B-to-C: Totgesagte leben länger

08.07.2002
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Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Ungeachtet aller düsteren Prognosen bahnt sich auf lange Sicht ein Revival des B-to-C-Business an. Am meisten davon profitieren die Brick-and-Mortal-Unternehmen wie Karstadt-Quelle oder Tschibo. Aber es gibt auch Überlebende des geplatzten Dotcom-Traums, die sich im Online-Geschäft mit dem Endkunden auf die Gewinnerseite schlagen konnten.

Amazon.com-Chef Jeffrey Bezos strafte Anfang des Jahres mit seinem unerwarteten Schlussquartalsgewinn die hinlängliche Meinung Lüge, dass mit E-Business - und insbesondere B-to-C-Commerce - kein Pfifferling zu verdienen sei. Zwar musste der Online-Buchhändler bereits im darauffolgenden Vierteljahr seinen Ausflug in die schwarzen Zahlen wieder beenden. Zum Jahresende will die Company jedoch einen - wenn auch kleinen - Gewinn ausweisen und wird sich auf Dauer in der profitablen Zone einnisten. Amazon.com ist kein Einzelfall: Eine Studie von Shop.org ergab, dass vergangenes Jahr in den USA 56 Prozent der befragten US-Einzelhändler im Internet Profite erwirtschafteten. Auch bei den Einnahmen brauchen sich die Online-Anbieter mit Wachstumsraten von 21 Prozent nicht zu verstecken, in diesem Jahr soll der Umsatz sogar um 41 Prozent auf 72,1 Milliarden Dollar steigen.

Für das vergleichsweise wesentlich kleinere Deutschland schätzen die Marktforscher von NFO Infratest, dass sich die Online-Einnahmen 2002 auf knapp 50 Milliarden Euro belaufen werden - 4,8 Prozent des weltweiten E-Commerce-Umsatzes. Der Großteil der Einnahmen wird sicher auf die Internet-Aktivitäten von Brick-and-Mortar-Unternehmen abfallen: Karstadt-Quelle etwa konnte im ersten Quartal diesen Jahres mit seinen Online-Einkaufsportalen bereits 261 Millionen Euro Umsatz erwirtschaften, bis Ende 2002 hofft der Konzern auf Einnahmen von insgesamt 1,2 Milliarden Euro. Neben den großen Kauf -und Versandhäusern kann aber auch der kleine Einzelhändler um die Ecke auf ein Zubrot hoffen. Das Erfolgsrezept: Eine kleine Website mit überschaubarem Programmieraufwand und einfacher Handhabung, eventuell eine Schnittstelle zum ohnehin genutzten Warenwirtschaftssystem (sofern vorhanden). Die Online-Bestellungen werden bearbeitet, wenn es im Laden einmal etwas ruhiger zugeht.

Was aber ist mit den einstmals so zahlreichen Dotcoms passiert, die dieses Feld beackerten? Das Schicksal der meisten von ihnen lässt sich online bei Dotcom-Tod oder den "Famous Last Websites" des E-Startup.org-Projekts der European Business School (EBS) aus Oestrich-Winkel nachlesen. Aber es gibt auch Vertreter, die überlebten und mittlerweile - trotz aktueller Konjunkturflaute - sogar Gewinne ausweisen. Sie können unter anderem aus der Tatsache Kapital schlagen, dass sich das Angebot der Konkurrenz drastisch zurückgegangen ist.

Mit Breitreifen auf die Erfolgsstraße: Die beiden Delticom-Gründer und Firmenvorstände Andreas Prüfer und Rainer Binder.   Foto: Delticom

Ein Beispiel für diese These ist das Hannoveraner Startup Delticom: Die beiden Firmengründer Andreas Prüfer und Rainer Binder setzen der (Fehl)annahme, man könne keine Reifen über das Internet verkaufen, ihre eigene Erfolgsstory entgegen: 2001, im zweiten Jahr nach der Gründung verbuchte das Unternehmen einen Nettogewinn von 300.000 Euro bei Einnahmen in Höhe von 21,8 Millionen Euro. Allerdings setzt Delticom nicht ausschließlich auf den Verkauf via Internet, sondern verschickt als internationaler Großhändler Reifen in 55 Länder. Die Online-Aktivitäten machen aber mittlerweile rund ein Drittel des Geschäfts aus, im vergangenen Jahr setzte das Unternehmen im Bereich E-Commerce immerhin acht Millionen Euro um, drei Viertel davon im Endkundengeschäft. In diesem Jahr erwirtschafteten die Hannoveraner bis Anfang Mai bereits 4,4 Millionen Euro online - mehr als in den ersten drei Quartalen

2001 zusammen. Insgesamt peilt Delticom für das laufende Jahr einen Umsatz von 35 Millionen Euro an.

Das Startup setzt bei seinem Geschäftsmodell auf die Tatsache, dass die meisten Kunden beim Reifenkauf kein sinnliches Einkaufserlebnis erwarten, sondern sich pragmatisch auf die Suche nach Billigangeboten machen. So kann Delticom nach eigenen Angaben seine Pneus meist um ein Viertel billiger anbieten als ein normaler Händler - der Kombination von Groß- und Endkundengeschäft und den vergleichbar niedrigen Fixkosten sei Dank. Da mehr als 90 Prozent der Endkunden die Reifen anschließend nicht selbst aufziehen, arbeitet das im Juli 1999 gegründete Startup mit über 1600 Partnerwerkstätten in Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande, Schweden und Großbritannien zusammen. Gleichzeitig betreibt Delticom als weiteres Standbein eine B-to-B-Website für den Reifengroßhandel.

Als Dotcom in seiner reinsten Form mutet das Geschäftsmodell des Berliner Startups Questico an: Das im April 2000 gegründete Unternehmen vermittelt auf seiner Website Ratsuchenden Telefonate an entsprechende Experten und erhält dafür einen Anteil an den Gebühren. Die Spanne des Angebots reicht dabei von Tipps zur Abendgestaltung über Reinkarnationsanalyse bis hin zur Hilfe bei Windows-Problemen. Den zig Unternehmen zum Trotz, die mit Online-Angeboten dieses Karats scheiterten, will Questico im laufenden Quartal seinen Rentabilitätsbeweis antreten. Laut Prognose von Sylvius Bardt, Gründer und Vorstandsvorsitzender bei Questico, wird die Firma Ende September ihren ersten Quartalsprofit ausweisen - auf Ebitda-Basis allerdings, da das wachstumsorientierte Unternehmen die Gewinne gleich wieder investieren will. Für das Gesamtjahr plant das Berliner Expertennetzwerk, Einnahmen im zweistelligen Millionenbereich

auszuweisen. Der Umsatz soll sich damit gegenüber dem Vorjahr um den Faktor drei bis vier steigen. Auf Monatsbasis vermeldet Bardt derzeit Wachstumsraten von 20 bis 30 Prozent.

Das Questico-Team mit Firmengründer Sylvius Bardt (vorne).   Foto: Questico  

Bevor sich der Erfolg so deutlich abzeichnete, musste das Startup aber zunächst seine Lektionen nach dem Trial-and-Error-Prinzip lernen. Die Gehversuche wurden allerdings auf niedrigem Niveau betrieben, damit Fehler nicht so ins Geld gingen, erläutert der Questico-Chef. Zu den Irrtümern zählt etwa eine missglückte Expansion des Angebots nach England. Nach dem teuren Ausflug - ohne diesen hätte man laut Bardt wesentlich früher Erfolge geschrieben - konzentriert sich das Unternehmen nun wieder ausschließlich auf Deutschland. Eine weitere folgenschwere Kurskorrekturen war der Wechsel von der reinen Portalstrategie zu Partnerschaften. Als sich abzeichnete, dass sich die Bannerwerbung nicht rechnet, setzte Questico die obsolet gewordene Marketingabteilung vor die Tür. Insgesamt wurde seit Dezember 2000 die Belegschaft um etwa die Hälfte reduziert, obwohl gleichzeitig die Umsätze weiter anstiegen. Derzeit beschäftigt Questico noch 23 Mitarbeiter, weitere

45 Angestellte sitzen in den Callcentren.

Dass Questico auf der Teststrecke zum Erfolg nicht das Geld ausging, ist unter anderem auch der VC-Gesellschaft Wellington Partners zu verdanken. Der Risikokapitalgeber machte im September vergangenen Jahres weiteres Geld für eine zweite Finanzierungsrunde locker, nach dem bei der Gründung bereits 14 Millionen Mark in die Firma investiert worden waren. Außerdem profitierten die Berliner von dem Spätstartervorteil, der Möglichkeit aus den "wirklich großen" Fehlern der gescheiterten Dotcoms zu lernen, erklärt der Firmengründer. So wurden von Anfang an Old-Economy-Strukturen eingeführt, darauf geachtet, ständig die Kontrolle über Umsätze und Kosten zu besitzen. "Außerdem feierten wir stringent weniger Parties", erzählt Bardt.