Für den Online-Anschluß fehlt das Geld

Bayerns Polizei: Gefangen im eigenen Datennetz

14.08.1998

Die Anzeige wegen Fahrerflucht dauert. Mittlerweile blättert der Beamte in der Kreiswache abwechselnd in drei DV-Handbüchern und fliegt dennoch erneut aus dem System. Es gibt keine Online-Hilfen. Eigentlich sei er ein Münchner "Kriminaler", der gerade erst aufs Land versetzt sei, "um zu lernen, wie die Schutzpolizei arbeite", München aber habe ein gänzlich anderes Computersystem, entschuldigt sich der Beamte. Seine Dienststelle kann darauf nicht zugreifen.

Der Unfall passierte in Bayerns Hauptstadt, und deshalb muß sich eine Münchner Dienststelle um die weitere Verfolgung des Falls kümmern. Diese aber wird den Vorgang komplett neu erfassen müssen, denn ein Datenaustausch über die paar Kilometer hinweg ist unmöglich.

"In Bayern haben wir für die Anzeigenbearbeitung und für die Vorgangsverwaltung ein Ballungsraum- und ein Flächenverfahren", erklärt Klaus Petritsch, Polizeioberrat und DV-Leiter im Polizeipräsidium München. Das Flächenverfahren beruht auf 500 dezentralen Unix-Mehrplatzanlagen, die auf Großrechner des Landeskriminalamts (LKA) zugreifen, während das Ballungsraumverfahren auf einem in Nürnberg stehenden BS-2000-Mainframe basiert und in "Adabas C" und "Natural" von der Software AG programmiert ist.

Über den Status quo der Polizei-DV im Freistaat kann Petritsch stundenlang schimpfen. Er kritisiert die mangelnde Bedienerfreundlichkeit von Applikationen, zu groß angelegte Planungen, Unsicherheiten im Budget, Herstellerhörigkeit und veraltete Konzepte im Zusammenhang mit unklaren Zuständigkeiten sowie das Hinauszögern von Entscheidungen.

Eigentlich sollte es bis Anfang 1990 ein einheitliches Polizeisystem für ganz Bayern geben. Betreut wurde und wird die Applikationserstellung durch das LKA. Weil jedoch auf ein Projekt-Management mit Ziel-, Termin- und Kostenvorgaben sowie klare Zuständigkeiten verzichtet wurde, die Planung aber alles zugleich berücksichtigen wollte, verzögerte sich die Fertigstellung. Um den gordischen Knoten zu zerschlagen, teilte man die Applikation in Anzeigen- und Vorgangsbearbeitung auf, mit geringem Erfolg: Allein die Entwicklung der Vorgangsverwaltung dauerte statt sechs 21 Monate. Darüber hinaus ist sie seit 1988 nur in den Landkreisen im Einsatz. Parallel zum LKA entwickelte auch die Polizei in Nürnberg. Dort entstand in den Jahren 1987/88 das Host-basierte Ballungsraumverfahren.

Die auf Eis gelegte Anzeigenbearbeitung wurde derweil so dringlich, daß einzelne Polizeibeamte in Eigeninitiative Lösungen in Angriff nahmen. Auf diese Weise entstanden unabhängig voneinander mit einfachen Mitteln in kurzer Zeit zwei unterschiedliche Lösungen. Diese für eine Übergangszeit gestrickten Programme sind noch immer im Einsatz. Auch der Bayerische Oberste Rechnungshof (ORH), 1996, hält solche Entwicklungen für "nicht sachgerecht". Zentrale Anforderungen, wie "Einmalerfassung der Daten, Beginn der Sachbearbeitung mit der Anzeige, Einbindung in die Kriminalstatistik und der Kriminalaktennachweis" seien nicht erfüllt. Zudem stürze das System häufig ab.

An Vernetzung via TCP/IP oder Ethernet dachte bei der Einführung der Systeme noch niemand. Sein Bestreben nach Vernetzung der Dienstgebäude habe einem Kampf gegen Windmühlen geglichen, erinnert sich Petritsch. Client-Server-Topologien kamen damals wie heute nicht in Frage. Statt dessen setzte die Polizei auf Terminalemulation mit dem Siemens-eigenen "NEA"-Protokoll.

Als die Landkreise ihre Unix-Anlagen einführten, bauten sie auf einer vorhandenen Fernschreiberinfrastruktur auf. An einer Unix-Station hingen typischerweise vier Bildschirme, heute sind es bis zu 60 Terminals, und zwei Drucker. Die Daten kamen und kommen per Emulation und Datenfernübertragung vom Host des LKA.

Sofern die Bayern-Polizei eine Person überprüfen will, funktioniert dieses Verfahren. Sie greift auf die Großrechnerdaten vom LKA zu, findet sie dort nichts, wird sie bei vorhandener Berechtigung zum Bundeskriminalamt oder zum europäischen Zentralrechner der Polizei durchgestellt. Dafür wurde bis vor zwei Jahren der Post-Paketdienst "Datex-P" verwendet. "Da jedes Pixel mitgeschickt werden mußte, kostete uns allein die Begrüßungsseite unserer Vorgangsverwaltung 7,50 Mark", schüttelt Petritsch den Kopf.

Probleme entstehen dadurch, daß in jeder Polizeiinspektion auch Daten anfallen, die nicht an Großrechner übermittelt, sondern lokal verwaltet werden. Außerdem müssen die Beamten Texte erfassen und Formulare ausfüllen, aus denen etwa ein Kriminalaktennachweis für das Großrechnersystem generiert wird. Die Polizisten arbeiten in der Regel mit Siemens-Text- und -Kalkulationsprogrammen "auf dem Stand von 1985", wie Petritsch bemerkt.

Der ORH sieht hier Defizite und stellte die Landesregierung bereits mehrfach zur Rede. In seiner Antwort auf die Berichte der Kontrollbehörde führte Innenminister Günther Beckstein die überwiegende Ausstattung mit Terminals statt PCs zum einen auf eine "fehlende herstellerneutrale lokale Vernetzung" zurück. Gemeint sind offenbar die NEA-Protokolle. Außerdem könnten, so der Minister "derzeit komplexe Großrechneranwendungen nicht in kurzer Zeit durch gleichwertige Client-Server-Verfahren abgelöst werden". Die proprietäre Infrastruktur verhindert zugleich den Einsatz von PC-Standardsoftware etwa für die Bürokommunikation, rügt der ORH. Die Kritik an der Ausstattung der Endgeräte will Ministerialrat Klaus Zechmeister nicht akzeptieren. Er bezeichnet sie als "Mickey-Mouse-Perspektive". Polizeiarbeit bestehe nur in geringem Maße aus Texterfassung. Mit seiner sechsköpfigen Mannschaft ist Zechmeister beim Landesinnenministerium Bayern zuständig für die IuK-Haushaltspläne für Funk- und Überwachungstechnik.

Bereits seit 1992 moniert der Rechnungshof weitergehend aber auch die selbstverschuldete Herstellerabhängigkeit und die fehlende Vernetzung der Polizei-DV. Trotzdem wurde die bestehende Infrastruktur weiterentwickelt. Als man schließlich doch Ethernet-Karten etwa für die Unix-Rechner "MX 3000" von Siemens-Nixdorf anschaffte, kosteten sie rund 10000 Mark pro Stück. "Das war zu einer Zeit, in der der Händler in der Schillerstraße für eine PC-Ethernet-Karte 345 Mark verlangte", empört sich der Münchner Polizeioberrat Petritsch.

Doch nun soll alles besser werden: Lichtwellenleiter bis zum Arbeitsplatz, Browser, Internet und Intranet, digitale Täterbilder und Archivbilder von Kunstschätzen (etwa 20000 Stück wird das LKA verwalten), ein automatisiertes kriminaltechnisches und rechtsmedizinisches Labor, elektronischer Dokumenten- und Datenaustausch mit der Staatsanwaltschaft sind geplant.

Etwa 50 Millionen Mark soll allein die Vernetzung der Dienst- gebäude kosten. Doch nur 20 Millionen Mark davon werden durch einen Sonderhaushalt abgedeckt, der aus dem Verkauf von Anteilen an der Österreichisch-Bayerischen Kraftwerke AG gespeist wurde. Die "normale" Haushaltskasse wird allerdings nicht um die fehlenden 30 Millionen Mark für die Venetzung aufgebessert, so daß das Verkabelungsprojekt noch mindestens drei Jahre auf der Tagesordnung stehen wird.

Polizei-DV in Weiss-Blau

In Bayern arbeiten rund 33000 Polizisten, 6000 davon allein in München. Etwa 17000 Polizeibeamte sind gleichzeitig im Einsatz. Im Schnitt gehören zu jeder der 30 Polizeidirektionen drei Landkreise. An DV-Ausstattung verfügt der bayerische Staat insgesamt über 5500 Drucker und 14 000 Bildschirmarbeitsplätze, von denen laut aktuellem Rechnungshofbericht nur etwa 4500 PCs sind. Im Jahr 1996 standen für die DV-Ausstattung der bayerischen Behörden 288 Millionen Mark zur Verfügung. Rund 50,8 Millionen Mark davon wurde in die IT der Polizei investiert.