Collaboration/SCM/Der Zug rollt an, jetzt müssen die Weichen gestellt werden

Auf RFID ist die IT schlecht vorbereitet

06.02.2004
Funketiketten ermöglichen die elektronische Identifikation von Waren und Gütern. Bisher überwiegen firmeninterne Insellösungen. Mehr Nutzen entsteht beim firmenübergreifenden Einsatz, aber dafür sind viele Voraussetzungen erst noch zu schaffen - ganz besonders in der IT-Architektur.Von Dieter Sinn*

Skipässe oder die Armbänder in Badezentren sind länger bekannte Beispiele dafür, wie sich Identifikationsnummern aus kleinen, oft batterielosen Chips über Funk auslesen lassen. Die Technik der Radio Frequency Identification (RFID) ist also keineswegs neu. Auch in der Tieridentifikation finden die RFID-Chips bereits Einsatz; in Glasröhrchen eingebaut, werden sie an die Ohren geklipst. Oder sie landen - in große, schwere Porzellanteile eingegossen - im Pansen von Kühen und Ochsen, wo sie ein Rinderleben lang bleiben.

Neue Einsatzfelder kommen hinzu: Büchereien kleben die Smart Tags in die zum Verleih stehenden Medien. Das ist kein Problem, denn ein solcher Chip besteht aus einem nur sandkorngroßen Halbleiterschaltkreis, der in eine flexible Folie eingebettet ist, auf die wiederum die Antenne aufgedruckt wird. Beim Ausleihen beispielsweise sendet dann eine Antenne am Ausgabeschalter Befehle an den Chip. Dieser "antwortet", indem er das Sendefeld im Bit-Takt belastet. Diese Feldschwankungen stellen das Lesesignal dar. Ihre Energie beziehen die Chips ebenfalls aus dem Sendefeld. Daher liegt die Lesedistanz meist in der Größenordnung eines Meters. Bücher mit Smart Tags können auch im Self-Service zurückgegeben werden - über eine Klappe, die einem Flaschenrückgabeautomaten ähnlich sieht. Zudem lässt sich das Sortieren der Bücher elektronisch unterstützen, und über Antennen am Ausgang ist eine Diebstahlsicherung möglich.

Dass Handelsketten vorhaben, die Chips bald intensiv zu nutzen, überrascht nicht, denn für ihre Logistik birgt die RFID-Technik weitere Vorteile. Bei der Anlieferung größerer Gütermengen gestaltet sich eine Eingangskontrolle bisher meist aufwändig. Ein Barcode-Aufdruck kann zwar mit einem Lesegerät erkannt werden, dabei ist aber oft Handarbeit nötig. Wenn die Waren in größeren Gebinden stecken, beispielsweise in einem Transportcontainer, lohnt die erforderliche Zerlegung der Ladung häufig nicht; Differenzen zwischen der Soll-Lieferung und dem Ist-Status werden hingenommen. Sind die Waren aber jeweils mit einem Chip ausgestattet, wird die ganze Ladung in einer "Pulk-Erfassung" berührungslos ausgelesen, sobald der Container ein Antennenportal passiert. Diese Pulk-Erfassung ist allerdings heute noch ein Schwachpunkt der Technik, oft werden nicht alle Chips erkannt.

Jede Dose hat eine Seriennummer

Der bislang übliche Barcode wird "nur" verwendet, um die Produktbezeichnung und den Hersteller zu codieren. Smart Chips hingegen transportieren mit einer 96 Bit langen Ident-Nummer nicht nur Hersteller- und Produktnamen, sondern auch die individuelle Seriennummer jedes Stücks. Folglich hat jede einzelne Dose Fleischsalat eine eigene Seriennummer. Auf diese Weise lässt sich die Herstellung rückverfolgen, wie es zunehmend durch gesetzliche Auflagen vorgeschrieben ist. Gleichzeitig wird der Dose ein Verfallsdatum und ein aktueller Lagerplatz zugeordnet. Der Supermarkt weiß jetzt: Achtung, wir haben noch Fleischsalat im Regal, der in wenigen Tagen das Verfallsdatum überschreitet. Darauf kann er mit einem Sonderpreis reagieren, oder er beschleunigt mit einer Umsortierung auf die Pole-Position im Regal den Abverkauf.

Smart Tags erleichtern die Echtzeiterfassung des tatsächlichen Warenbestandes in der ganzen Logistikkette, in allen Zwischenlagern, auf den Lkws und in den Verkaufsregalen. Die gefürchteten "Out-of-Stock"-Situationen sind damit leichter vermeidbar, gleichzeitig lässt sich der Gesamtbestand in der Kette weiter reduzieren. Den einzelnen Produkten kann mit der Seriennummer auch ein elektronischer "Laufzettel" mitgegeben werden - etwa in dieser Art: Das Gerät ist zur Zeit für diesen Ort vorgesehen. Dadurch werden Umladevorgänge nicht nur beschleunigt, sondern auch weniger personalintensiv und fehleranfälllig. Es handelt sich also um eine harte Rationalisierungstechnik.

Öffentlich bekannt geworden ist der "Future Store" der Metro-Handelskette. Er bildet das Pilotprojekt für Supermärkte, in denen langfristig auch die händische Barcode-Erfassung an der Kasse durch elektronische Einkaufswagen ersetzt werden soll: Antennen und Displays erfassen laufend den Warenbestand im Wagen und übermitteln ihn zuletzt an ein Zahlungssystem.

Vor dem breiten Einsatz liegt viel Arbeit

Bevor die neue Technik in der Breite nutzbar ist, sind aber noch viele Aufgaben zu lösen. Eine davon ist der Datenschutz. Es besteht nämlich die Gefahr, dass den Käufern noch leichtfertiger als bisher Profile zuordnet werden. Denkbar wäre ja auch, dass eine Leseantenne beim Betreten des Restaurants ermittelt, ob der Gast ein billiges T-Shirt oder eine teure Designermarke trägt, woraufhin er entweder hofiert wird oder am Katzentisch landet - oder sogar abgewiesen wird.

Eine weitere Determinante für die Verbreitung der Technik ist der Preis der Smart Tags. Für das Beispiel mit dem Fleischsalat sind die Chips mit derzeit etwa 50 Cent pro Stück noch zu teuer. Aber ein weiterer Preisverfall ist mit dem Masseneinsatz programmiert. Zusätzlich muss in die Infrastruktur investiert werden, dazu zählen Antennenschleusen und Lesegeräte. Bei den Chips sorgen inzwischen Normen wie ISO 15693 für mehr Standardisierung der Steuer- und Lesebefehle. Dies ist ein wichtiger Fortschritt, dennoch bleiben im Hinblick auf Frequenzen und Chiptypen immer noch Inkompatibilitäten und Unsicherheiten für die künftige Entwicklung, gerade beim firmenübergreifenden Einsatz.

Eine andere Situation als beim Barcode

Vor allem aber sind die IT-Systeme bisher kaum oder gar nicht auf die RFID-Technik vorbereitet. Lediglich einige Softwarehäuser, die an Pilotprojekten teilnehmen, haben den Einstieg gewagt.

Beim Barcode genügt es, in einer Datei zu übermitteln, welcher Code welchem Produkt entspricht. Der Händler fügt dann in seinem Verkaufssystem Preise und Bestände hinzu. Bei RFID ändert sich die Situation gravierend: Hier muss bereits der Hersteller jedem individuellen Artikel eine Seriennummer geben. An diese Nummer können viele Merkmale geknüpft sein: Chargeninformationen, Verfalls- oder Servicedaten, integrierte Softwarestände oder Bauteile etc.

Über Firmengrenzen hinweg zugänglich

Nachdem die Güter die Produktion verlassen haben, muss dieser Seriennummer laufend der aktuelle Lagerort zugeordnet werden - und zwar für alle Partner in der Lieferkette zugänglich. Nur so sind Verfügbarkeiten am Point-of-Sales vorherbestimmbar und elektronisch unterstützte Warenumleitungen möglich. Auf dem Chip selbst ist meist nur die 96 Bit lange Ident-Nummer gespeichert, alle weiteren Informationen werden parallel dazu in den IT-Systemen gehalten. Die Beschränkung auf geringe Bit-Zahlen ist nötig, um das Auslesen eines ganzen Transportcontainers mit vielen Chips im Pulk innerhalb von Sekunden technisch überhaupt möglich zu machen.

Eine Herausforderung ist der Transport der Daten über die Firmengrenzen hinweg. Die schiere Menge und die Änderungshäufigkeit der Informationen spricht dagegen, jedes Mal, wenn sich der Lagerort ändert, den ganzen Datensatz an den Geschäftspartner zu übertragen. Doch weil dies beim Barcode sinnvoll und machbar war, beruht die Grundarchitektur so mancher Software in Handel und Logistik genau auf diesem Mechanismus.

Wesentlich besser passen würde ein zentrales Datenhaltungsmodell, ähnlich dem eines Marktplatzes: An einer Stelle im Internet liegen alle Daten, der Zugriff ist über Rechte und Rollen geschützt. So können die Logistikpartner den Lagerort abrufen und ändern, aber nicht alle Daten zur Herstellung sehen; der Händler hingegen bekäme nur Informationen zur Verfügbarkeit seiner Produkte. Allerdings würde ein solches zentrales Modell einen Träger benötigen - und damit gäbe es sicher Vorbehalte im Hinblick auf den Besitz der Daten. Ein realistisches Modell für die gemeinsame Datenhaltung ist deshalb die vom Internet her bekannte Verlinkung, bei der jeder Beteiligte seine Daten in seinem System hält, wo jedoch wechselweise autorisierte Zugriffe der Partner möglich sind.

Natürlich müssen dafür Schnittstellen und Datenformate vereinbart werden. In dieser Hinsicht haben die USA mit Normungsinitiativen und Grundlagenentwicklungen eine Vorreiterrolle eingenommen. Das früher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) angesiedelte Auto-ID Center, das inzwischen in EPC-Global überführt wurde, hat Grundelemente für eine mögliche Normierung definiert, unter anderen den Entwurf eines Electronic Product Code (EPC), einen Object Name Service (ONS) und den Vorschlag für eine Physical Markup Language (PML), also eine XML-basierende Struktur für die gemeinsame Ablage der Daten rund um eine physikalische Ware.

Ebenfalls aus den USA erreichte uns die Meldung, dass die Handelskette Wal-Mart ihre Lieferanten bis 2006 umfassend auf die Nutzung der RFID-Technik verpflichten will. Amerikanische Firmen dürften daher maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung der IT-Systeme und die Normierung nehmen.

Dies wirft die Frage auf, ob sich in Deutschland eigentlich die IT-Anbieter, Verbände und Organisationen ausreichend mit der Thematik beschäftigen. RFID wird in der Öffentlichkeit häufig als Risiko für den Datenschutz diskutiert, die Wirtschaftspotenziale werden hingegen zu wenig durchleuchtet. Der Datenschutz und die Wahrung von Konsumenteninteressen sind selbstverständlich zu regeln. Notwendig wäre aber auch mehr Kooperation der IT-Hersteller, um unterschiedliche Systeme aufeinander abzustimmen.

Innerhalb der Anwenderunternehmen heißt es, Produktions-, Logistik- und Vertriebssysteme miteinander verbinden sowie firmenübergreifend Standards und Schnittstellen entwickeln. Die Zusammenarbeit in der Wertschöpfungskette muss noch enger werden. Gemeinsam mit ihren Zulieferern oder Abnehmern sollten die Firmen evaluieren, wo RFID eingesetzt werden könnte und welche Vereinbarungen dazu nötig sind. Oft geht es nicht ohne einen Interessenausgleich. Beispielsweise entstehen beim Hersteller Kosten für die Integration der Chips in die Produkte, die in der Supply Chain nachfolgende Firma hingegen hat nur Vorteile, weil sich dort die Eingangsprüfung verbessert oder verbilligt.

Interne Insellösungen reichen nicht

Last, but not least hat das Thema auch eine gesellschaftliche Dimension. Schließlich wird mit RFID menschliche Arbeitskraft durch Kapital und Technik ersetzt. Also droht ein Arbeitsplatzschwund in Handel und Logistik. Um so wichtiger ist es daher, die durch RFID entstehenden Wirtschafts- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der heimischen IT-Branche zu forcieren. Das geht nur, indem die Systemlösungen hierzulande mitentwickelt und vertrieben werden.

Es ist ein erster Schritt, die heutige Einsatzreife der RFID-Technik in firmeninternen Insellösungen zu erkunden. Das genügt aber nicht. Bei Produktherstellern, im Handel und in der Logistik fehlen bislang Analysen zu den Einsatzfeldern der RFID-Technik in fünf oder mehr Jahren sowie Überlegungen dazu, wie dann die Prozesse und Systeme aussehen werden. Die Unternehmen sollten sich die Frage stellen, ob sie selbst eine Systemführerschaft anstreben oder ob sie sich eher an den Logistiksystemen von Geschäftspartnern oder dominanten Wettbewerbern orientieren wollen. Ausgehend von solchen Überlegungen muss das Business-Management die Optimierung der internen Abläufe und die firmenübergreifenden Collaboration-Prozesse planen.

Systementscheidungen in der IT haben zu berücksichtigen, dass sich die Software in den nächsten Jahren weiter entwickeln wird. Sie muss noch mehr interne und externe Schnittstellen sowie umfangreichere Datenmodelle aufweisen. Jetzt werden die Weichen gestellt zwischen zwei Fahrtzielen: Abhängigkeiten oder Fehlinvestitionen einerseits und Systemführerschaft beziehungsweise Wettbewerbsvorteile andererseits. (qua)

*Dieter Sinn ist Unternehmensberater in München.