Bedingungslose Vorleistung gefordert Chance in der IT-Krise: Aus dem Teufelskreis herauskommen

23.12.1994

Von Ingo Zank*

Auch 1994 zeigte die Welt der Informationssysteme dramatische Wandlungsprozesse. Der sichere Boden des Rechenzentrums wurde in Richtung auf eine ungewisse Zukunft verlassen. Kein Wunder, dass Management-Entscheidungen verstaerkt von irrationalen Aengsten beeinflusst werden. Hier sollen die Ursachen aufgezeigt und Hinweise zum besseren Umgang mit diesen oft verleugneten Gefuehlen gegeben werden.

SNI, IBM oder DEC, in den vergangenen zwoelf Monaten haben die vertrauten Bastionen der DV auch den letzten Rest ihrer einstigen Sicherheit verloren. Negative Schlagzeilen sind zur Normalitaet geworden. Klar ist, dass sich die lange versaeumte Anpassung an veraenderte Umgebungsbedingungen nicht in wenigen Monaten nachholen laesst. Und das gilt nicht nur im IT-Sektor, sondern fuer die gesamte deutsche Industrie. Die Auswirkungen dieser strukturellen Krise werden weit ueber das konjunkturelle Tief hinaus wirksam bleiben.

Zwar ist man sich dieser Krise bewusst, aber im Vordergrund der Bemuehungen stehen Kosteneinsparungen vor allem durch Personalreduzierung - "eine laengerfristige Trendwende in Form eines Quantensprungs ist auf diese Weise nicht herbeizufuehren", warnte das Marktforschungsunternehmen Diebold 1994.

Pioniergeist verschuettet unter Verkrustungen

Business Re-Engineering steht fuer den erforderlichen Paradigmenwechsel. Wenn man jedoch den Berichterstattern Glauben schenkt, dann scheitern fast drei Viertel dieser Projekte. Bereits Anfang 1994 aeusserte der amerikanische Autor Michael Hammer in einem Interview mit der "Computerworld": "DV-Leute gehen einfach zu logisch und zu analytisch vor, sie widmen sich zuwenig dem schlammigen Morast der menschlichen Emotionen." Gerade hier liegen die eigentlichen Ursachen fuer das Scheitern von Business Re- Engineering.

"Nimm ein leeres Blatt Papier, und gestalte alle Prozesse im Unternehmen auf die bestmoegliche Weise vollkommen neu." (Hammer und Champy, "Re-Engineering the Corporation"). Andersen Consulting beschreibt Business Re-Engineering als "Ausrichtung aller betrieblichen Leistungsfaktoren auf eine unternehmerische Vision". Unternehmen werden dadurch von Grund auf neu gestaltet. Und wo Neuland erobert wird, da sind Pioniere gefragt. Aber nicht jeder hat den erforderlichen Pioniergeist im Herzen.

Ein fuer ein wichtiges Umgestaltungsprojekt verantwortlicher Manager meinte kuerzlich: "Ja, wenn wir eine eigenstaendige GmbH waeren, dann wuesste ich, was jetzt zu tun ist..." Pioniergeist, verschuettet unter verkrusteten Organisationsstrukturen?

Auch in der ueberkommenen Organisation besteht fast immer die Moeglichkeit zu handeln, zu veraendern, ohne einen Auftrag

"von oben". Den Schluessel zum Erfolg der Japaner im Wettbewerb bildet "Kaizen", der Prozess staendiger Verbesserung im privaten und geschaeftlichen Leben. Jeder ist aktiv daran beteiligt, vom Arbeiter bis zum Vorstand. Die erforderliche mentale Grundeinstellung ist dabei keineswegs nur fuer Japaner realisierbar. Speziell bei uns in Deutschland bedarf es dazu allerdings einer Rueckbesinnung auf die Schaffenskraft der beteiligten Menschen.

Selbstaendig zu handeln und das jeweils "Sinnvolle" zu tun, das heisst natuerlich auch, die volle Verantwortung fuer die Folgen zu uebernehmen. Das ist naturgemaess mit einem gewissen Risiko verbunden und stellt eine besondere Herausforderung dar. Da liegt die Vermutung nahe, dass ein Versagen in dieser Situation an der Ueberforderung der betroffenen Menschen liegt. Erfahrungen im Krisen-Management deuten jedoch darauf hin, dass oft nicht mangelnde Qualifikation, sondern falsche mentale Einstellungen ausschlaggebend sind.

Visionaere Ziele wichtiger als die eigene Person

Ein aus dem Sport bekanntes Phaenomen bestaetigt die: der "Trainingsweltmeister". Untersuchungen an der Universitaet Wien haben gezeigt, dass das Versagen in Stresssituationen, also im tatsaechlichen Wettkampf, nicht immer an einer Ueberforderung des Sportlers liegt. Es ist vielmehr entscheidend, worauf seine Gedanken im Wettkampf gerichtet sind: auf die eigene Person oder auf das zu erreichende Ziel. Auch IT-Manager, die mehr an die Folgen fuer die eigene Person als an ihre visionaeren Ziele denken, werden nur Trainingsweltmeister bleiben. Durch Egozentrik selbstproduzierte (Erwartungs-)Aengste blockieren durch eine Ueberaktivierung der Grosshirnrinde ihr kreatives Denken und Handeln.

Stetiger Wandel ohne Hilfe nicht umsetzbar

Stetiger Wandel als fester Bestandteil der Unternehmenskultur ist daher fuer viele Manager trotz bester Qualifikation nicht ohne Hilfestellung begreif-, geschweige denn umsetzbar. Die Folgen sind unabsehbar, denn die Wandlungsprozesse in unserer Industriegesellschaft beschleunigen sich.

Das Sammelsurium von Einzelaktivitaeten zur Neuorientierung, das von deutschen Managern im vergangenen Jahr geplant und teilweise auch realisiert wurde, erscheint so in einem neuen Licht. Es ist wenig mehr als ein Feigenblatt, das den Mangel an wirklicher Veraenderungs- und Verantwortungsbereitschaft kaum verdecken kann. Nach einer Studie von Andersen Consulting werden sich die Vorstandsetagen europaeischer Unternehmen in den kommenden zwei Jahren vorrangig damit beschaeftigen, die Produktivitaet zu steigern und die Kosten in den Griff zu bekommen. Mitarbeiterentwicklung, Qualitaets-Management oder Umwelt stehen demgegenueber ganz hinten auf der Prioritaetenliste. Die Verwirklichung visionaerer Unternehmensziele ist auf diesem Weg nicht denkbar.

Ein guter Orientierungsrahmen ist die Voraussetzung fuer verantwortliches Handeln. Weder zu wissen, was man muss, noch zu wissen, was man soll, und auch nicht, was man will, verleitet dazu, das zu tun, was andere tun oder wollen. Aber auch die Kenntnis des Erforderlichen bedeutet wie bereits erwaehnt nicht automatisch, dass man es auch tut.

Aengste bei gefuehlsmaessigen Entscheidungen dominieren

Motive, Gefuehle und Wertungen sind fuer das IT-Management von wesentlich groesserer Bedeutung, als gemeinhin angenommen wird. Es ist ueblich geworden, sich an der Zukunft zu orientieren, und da wir die Zukunft nicht kennen, basieren Management-Entscheidungen letztlich auf persoenlichen Einschaetzungen der weiteren Entwicklung. Daher sind es oft Aengste, die diese gefuehlsmaessigen Entscheidungen dominieren und so zu falschen, sinnwidrigen Ergebnissen fuehren.

Aengste gehoeren zum Menschen und haben ganz bestimmte Aufgaben zu erfuellen. Auch die wirklich erfolgreichen Pioniere der Neuzeit lebten und leben nicht angstfrei. Es geht also nicht darum, diese Gefuehle zu besiegen, sondern vielmehr um einen geeigneten Umgang damit.

Beim Krisen-Management laesst sich beobachten, dass die Kreativitaet eines Projektteams deutlich steigt, wenn an die Stelle der Zukunftsorientierung die Rueckbesinnung auf erreichte Werte und angestrebte, selbstgesteckte Ziele tritt. Die angstausloesende unbekannte Zukunft, die uns erwartet, wird durch den persoenlichen Gestaltungsfreiraum ersetzt.

Eine spezielle Art von Deadlock-Situation

Natuerlich gibt es einen gewissermassen schicksalhaften Bereich, in dem Menschen nicht selbst entscheiden koennen, sondern nur auf vorgegebene Situationen reagieren. Aber daneben existiert der Bereich freier, verantwortlicher Entscheidungen. Und auch fuer ihre Reaktion auf "schicksalhafte" Umstaende sind die Menschen selbst verantwortlich. Voraussetzung fuer die sinnvolle Nutzung dieses Gestaltungsfreiraums ist, dass den Beteiligten der jeweilige Sinnhintergrund erfahrbar gemacht wird.

Der eingangs zitierte Manager aeusserte im weiteren Gespraech:

"Vor Einleitung der erforderlichen Massnahmen muss (andernorts) geklaert werden, wie die zukuenftige Organisation aussehen soll." Natuerlich gibt es derartige Abhaengigkeiten, aber umgekehrt ist auch die Neuorganisation abhaengig von den zu organisierenden Prozessen. Derartige Verhaltensteufelskreise sind symptomatisch fuer Krisensituationen. Jeder weiss, was getan werden muesste, ist aber nur dann bereit, wirklich zu handeln, wenn vorher die anderen gehandelt haben.

Im Prinzip handelt es sich um eine spezielle Art von Deadlock- Situation: ein Deadlock im menschlichen Verhalten. Solche Teufelskreise sind genau wie in DV-Transaktionssystemen nur durch die bedingungslose Vorleistung einzelner aufzubrechen. Dabei kann in der Regel nur damit argumentiert werden, dass dieser persoenliche Einsatz sinnvoll fuer die weitere Entwicklung ist. Die damit verbundenen Risiken koennen natuerlich ebenfalls wieder Aengste ausloesen, wenn die mentale Einstellung nicht stimmt.

"Ja, wir brauchen eine neue Projektkultur, aber vorher muessen wir erst ein paar dringende aktuelle Probleme loesen." Diese Aussage eines Managers aus der zweiten Fuehrungsebene eines deutschen Loesungsanbieters bedarf nach dem bisher Gesagten wohl keiner weiteren Erlaeuterung.

Gespraeche mit dem mittleren und oberen IT-Management unterschiedlicher Unternehmen zeigen aehnliche Strukturen wie in den angefuehrten Beispielen. Dabei handelt es sich letztlich um die Symptome einer akuten IT-Management-Krise, deren Ueberwindung dringend erforderlich ist. Ohne externe Hilfestellung ist das allerdings kaum moeglich. Ein "Sesam, oeffne dich" kann indes im festen Vertrauen darauf real werden, dass Menschen in jeder Situation etwas Sinnvolles tun wollen und auch koennen. Aufgabe des Coachs ist es, die dazu notwendige mentale Einstellung herbeizufuehren und bei der Suche nach Sinn-Moeglichkeiten behilflich zu sein.

* Dr. Ingo Zank ist Inhaber der Unternehmensberatung Coaching, Consulting and Crash Management in Betzendorf.