Transparente Reaktorsicherheit

Aus experimentellen Daten filmische Ergebnisse gewonnen

27.04.1990

"Was passiert, wenn ein Störfall eintritt?" Diese Frage kann kaum existentieller gestellt werden als gerade für den Komplex der Kernkraft-Reaktortechnik. Hier Antworten zu finden, liegt im Interesse der Allgemeinheit. Und diese Antworten verständlich und überzeugend zu präsentieren, ist eine beispielhafte Aufgabenstellung für die Datenvisualisierung.

Mannheim, im Sommer 1989. Auf dem Gelände des Großkraftwerkes am Rhein wird in einem mehr als 70 Meter langen, 30 Meter breiten und 30 Meter hohen Gebäude ein neuer Versuch vorbereitet. Im Mittelpunkt: das im Maßstab 1:1 nachgebaute komplette Primärsystem eines Druckwasserreaktors (DWR), das bis auf Reaktorkern, Dampferzeuger und Hauptkühl-Mittelpumpen ausschließlich aus Originalkomponenten besteht. Der Name dieser einmaligen Versuchsanlage: UPTF - Upper Plenum Test Facility.

Was hier in beeindruckender Größe und mit enormem technischem und finanziellem Aufwand betrieben wird, dient einem nüchternen Zweck. Es sollen in einer möglichst realistischen Versuchsanordnung Daten gewonnen werden zum Verständnis und zur Beschreibung der thermohydraulischen Phänomene im Primärsystem eines DWR während der Druckentlastung sowie der Wiederauffüll- und Flutphasen nach einem großen Kühlmittelverlust-Störfall. Konkret: An einer kritischen Stelle wird der Bruch einer Primärkreis-Leitung simuliert und dann das Verhalten der entstellenden Dampf-Wasser-Strömung während der Notkühlung beobachtet.

Das besondere Interesse der Mannheimer Forscher gilt dabei der Frage, wie schnell das eingespeiste Notkühlwasser eine wirksame Abkühlung des Kerns bewirkt. Dabei geht es insbesondere um die Quantifizierung von Behinderungen, die bei Gegenströmungen von Dampf und Wasser im Primärsystem auftreten können. Dazu gehört implizit auch das Problem des optimalen Einbringpfades: entweder durch heißseitige Notkühleinspeisung (das heißt über das obere Plenum des Reaktors in den Kernbereich, daher auch der Name des Experiments UPTF), durch kaltseitige Notkühleinspeisung (das heißt über den Ringraum und das untere Plenum in den Kern) oder durch eine Kombination beider Verfahren.

Das Problem: Transparenz für große Datenmengen

Diesen Fragestellungen und Dimensionen des Experiments entspricht die Komplexität der Versuchsinstrumentierung. Sie umfaßt insgesamt 1170 Analog- und 705 Digitalkanäle und hat die Aufgabe, die zweiphasigen thermohydraulischen Vorgänge in ihrer räumlichen Erstreckung zu messen. Erfaßt werden vor allem thermodynamische Zustandsgrößen, Massendurchsätze, Wasserverteilungen sowie Phasengeschwindigkeiten und dies insbesondere in den Versuchs-relevanten Bereichen, wie an der Grenze vom oberen Plenum zum Kern, im Ringraum und in den Leitungen des Primärkreises.

Gesammelt, verarbeitet und ausgewertet werden die experimentellen Daten dann auf zwei Rechnersystemen, einer DEC VAX 11/750 und einer HP A 600, die speziell für die Versuchs-Durchführung und Analyse zur Verfügung stehen. Trotzdem erfordert bei großen Experimenten allein die Berechnung und Korrektur der Meßwerte mindestens 24 Stunden Rechenzeit, weil schon nach zirka zehnminütiger Versuchslänge bis zu 65 MB Rohdaten anfallen.

Doch nicht nur die mathematisch-physikalische Auswertung der Versuche wird von diesem Mengengerüst hoch beansprucht. Für den Leiter des UPTF-Experimentes, Paul Weiß, steht vor allem die Frage der Datenvisualisierung im Vordergrund: "Diese Menge an Informationen transparent zu machen ist eines unserer Kernprobleme."

Eingebunden ist diese Aufgabe in zwei wesentliche Zielsetzungen. "Zum einen benötigen wir für die wissenschaftliche Auswertung eine Darstellung der Ergebnisse derart, daß das Verständnis des gesamten Vorganges unterstützt und erweitert wird", umreißt Weiß den grundlegenden Ansatz. "Zum anderen wollen wir auch einem nicht direkt involvierten Publikum Einblicke in die auf der Anlage ablaufenden Vorgänge geben, nicht zuletzt, um die öffentliche Diskussion zum Thema KKW-Sicherheit mit einem sachlichen Beitrag zu ergänzen."

Das bedeutet für die Praxis: Statt endloser Kolonnen abstrakter Zahlen und Stößen von jeweils mehr als 1000 Einzelkurven pro Versuch soll eine analoge, bildliche Darstellung das Notfallverhalten des Reaktors verständlich machen. Konkret muß überall dort, wo homogene Signale der gleichen Art in großer Zahl vorliegen, aus den punktuellen Informationen eine zusammengefaßte, flächige oder räumliche Gesamtinformation erstellt werden. Beispiel:

Als Datenvisualisierungs-Software setzen Weiß und sein Team Produkte der Düsseldorfer Uniras GmbH ein "Bei der Systemauswahl standen die verfügbare Hardware, die Kosten und die spezifische Aufgabenstellung im Vordergrund", erinnert sich der UPTF-Leiter an den Entscheidungsprozeß, der bereits zu einem Zeitpunkt stattfand, als die eigentliche Anlage noch nicht in Betrieb war. "Die anschließenden intensiven Tests wurden dann auf Basis eines mathematischen Modells bereits bekannter Versuchsabläufe durchgeführt. Nachdem die von der Uniras-Software gelieferten mit den von uns erwarteten Ergebnissen übereinstimmten, haben wir die Software gekauft."

Im einzelnen nutzt das UPTF-Team vor allem Fortran-Subroutinen aus der Uniras Fundamentel Graphics Library speziell zur Erzeugung von Oberflächen-Konturgrafiken und zur Interpolation irregulärer Daten. Diese Subroutinen sind eingebunden in ein leistungsfähiges Anwendungssystem, mit dessen Hilfe die UPTF-Mitarbeiter heute in kürzester Zeit aussagekräftige Schwarzweiß- und Farb-Grafiken einschließlich projizierter 3D-Säulen und Beschriftungen erstellen.

Allerdings hat sich inzwischen der Schwerpunkt der Präsentations-Aktivitäten von der herkömmlichen Grafik-Hardcopy auf ein faszinierendes neues Medium verlagert: den Videofilm. Und bei der UPTF ist auch dies wieder eine besonders beeindruckende Art Film. Keine Animation, kein künstliches Produkt, sondern eine in kontinuierlichen Sequenzen aufgebaute Darstellung von Vorgängen auf Basis der mit Uniras erstellten Bilder.

"Wir wollten auch aus der Erfahrung früherer Projekte heraus Fakten möglichst unmittelbar sichtbar machen, ohne auf Disney-Verfahren zurückgreifen zu müssen", unterstreicht dies Weiß.

"Ein Film, der seine Sequenzen direkt aus Bildern gewinnt, die selbst ohne menschliche Manipulation die Ergebnisse experimenteller Daten darstellen, liefert in diesem Sinne sicherlich die besten Argumente."

Die UPTF-Mitarbeiter haben diese Dynamisierung und MobiIisierung der Darstellung im Film größtenteils mit eigenen Mitteln zustandegebracht. Dazu gehört beispielsweise eine interaktive Software, mit der einzelne Uniras-Bilder ausgewählt, gedreht und vergrößert werden können. Außerdem stehen Lösungen für Slow-Motion oder Zeitraffer zur Verfügung, um einzelne Effekte zu betonen. Zudem schrieb man einen Dialoggenerator, der über vorgegebene Parameter die gesamte Interaktion simuliert und die Umsetzung der Rasterdaten in den Sony-U-Matic-Videorecorder automatisiert. Das gesamte Verfahren kann dadurch als Batch-Prozeß zum Beispiel am Wochenende abgearbeitet werden, mit dem Ergebnis, daß anschließend eine komplette Filmsequenz mit bis zu 2500 Bildern automatisch produziert vorliegt.

Lohnt sich dieser Aufwand? Wer die filmischen Ergebnisse gesehen hat, kann kaum daran Zweifel hegen. Selbst der Laie gewinnt hier einen Einblick in Vorgänge, die bisher aufgrund ihrer Komplexität verborgen blieben. Da wird auf einmal deutlich, wie sich nach einer Kaltwasser-Einspeisung plötzlich Wasserpfropfen bilden, die sich durch Gegenströmungen und andere Rückwirkungen hin und her bewegen, bis Wasser periodisch in den Ringraum eingebracht wird und sich schließlich größere Durchbruchzonen entwickeln. Das Ergebnis von Millionen Meßdaten, reduziert auf wenige Minuten Film.

All dies dient, daran sei noch einmal erinnert, der Darstellung von Ergebnissen aus einem Experiment zum Reaktorverhalten bei gewissen Störfallsituationen. Weil hier die Versuche inzwischen vor ihrem Abschluß stehen und die Resultate von grundsätzlichem Interesse sind, faßt der UPTF-Leiter Weiß abschließend die wichtigsten Punkte zusammen: "Die Versuchsergebnisse lassen deutlich die Wirksamkeit aller drei bei der UPTF-Anlage eingesetzten Notkühlverfahren erkennen. Die Wassereinspeisung erfolgt sogar wesentlich früher und intensiver, als anhand von Simulationsprogrammen vorausgesagt worden ist, die bisher zur Grundlage von Genehmigungsverfahren für Reaktoren dienten. Wir können damit als wesentliche Resultate feststellen: Erstens ist das Wissen über die tatsächlichen Abläufe in Notkühlsituationen durch UPTF wesentlich größer geworden. Zweitens tragen die bei UPTF gewonnenen Ergebnisse entscheidend dazu bei, die Rechenprogramme zur vorausschauenden Beschreibung der Vorgänge im Reaktor zu verbessern. Damit kann aus unserer Sicht schon jetzt das UPTF-Experiment als erfolgreich bezeichnet werden.