Enterprise Resource Planning

Baan-Anwender drohen mit Abwanderung

30.04.2008
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Kunden sehen derzeit keinen Anlass, auf die aktuelle Version des Baan-Systems ERP LN zu wechseln. Infor, als Anbieter der Software sei nicht in der Lage, die Vorteile eines Umstiegs plausibel zu machen, kritisieren sie.

"Was ist die Strategie von Infor?" Mit dieser Frage bringt Erwin Schuster, IT-Leiter der Wittenstein AG, den Unmut der Baan-Anwender auf den Punkt. Die Kunden verlangten eine klare Perspektive, welche Vorteile die aktuellen Applikationen für das eigene Geschäft bieten. "Eine SOA-Strategie reicht dafür nicht aus", stellt Schuster klar. "Was wir brauchen ist eine Business-Value-Strategie."

Bislang ist es den Infor-Verantwortlichen offenbar nicht gelungen, die drängenden Fragen der eigenen Klientel zufrieden stellend zu beantworten. Auf dem Anwendertreffen der Deutschen Baan Usergroup (Dbug) am 23. April in Nürnberg räumte Daan Snijders, Vice President für die Produktentwicklung ein, dass noch 90 Prozent der Baan-Anwender das alte Release IV einsetzten. Auf das aktuelle Release ERP LN sind die wenigsten gewechselt.

Dabei wachsen gerade im Mittelstand die Anforderungen an das ERP-System, berichtet Schuster. Die zunehmende Internationalisierung des Geschäfts und der wachsende Druck zur Konsolidierung hielten die IT-Abteilungen auf Trab. Die Software müsse die sich ständig ändernden Prozesse im Unternehmen besser unterstützen, fordert der Anwender.

Einen Umstieg sehen viele Kunden jedoch kritisch. Der Aufwand für die Migration auf ERP LN sei nicht unerheblich, klingt immer wieder durch. Auch die Dauer von teilweise bis zu eineinhalb Jahren sei gerade für mittelständische Unternehmen nicht zu akzeptieren.

Martin Jung, der neue Vorsitzende der Deutschen Baan Usergroup (Dbug), will Softwareanbieter Infor stärker in die Pflicht nehmen und die Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Anwendern intensivieren.
Martin Jung, der neue Vorsitzende der Deutschen Baan Usergroup (Dbug), will Softwareanbieter Infor stärker in die Pflicht nehmen und die Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Anwendern intensivieren.
Foto: Dbug

"Die Baan-Kunden sind zwar treu", sagt Schuster. Darauf dürfe sich Infor jedoch nicht ausruhen. Von einer Abwanderungsbewegung will der Anwender zwar nicht sprechen. Die Situation sei jedoch gefährlich für Infor. Schließlich agiere die Konkurrenz wie beispielsweise SAP geschickter im Markt. Der Wettbewerber versucht seit Jahren, unzufriedene Baan-Kunden mit Hilfe seines Safe-Passage-Programms auf die eigene Softwareseite zu ziehen. Wechselwillige Anwender bekommen die Lizenzgebühren ihres alten Baan-Produkts angerechnet.

"Wir wollen, dass die Kunden Infor-Kunden bleiben", bekräftigt Markus Stahl, Manager für das Industrie- und Produkt-Marketing von Infor, die Absicht, Abwanderungstendenzen zuvorzukommen. Im November vergangenen Jahres hat Infor ein Early-Adopter-Programm für die weitere Entwicklung von ERP LN gestartet. Damit sollen Entwicklungswünsche der Anwender für das Feature Pack 5 für ERP LN gesammelt werden. Feature Pack 4, das eigentlich bereits zum Jahreswechsel herauskommen sollte, wurde abgesagt. Ab Mitte des Jahres sollen fünf Pilotkunden das Erweiterungspaket testen, das in erster Linie SOA-Funktionen bieten wird. Ende des Jahres werde Stahl zufolge mit FP 5 eine SOA-fähige ERP-LN-Version zu haben sein. Um auch die Baan-IV-Kunden bei der Stange zu halten, soll das Alt-Release mit Hilfe von Service-Packs SOA-fähig gemacht werden. Mit Erweiterungsmodulen sollen die Anwender dann zusätzliche Softwarefunktionen beispielsweise aus den Bereichen SCM und PLM nutzen können.

Mit einer kontinuierlichen Pflege der Anwenderbeziehungen will der Hersteller die Adaptionsrate für seine neuen Lösungen erhöhen, erläutert der Infor-Manager. Allerdings sei der Umstieg von Baan IV auf ERP LN nicht trivial, räumt Stahl ein. Vor allem die vielen Anpassungen erforderten eine langfristige Planung der Kunden. Dabei will Infor den Anwendern künftig mehr unter die Arme greifen. Tools sollen den Umstieg erleichtern, zudem möchte der Hersteller die Kunden mit Services dabei unterstützen, den Nutzen eines Umstiegs zu verstehen. "Eine Migration macht schließlich niemand als Selbstzweck."

Anwender klagen über lange Reaktionszeiten in der Entwicklung

Bislang sehen die Anwender Infors Bemühungen allerdings eher skeptisch. Die Möglichkeit, Entwicklungsanträge zu stellen, werde kaum genutzt, weil das Unternehmen praktisch kein Feedback gebe und die Aussichten auf Umsetzung gering seien, hieß es auf dem Anwendertreffen. Darüber hinaus sehen einige Kunden die Supportversprechen eher skeptisch. Infor hatte in der Vergangenheit wiederholt zugesichert, auch die Altversionen unbegrenzt unterstützen zu wollen. Doch offenbar traut ein Teil der Klientel dem Hersteller nicht zu, den Supportaufwand parallel zur Weiterentwicklung der Lösungen zu schultern. Entwicklungsprobleme in der Vergangenheit stützen den Verdacht. Infor habe in der Vergangenheit oft erst sehr spät reagiert, wenn es darum ging, gesetzliche Vorgaben in die Software einzupflegen, moniert beispielsweise Martin Jung, Vorsitzender der Dbug.

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Infor-Manager Snijders bedauerte die Verspätungen und versprach Besserung. Der Hersteller beabsichtige, in Zukunft enger mit den User Groups zusammenzuarbeiten, um Entwicklungswünsche zu kanalisieren. Außerdem sei geplant, über die Dbug-Website Informationen für die Baan-Anwender bereitzustellen. Allerdings müssten sich auch die Kunden stärker einbringen, fordert das Infor-Management. Bislang sei beispielsweise die Teilnahme an Online-Webinaren, mit denen der Hersteller über neue Entwicklungen informieren wollte, eher überschaubar gewesen.

Es muss sich offenbar noch einiges tun, um das Verhältnis zwischen Softwareanwender und -anbieter zu verbessern. Baan-Kunde Schuster äußerte sich erschrocken über die auf dem Anwendertag zutage getretenen Defizite: "Hier klafft ein riesiges Kommunikationsloch."

Baans Leidensgeschichte

Mai 1995: Baan geht an die Börse und entwickelt sich schnell zum Liebling der Aktienhändler.

Mai 1998: US-Behörden stellen fest, dass Baan seine Umsätze durch unerlaubte Geschäfte mit Tochterunternehmen künstlich aufgebläht hat. Der Hersteller kündigt an, seine Buchungspraktiken zu ändern.

Juli 1998: Jan Baan übergibt den CEO-Posten an Tom Tinsley und zieht sich in den Aufsichtsrat zurück, den er aber im November des gleichen Jahres verlässt.

Oktober 1998: Anleger verklagen Baan wegen der unerlaubten Buchungspraktiken. Der Hersteller entlässt 20 Prozent seiner Mitarbeiter. Eine Gewinnwarnung lässt den Börsenkurs um fast ein Drittel einbrechen. Der Wert des Unternehmens verringert sich um 1,1 Milliarden Dollar.

Januar 1999: Für 1998 wird ein Verlust von 315 Millionen Dollar gemeldet.

Mai 1999: Tinsley wirft das Handtuch und überlässt Mary Coleman den CEO-Posten.

Januar 2000: Coleman tritt zurück. Pierre Everaert wird Interims-CEO. Der Verlust für 1999 beläuft sich auf 250 Millionen Dollar.

Juni 2000: Erste Übernahmegerüchte lassen die rund 6000 Baan-Kunden wieder hoffen. Als potenzielle Interessenten werden neben Invensys auch SAP und Oracle genannt.

August 2000: Invensys kauft Baan für 708 Millionen Dollar und liquidiert die alte Holding. Im Rahmen der Restrukturierung werden 40 Niederlassungen geschlossen und die Belegschaft um 1000 auf rund 3000 Mitarbeiter reduziert. Die Kosten werden bereits im ersten Quartal nach der Übernahme um 100 Millionen Dollar gedrückt. Innerhalb von zwölf Monaten soll der Breakeven geschafft werden.

Februar 2001: Bereits im dritten Geschäftsquartal 2000/01 (Ende: Dezember 2000) schafft Baan den Breakeven - früher als geplant. Die wirtschaftliche Situation verbessert sich in der Folgezeit kontinuierlich.

Juni 2003: Invensys verkauft seine Softwaretochter Baan für 135 Millionen Dollar an SSA Global. Hinter der Firma stehen die Investmentgesellschaften Cerberus Capital Management und General Atlantic Partners. In der Folge müssen 800 der 2800 Mitarbeiter gehen. Die Baan-Sanierung kostet angeblich 70 Millionen Dollar.

August 2004: SSA stellt mit fast einem Jahr Verspätung die neue Suite ERP LN 6.1 vor. Die Software geht aus Baans Projekt "Gemini" hervor, das etwa 100 Millionen Dollar an Entwicklungskosten verschlungen haben soll.

Mai 2006: Infor schluckt SSA Global für rund 1,5 Milliarden Dollar. Die ERP-LN-Kunden befürchten, dass die gerade in Gang gekommene Weiterentwicklung der Software ins Stocken geraten könnte, und drohen, zur Konkurrenz abzuwandern.

September 2006: SAP erweitert sein Safe-Passage-Programm auf Baan-Software. Anwendern werden bei einem Wechsel auf SAP-Produkte die Baan-Lizenzgebühren angerechnet.

Januar 2007: Infor integriert mit dem FP 3 Funktionen für Fertigungs- und Distributionsprozesse in ERP LN.

April 2008: Infor kippt Feature Pack 4 (FP 4) und kündigt für Ende 2008 FP 5 für ERP LN an. Die Anwender, die zu 90 Prozent noch das Alt-Release Baan IV einsetzen, kritisieren, dass der Hersteller den Nutzen eines Umstiegs auf das aktuelle Release nicht deutlich machen kann.