Anwender fühlen sich beim Erfassen alleingelassen:

BDE-Revolutionäre sammeln sich

18.09.1987

Eher als psychologisches und organisatorisches denn als Soft- oder Hardware-Problem sieht Klaus Hölscher* die Betriebsdatenerfassung. Wenn BDE überhaupt einen Sinn haben solle, müsse man sich Gedanken darüber machen, welche Folgen die Verfügbarkeit der Datenmengen habe. Hölscher hat diese Frage nach den inhaltlichen Konsequenzen von BDE zu einem zentralen Thema gemacht.

Betriebsdatenerfassung wird meist als Pyramide veranschaulicht: Oben die Firmenleitung als Spitze, in der Mitte der organisatorische Mittelbau und unten die breite Basis der Arbeiter und Ausführenden. Die Anweisungen gehen dann von oben nach unten, die Informationen von unten nach oben. Ein schönes und unmittelbar einleuchtendes Bild - nur: bringt es irgendeinen Erkenntnisgewinn? Hilft es wirklich weiter?

Nun ja, es hilft den Herstellern von Hardware, ihr hierarchisches Master-Slave-Prinzip auf einen ganzen Fertigungsbetrieb zu übertragen. Insofern eine gute Verkaufshilfe. Aber was kommt dann?

Was ein Betrieb braucht, sind Entscheidungen, sprich: Planung und Führung. Selbstverständlich sind dazu Informationen erforderlich. Informationen, die zum Beispiel ein BDE-System liefern kann. Aber was passiert mit diesen Informationen? Datenfriedhof? Rechtfertigung für unterlassene Entscheidungen? Geheimniskrämerei? Durchleuchtung der Ausführenden?

Für sich genommen, kann Betriebsdatenerfassung also nur eine Komponente in einem größeren Zusammenhang sein. Sie darf nicht einer Modelleisenbahn gleichen, die man planlos zusammenfügt und zum Laufen bekommt, nur weil man zufällig über die Hardware verfügt. Denn das, was da läuft, beschäftigt nur sich selbst beziehungsweise den, der damit spielt. Das aber kann nicht der Sinn von BDE sein.

Alleiniger Sinn und Zweck muß vielmehr sein, die Planung mit zuverlässigen Daten zu unterstützen beziehungsweise zu ermöglichen - und das in einer Weise, die Entscheidungen fördert und beschleunigt und nicht etwa verzögert.

Bisher - und das Pyramidenmodell legt es ja nahe - ging man davon aus, daß die Informationen von oben nach unten verlaufen. Oben wird geplant und gesteuert, unten wird ausgeführt. Sieht man allerdings etwas genauer hin, stellt sich die Sache eher so dar:

Von oben kommt sehr wenig Information zur nächst unteren Stufe. Dort wird sie mit Erfahrungen und Vermutungen angereichert und zur nächsten Stufe hinuntergereicht. Dort geschieht wieder dasselbe, so lange, bis die Information endlich beim Ausführenden angelangt ist. Ergebnis: Er bekommt lückenhafte und unpräzise Anweisungen und muß sehen, daß er damit zurechtkommt. Klappt es, gilt das als selbstverständlich. Klappt es nicht, bekommt der Ausführende die Schuld. Nach oben dagegen werden immer nur Vollzugsmeldungen weitergegeben.

Die Folge: Lückenhafte Informationen oben und eine entsprechend ungenaue, vielleicht sogar realitätsferne Planung. Lückenhafte Informationen unten und eine entsprechend erschwerte und verzögerte Ausführung. Dazwischen der Mittelbau, der sich nach oben wie nach unten abzusichern versucht. Und selbstverständlich Frust auf allen Etagen, weil ständig improvisiert werden muß und Schuldzuweisungen verteilt werden.

Es muß also eine bessere Möglichkeit geben, als den Informationsdruck von oben nach unten wirken zu lassen.

BDE erfaßt Daten und speichert sie im Rechner. Entsprechend der Pyramidenvorstellung würden die Daten dann nach oben hin stufenweise verdichtet - bis an der Spitze nur noch ein dünner Extrakt übrigbleibt: Ein genaues Abbild der Frust-Pyramide, wie sie leider allzu bekannt ist.

Ein Einrichter hat den Auftrag, ein bestimmtes Werkzeug auf einer bestimmten Maschine aufzuspannen. Aber es gibt Schwierigkeiten. Die Maschine ist noch nicht frei, notwendige Hilfsmittel müssen gesucht werden, Material fehlt und so weiter. Alles Dinge, die der Ausführende nicht zu vertreten hat, die ihm aber angelastet werden.

Transparenz wird zum Organisationsprinzip

Bei richtig angewandter Betriebsdatenerfassung dagegen, teilt der Ausführende mit Hilfe des Informationssystems der Zeiterfassung jederzeit mit, was er gerade tut. Beispielsweise "Warten auf Material". Ebenso werden (online) die dazugehörigen Maschinen-Stillstandszeiten erfaßt - kurz: alles, was passiert, ist offenbar und kann jederzeit überall abgerufen werden. Transparenz als Organisationsprinzip. Die überraschende Folge: Nicht mehr der Ausführende hat jetzt die Schuld, sondern der Vorgesetzte, der die Organisationsmängel zu vertreten hat. Der Ausführende dagegen ist entlastet. Er kann ja jederzeit nachweisen, was zu welchem Zeitpunkt geschehen ist oder unterlassen wurde. Diskussionen und Schuldzuweisungen erübrigen sich oder finden zumindest nicht mehr auf dem Rücken des Ausführenden statt. Der Schwarze Peter ist ganz klar beim Verantwortlichen - und das so lange, bis der Mangel abgestellt ist. Falls der Vorgesetzte nicht dafür verantwortlich ist, wird er sich genau wie der Untergebene entlasten, indem er den Mangel offenbar werden läßt und die "gelbe Karte" nach oben weiterreicht.

Die Folgen eines solchen transparenten Datenflusses von unten nach oben sind verblüffend. Denn die Macht, die von einer Information ausgeht, ist nun plötzlich andersherum gerichtet. Konnte man bisher Informationen zurückhalten und dadurch Vorteile erzielen, so ist das jetzt nicht mehr möglich. Konnte man bisher das angebliche Fehlen von Informationen vorschützen, um Entscheidungen zu verzögern, so ist auch das nicht mehr möglich. Im Gegenteil: Es gibt keine fehlenden Informationen mehr. Alle Informationen sind zu jedem Zeitpunkt vorhanden, und zwar von unten her. Die Informationen werden von ihrem Entstehungsort nach oben weitergereicht und erzwingen durch ihr bloßes Vorhandensein Entscheidungen.

Nehmen wir als Beispiel die Information: "Paletten fehlen". Der Ausführende gibt diese Information ein und ist damit entlastet. Das Problem liegt jetzt beim unmittelbaren Vorgesetzten. Er sieht sich die Daten an und stellt fest, daß auch schon gestern und vorgestern Paletten fehlten. Bevor er nun von jemand anderem darauf angesprochen wird, wird er die Sache lieber gleich regeln. Das heißt: Im Zweifelsfall zum Ausführenden gehen und ihn fragen, was es denn nun mit den fehlenden Paletten auf sich habe. Von da bis zur endgültigen Lösung des Problems ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.

Wer hat hier wen bedient? Ganz klar der Vorgesetzte den Ausführenden. Und denkt man das System zu Ende, dann werden hier ständig die Vorgesetzten angehalten, ihre Untergebenen zu bedienen. Kraß ausgedrückt: Der "Werker" ist König, alle anderen sind Laufburschen. Das hat Auswirkungen bis hin zu den täglichen Umgangsformen: Der Meister sagt nicht mehr: Kommen Sie mal her! - er geht selbst hin. Er geht deshalb selbst hin, weil das den Arbeitsfluß weniger stört. Er wird überhaupt alles tun, um den Ausführenden nicht aus dem Rhythmus zu werfen, weil das den Arbeitsfluß stören und die Ergebnisse meßbar vermindern würde.

*Klaus Hölscher ist Unternehmensberater in Bocholt.