davon aus, daß alle Unix-Derivate out sind, Siemens laßt keine nationalen Besonderheiten zu und räumt den Benutzerwünschen die höchste Priorität ein und für Telenorma hat Berkeley-Unix keine Daseinsberechtigung mehr. Aber auch eine genau entgegengesetzte und von DEC postulierte Meinung wird laut; sie heißt: "Es gibt keine Unix-relevanten Normen, die out sind. Die Normen sind ja gerade erst dabei, sich zu entwickeln."

Standards hin und Standards her - Unix tanzt heute auf vielen Hochzeiten, wobei die Bürokommunikation eigentlich erst in den letzten Jahren dazugekommen ist. Als realisierte Anwendungen listen die Hersteller folgende mehr oder weniger direkt mit Office Automation zusammenhängende Aufgabenfelder und Features auf: Branchenlösungen wie zum Beispiel das Bauhandwerk, das Rechnungswesen und Speditionen, relationale Datenbanken, vierte Generationssprachen und die bei BK-Konfigurationen gegenüber reinen Unix-Lösungen überwiegende PC-Integration in mehreren Variationen Il. PC als Terminal einer Unix-Maschine; 2. Unix-Maschinen mit 80386-Intel-CPU arbeiten DOS-Applikationen als Unix-Tasks ab; 3. Der Server Message Block (SMB) erlaubt transparenten Zugriff auf Unix-Dateien von MS-DOS aus), Mail, Terminüberwachung, Textsysteme und Datenbank-Management.

Aus den Antworten wurde ersichtlich, daß die DV- und Office-Automation-Branche in erster Linie zwischen kommerziellen und technisch-wissenschaftlichen Anwendungen unterscheidet, die Bürokommunikation aber nicht sehr klar davon abgrenzt. Einige Anbieter wie Wang, Siemens und IBM bringen bezüglich der Unix-Anwendungen ausschließlich ihre eigenen Produktofferten ins Spiel, auf die an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden soll. Vielleicht gerade, weil Unix mittlerweile zu einem "Hans-Dampf-in-allen-Gassen" geworden ist, hapert es bei diesem Betriebssystem aus BK-Sicht an allen möglichen Ecken und Enden:

- Spooler, Dateizugriffsmethoden, Datensicherheit,

- Branchenlösungen,

- OLTP-Anwendungen (OLTP: Online)

- Transaktionsverarbeitung,

- Benutzerschnittstellen,

- Systemdurchsatz,

- Grafik,

- Distributed Application Support,

- Dokumenten-Architektur,

- Rechenzentrumsbetrieb mit Batchverarbeitung und

- Netzwerk-Management.

DEC kommt zu dem Ergebnis, daß es in Teilbereichen wie der Systemsicherheit und dem Daten-Management schon realisierte Lösungen gibt, aber: "Diese Lösungen sind weit weg von irgendwelchen Standards und Normen und können meist nur durch herstellerspezifische Erweiterungen erreicht werden. Damit sind diese Lösungen nicht mehr portabel."

Schwierigkeiten ergeben sich zusätzlich bei unterschiedlichen Unix-Implementierungen; gefährdet ist insbesondere die Portabilität von Anwendungen. Aber, so argumentiert die IBM, es werden die sich entwickelnden Standards als eine Art Klammer fungieren und unterschiedliche Implementierungen der beiden Pressure Groups OSF sowie Unix International einbinden. Bekanntlich würden sich ja beide Gruppen zu Posix und X/Open bekennen. Ähnlich drückt sich Siemens aus: "Wenn die verschiedenen Unix-Implementierungen den X/Open-Standards entsprechen und darüber hinaus Schnittstellen-Kompatibilität zu OSF/1 und Unix System V.3 bewahren, treten diesbezügliche Auswirkungen für den Anwender nicht auf." Außerdem ziehe diese Entwicklung die Notwendigkeit nach sich, Unix-Derivate entsprechend anzupassen.

Zurückhaltung bei den Usern

Trotzdem: Gegenwärtig, so sehen es andere Anbieter wie beispielsweise Mannesmann-Kienzle und Telenorma, wirken sich die verschiedenem Unix-Variationen noch recht entscheidungshemmend aus beziehungsweise veranlassen den Benutzer zu abwartendem Verhalten, zumal es an Software-Tools und einheitlichen Benutzerschnittstellen fehlt. Ins Schwanken geraten könne die Portierbarkeit im übrigen bereits schon durch Unix-Erweiterungen, die Standardisierung soll sich nach Angaben von Philips darum ebenfalls auf diese nachträglichen Zusätze beziehen.

Einen anderer Problempunkt stellt die Migration zu Unix dar. Die Schwierigkeiten halten sich aber, wie Nixdorf sicher recht treffend bemerkt, in Grenzen, da mit Unix-Systemen oft nur Lösungen eingeführt werden sollen wie zum Beispiel Client/Server-Konzepte oder die Integration von Office-Funktionen sowie relevanten Datenbanken und den für die Bewältigung von Büroaufgaben üblichen Anwendungen.

DEC kommt hier ebenfalls zu einem abwägenden Urteil: "Das ist stark abhängig von der Höhe der getätigten Investitionen in die Systementwicklung und Integration in traditionelle Systeme und der bestehenden organisatorischen und personellen Infrastruktur eines Unternehmens." Mit zunehmender Größe und Komplexität des eingesetzten Rechnersystems steige der Aufwand bei einer Umstellung auf Unix-Lösungen, die gegenüber traditionellen Konzepten oft aber keine Leistungsvorteile brächten. Aus der Sicht von Mannesmann Kienzle ist der Migrations-Aufwand noch nicht quantifizierbar. Schwierigkeiten könnten sich dabei durch das Nichtvorhandensein von Problemlösungen beziehungsweise des Expertenwissens für die Implementierung der Unix-Systeme ergeben.

Einsparungen durch Unix-Server-Konzepte

Gerade im BK-Bereich können durch den Einsatz von Unix Einsparungen herausspringen, so durch den leichteren Aufbau von Client/Server-Konzepten, die verbesserte Multifunktionalität im Zuge einer Integration von Office- sowie DV-Funktionen und die einfache Portierbarkeit zwischen verschiedenen Unix-Systemen.

Voraussetzung für eine Kostendämpfung ist laut IBM eine wirklich Durchgängigkeit der jeweiligen Lösungen. Big Blue gibt ferner zu bedenken, daß Unix nicht von der übrigen Welt abgeschnitten werden dürfe. Vielmehr müßten ausreichend Funktionalitäten wie die Nachrichtenübermittlung und der Dokumentenaustausch für die Kommunikation mit anderen Systemen zur Verfügung gestellt werden.

Befragt wurden die Hersteller irr letzten Punkt über ihre Meinung hin sichtlich der Rolle von Unix-Planungen der öffentlichen Hand für die Entwicklung des kommerzieller Marktes. Sie antworten ziemlich unisono, daß die Akzeptanz von Unix steigt, da der Einsatz diese Standards forciert wird. Dazu IBM "Die Unix-Strategie der öffentlichen Hände hat ohne Frage der Entwicklung des kommerziellen Marktes für Unix-Systeme Impulse gegeben und wesentlich dazu beigetragen, Unix über den Bereich der technisch-wissenschaftlichen Systeme hinaus zu breiterer Bedeutung zu verhelfen.

X/Open-Definitionen beleben den BK-Markt

Telenorma, Philips, Nixdorf, Digital Equipment, Mannesmann Kienzle und Wang gehen ebenfalls von einem auf diese Weise bewirkten Unix Aufschwung aus. DEC erklärt hierzu, daß vor allem bei Behörde die Einhaltung der X/Open-Definitionen bereits in den Ausschreibungen eine Conditio sine qua non da stelle. Und Telenorma schließlich schlußfolgert in plausibel erscheinender weiser Voraussicht: "Da der größte Teil aller BK-Installationen im öffentlichen Bereich stattfindet und d Bürokommunikation als Integrator aller kommerziellen Anwendungen angesehen werden kann, ist mittelfristig mit einer Umorientierung kommerzieller Anwendungen in Richtung Unix zu rechnen".