Automatisieren ohne Prozessoptimierung

Automation First!

08.08.2018
Von 
Andreas Lüth ist Partner bei Information Services Group Germany (ISG) und leitet das Automationsgeschäft von ISG in Europa. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Strategie- und Transformationsprojekten in den Bereichen Shared Services, Robotic Process & Cognitive Automation sowie Outsourcing. Seit Ende der Neunziger Jahre hat er Branchenkenntnisse vor allem im Bankensektor der Energiewirtschaft, der IT und der Fertigungsindustrie erworben. Lüth ist Kenner der lateinamerikanischen Wirtschaft.
Wer sich aus den Zwängen des Business Process Reengineering befreit, baut seine digitale Belegschaft schneller auf.

Wir Deutschen neigen zur Gründlichkeit. Einen Geschäftsprozess zu automatisieren, ohne dessen Logik von Grund auf zu verbessern, kommt uns nur schwer in den Sinn. Doch immer häufiger ist genau das der Weg, um das Digitalisierungstempo des Wettbewerbs überhaupt noch mitgehen zu können. Getreu dem Motto: Erst automatisieren, dann transformieren.

Robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA) bietet Unternehmen die Option, einen bereits bestehenden Prozess so zu automatisieren, wie er ist.
Robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA) bietet Unternehmen die Option, einen bereits bestehenden Prozess so zu automatisieren, wie er ist.
Foto: NicoElNino - shutterstock.com

Hierzulande ist dies fast schon eine kleine Revolution. Steht ein solches Ad-hoc-Vorgehen doch weitgehend konträr zu unserer Gewohnheit, zunächst einmal eher auf alle Risiken zu schauen, um sie nach Möglichkeit vorab auszuräumen. Und so steht die Notwendigkeit eines Business Process Reengineering (BPR) vielerorts außer Frage. Ein reiches Maß an Negativerfahrungen hat diese Vorsicht über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte genährt. Vor allem die zeitlichen und monetären Zusatzkosten vergangener Software-Implementierungen und Systemintegrationen haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Verantwortlichen jede weitere Veränderung einer implementierten Prozesslösung mit großer Vorsicht betrachten.

Insbesondere die robotergesteuerten Prozessautomatisierung (RPA) bricht jedoch mit dieser Skepsis. Sie bietet Unternehmen eine ebenso praktikable wie kosteneffiziente Option, einen bereits bestehenden Prozess so zu automatisieren, wie er ist (As Is) - oder mit maximal kleinen Änderungen. Dank RPA stehen jetzt erstmals Technologien zur Verfügung, mit denen sich Geschäftsabläufe automatisieren lassen, ohne die Prozesslogik umstellen oder IT-Systeme anpassen zu müssen. Den Unterschied machen Software-Roboter, die aus einer rein virtuellen Ebene heraus Daten in die Benutzeroberflächen der am Prozess beteiligten Systeme eingeben. Somit eignet sich RPA vor allem für das Automatisieren transaktions­starker Abläufe, deren IT-Lösungen nicht ausreichend vernetzt sind. Ein Szenario, das an erstaunlich vielen Stellen unserer Wertschöpfung auch heute noch Gang und Gebe ist.

Somit kann nun eine Vielzahl von Aufgaben automatisiert und gewartet werden, ohne dass man die damit verbundenen Prozesse und Systeme antasten muss. Gerade auch aus Sicht des Business ergeben sich daraus ganz neue Optionen, um mit vergleichsweise einfachen Mitteln die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dies gilt gerade auch für den Fall, dass ein bestehender Prozess in Teilen unvollkommen ist. Denn all seinen Schwächen zum Trotz, trägt er berechenbar zur Wertschöpfung bei. Zudem hat er sich bereits als stabil erwiesen. Zwei zentrale Eigenschaften, die ein reengineerter Ablauf, so gut sein Design in der Modellierung dann auch erscheinen mag, im Tagesgeschäft dann erst noch unter Beweis zu stellen hat.

Die Unwägbarkeiten des Status quo

Um sich den möglichen Nutzen einer As-Is-Automatisierung klar zu machen, lohnt ein genauerer Blick auf das gewohnte Vorgehen. Denn Prozesse zu optimieren und die hierzu erforderlichen Änderungen in der Geschäftssoftware nachzuziehen, stellt sich in der Praxis fast immer als extrem aufwändiges Verfahren dar. Nicht eben selten begibt man sich dabei auf eine Reise mit unbestimmtem Ausgang. Insbesondere in Großunternehmen führt das Business Process Reengineering dann immer wieder zu Mehraufwänden, welche die anfängliche Begeisterung der Transformations-Teams recht bald in Stress und Frustration um­schlagen lässt. Dabei beschränken sich die Kostensteigerungen keineswegs nur auf die monetäre Ebene, sondern zeigen sich gerade auch in zeitlicher Hinsicht.

Und selbst, wenn alles nach Plan läuft, so addieren sich die Zeiten der unterschiedlichen Phasen eines BPR-Projekts recht schnell auf ein Jahr und mehr. Eine besonders hohe Klippe gilt es beispielsweise gleich zu Beginn zu nehmen, wenn es eine funktionierende Governance-Struktur aufzubauen gilt, die von sämtlichen Stakeholdern akzeptiert wird. In Abhängigkeit von der Unternehmensstruktur und der Tragweite des zu ändernden Prozesses erwächst daraus eine beliebig komplexe Aufgabe, die mindestens einen Monat, oft sogar noch einmal deutlich mehr Zeit erfordert.

Für die eigentliche Konzeptionsarbeit - das Modellieren, Abstimmen und Beschließen des neuen Prozesses - gehen locker zwei bis drei weitere Monate ins Land. Vor allem dann, wenn Prozessdifferenzierungen nach Marken, Länderregionen und Kundensegmenten gewünscht sind. Weitere ein bis zwei Monate gilt es für das Programmieren der Lösung zu veranschlagen. Und während das Pilotieren des neuen Prozesses pro Land und Business Unit gut einen Monat dauert, verschlingt der üblicherweise in Wellenbewegungen verlaufende Rollout weitere drei bis fünf Monate. Gerne auch mehr. Summa summarum führt die Kopplung von BPR und Automatisierung zu Projektzeiten von einem Jahr und länger. Und wie sich der neue Prozess dann am Ende des Tages schlagen wird, das steht, wie bereits gesagt, dann noch einmal auf einem ganz anderen Papier.