Die neuesten Speicher-Chips fassen über eine halbe Million Zeichen

Auf elektronische Winzlinge paßt der Inhalt ganzer Bücher

30.03.1990

Die ersten Speicher-Chips, die vor ungefähr 30 Jahren auftauchten, galten als technische Sensation: Die Bauelemente aus Silizium speicherten Informationen auf kleinerem Raum als je zuvor. Ständige Verbesserungen vergrößerten dauernd die Kapazität. Heute werden serienmäßig Chips produziert, die mehr als eine halbe Million Zeichen aufbewahren können. Und die Entwicklung geht scheinbar unaufhaltsam weiter-wie lange wohl noch ?

Das Ding ist kleiner als ein Fingernagel, heißt 4-Mbit-Chip und ist das Paradestück einer bislang nicht abreißenden Kette technologischer Innovationen. Der Schlüssel dazu heißt Miniaturisierung-extreme Miniaturisierung.

Ein Beispiel zeigt, was man sich darunter vorzustellen hat: Nehmen wir ein Blatt, das mit 26 Zeilen a 65 Anschläge vollgetippt ist, das sind rund 1700 Zeichen. Dieser Text würde auch auf ein kreisrundes Stück Papier von 20 Zentimetern Durchmesser passen.

Von 20-Zentimeter-Scheiben soll nun die Rede sein - allerdings nicht von papierenen, sondern von solchen aus Silizium. Sie sind gleichzeitig Produktionsplattform und Grundmaterial für die neuen 4-Mbit-Chips, die seit letztem Herbst im IBM-Werk Sindelfingen in Serie produziert werden. Auf einem solchen Wafer -so der Fachausdruck für die millimeterdünne Siliziumscheibe-haben über 200 Chips Platz.

Wie die Bezeichnung "4-Mbit" andeutet, kann jedes Bauelement vier Millionen Bit speichern. Ein Bit ist die kleinste Informationseinheit; sie kann die Werte "Ja" oder "Nein", beziehungsweise "1" oder "0", annehmen. Um einen Buchstaben, eine Zahl oder ein Satzzeichen festzulegen, braucht man acht Bit.

Auf einem einzigen Chip haben also eine halbe Million Zeichen Platz (8 mal 500 000 =

4 000 000). Das sind beinahe 300 Seiten zu 1700 Zeichen. Die ganze Siliziumscheibe mit ihren 200 Chips faßt also rund 60 000mal soviel Text wie ein Blatt Papier gleicher Größe (300 mal 200 = 60 000)!

Daß man so viele Chips auf eine Scheibe packt, hat mit Miniaturisierung allerdings nur wenig zu tun. Dahinter stecken vielmehr ökonomische Gründe: Die Fabrikation eines 4-Mbit-Chips benötigt rund 500 Arbeitsschritte und dauert insgesamt mehr als zwei Monate. Je mehr Chips auf einem Wafer Platz haben, desto rascher und kostengünstiger lassen sich also große Stückzahlen herstellen. 12,5 Zentimetern Durchmesser üblich.

Wenn man einen einzelnen 6,6 mal 13,1 Millimeter kleinen Mit den 20-Zentimeter Wafern hat IBM Neuland betreten-vorher waren Siliziumscheiben mit einer Fläche von höchstens Baustein mit bloßem Auge anschaut, kann man höchstens erahnen, was dahintersteckt. Kaum zu glauben, daß er über vier Millionen Speicherzellen enthält!

Die Zellen sind winzig klein: allein auf der Fläche eines mit Schreibmaschine getippten Punktes hätten Zigtausende Buchstaben Platz. Daß so etwas technisch überhaupt möglich ist, verblüfft.

Noch erstaunlicher ist, daß man solche Wunderwerke der Miniaturisierung in Serie fabrizieren kann. Aber es geht- dank der gewaltigen Fortschritte, die bei der Halbleiterfertigung erzielt wurden.

Begonnen hat das alles mit der Erfindung der integrierten Schaltung im Jahre 1958. Damals kam ein Amerikaner namens Jack Kilby auf die glänzende Idee, verschiedene elektronische Bauteile auf einem einzigen Halbleiterplättchen unterzubringen und direkt zu verbinden - also zu integrieren. 1961 stellte das kalifornische Unternehmen Fairchild den ersten Elektro-Chip mit vier Transistoren und zwei Widerständen vor. Von da an ging es zügig vorwärts: 1964 gelang die Integration von 16 Transistoren, zwei Jahre darauf waren es bereits mehrere Dutzend.

Entwicklung reicht bis in die neunziger Jahre

Die Anzahl Transistoren, die man auf einem Chip integrieren kann, hat sich bisher jedes Jahr verdoppelt, und alles spricht dafür, daß die von weitsichtigen Fachleuten bereits 1964 vorhergesagte Entwicklung zumindest bis Mitte der neunziger Jahre anhalten wird:

Die ersten Chips, die IBM 1968 in Sindelfingen produzierte, hatten eine Speicherkapazität von 64 Bit, auf die man recht stolz war. Doch das ist längst Schnee von gestern: Ein 4-Mbit-Chip faßt auf der gleichen Fläche 65 000 mal soviel Information. Markante Zwischenstationen der rasanten Entwicklung waren der 2-Kbit-Chip (1972), die Produktion von Bausteinen mit 64 beziehungsweise 288 Kbit Speicherkapazität (1978 beziehungsweise 1983) sowie die Massenfertigung des 1-Mbit-Chips (1986).

Dabei wurden nicht nur die Leiterbahnen immer enger aneinandergelegt, sondern auch die Technologie gewechselt. Der neue 4-Mbit-Chip von IBM zum Beispiel beruht auf der sogenannten CMOS-Technologie (Complimentary Metal Oxide Semiconductor). Sie braucht weniger Strom - und produziert damit auch weniger Abwärme - als die NMOS-Technologie, die beim l-Mbit-Chip zur Anwendung kam.

Der l-Mbit-Chip mißt 7,7 mal 10,5 Millimeter und integriert auf jedem Quadratmillimeter rund 13 000 Speicherzellen; der 4-Mbit-Chip ist mit seiner Größe von 6,6 mal 13,1 Millimetern keine zehn Prozent größer, enthält aber viermal so viele Speicherzellen. Möglich war das, weil die Konstrukteure in die dritte Dimension auswichen: Die einzelnen Transistoren einer Speicherzelle werden durch sogenannte Graben-Kondensatoren abgetrennt, die zwar sieben Tausendstelmillimeter tief, aber nur 0,7 Tausendstelmillimeter breit sind. Das spart sehr viel Platz in der Schichtebene. Die erfolgreiche Herstellung solcher Strukturen verlangt allerdings eine bisher nicht gekannte Präzision: An bestimmten Stellen muß eine nur zehn Millionstelmillimeter dünne, homogene Isolierschicht angebracht werden.

Ein Meisterstück ist die Verdrahtung von mehreren Millionen Bauelementen auf dem Chip. Man stelle sich vor: Um sie zu verbinden, braucht es Leitungen mit einer Gesamtlänge von fast 20 Metern. Und dies alles muß auf einer Fläche Platz haben, die so klein ist wie ein halber Fingernagel! Wie die Ingenieure diese schwierige Aufgabe lösten, ist eine Geschichte für sich - jedenfalls mußten sie dafür neuartige Metallschichtstrukturen und verbesserte Isolationsmethoden entwickeln.

Luft, reiner als im Hochgebirge

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Moderne Chips sind mikroelektronische Wunderwerke. Es ist auch sehr heikel sie herzustellen, denn kleinste Verunreinigungen können einen Chip ruinieren. Der Grund dafür ist einfach: Wenn ein menschliches Haar 100mal breiter ist als eine Leiterbahn und Isolierschichten nur wenige Atomlagen dick sind, legt jedes Schmutzteilchen mit großer

Wahrscheinlichkeit die ganze Schaltung lahm. Chips werden deshalb in sogenannten Reinsträumen produziert, deren Luft so gefiltert wird, daß sie praktisch keine Staubteilchen mehr aufweist. Die wenigen Fremdpartikel, die durch alle Maschen schlüpfen, sind, bildlich gesprochen, kleiner als eine Erbse in einem Fußballstadion. Das Resultat: In der Sindelfinger Chip-Schmiede ist die Luft 100 000 mal reiner als im Hochgebirge.

Verschmutzte Luft ist aber nicht der einzige Störfaktor bei der Fabrikation von Computer-Chips. Auch Anlagen und Geräte sowie die eingesetzten Materialien sind potentielle Partikelerzeuger. Vor allem aber stört der Mensch die heiklen Betriebsabläufe im Chip-Fabrikationsraum. Am liebsten würden

die Hersteller deshalb alles automatisieren; bisher ist das allerdings noch nicht gelungen. So müssen denn die wenigen unentbehrlichen Mitarbeiter in Reinraumkleider schlüpfen, die jenen von Chirurgen ähneln. Die Anforderungen in modernen Chip-Werken sind allerdings hundertmal strenger als in einem Operationssaal.

Fertigungsanlagen verschlingen Unsummen

Wer im Rennen um die besten Speicher-Chips an der Spitze mithalten will, muß zu riesigen Investitionen bereit sein: Die 4-Mbit-Linie in Sindelfingen kostete rund eine halbe Milliarde Mark. Der größte Teil davon-400 Millionen Mark -wurde für die neuen Fertigungsanlagen ausgegeben. Die Gebäudeeinrichtungen schlagen mit 100 Millionen zu Buche-40 Millionen davon wurden allein in die Reinräume investiert.

Wer solche Zahlen liest, fragt sich unweigerlich, wozu denn eigentlich so gigantische Anstrengungen unternommen werden. Sind Computer, die mit 4-Mbit-Chips bestückt sind, besser als die bisherigen Geräte? Die Antwort lautet "Jein". Denn einerseits hat die Kapazität einzelner Speicher Chips keinen Einfluß auf die Resultate, die der Rechner liefert. Andererseits sind die neuen Bauteile schneller, brauchen weniger Strom und vor allem weniger Platz.

Versuchsfelder für logische Schaltkreise

Die Hersteller haben noch einen weiteren Grund, immer mehr Bits auf einen Chip zu packen: Die Speicher-Chips mit ihrer relativ einfachen Struktur sind eine Art Versuchsfeld für die Entwicklung von komplizierten logischen Schaltkreisen. Die so gewonnenen Erfahrungen sind vor allem für die Konstrukteure von Mikroprozessoren und anwendungsspezifischen Schaltkreisen sehr wertvoll.

Der 256-Mbit-Chip ist heute noch Zukunftsmusik

Wo führt diese Entwicklung letztlich hin? Wird man in zehn oder 15 Jahren eine ganze Bibliothek auf der Fläche einer Münze unterbringen? Wenn die Chip-Hersteller ihre ehrgeizigen Ziele erreichen, wird das tatsächlich der Fall sein. "Zur Zeit arbeiten unsere Fachleute an einem 16-Mbit-Chip", verriet IBM bereits vor zwei Jahren auf ganzseitigen Anzeigen in deutschen Tageszeitungen. Und weiter: "Als nächstes werden wir uns über einen 64-Mbit-Chip die Köpfe zerbrechen. Zukunftsmusik ist allerdings noch der 256 Mbit-Chip. In dieser Dimension sind die einzelnen Leiterbahnen nur noch wenige hundert Atome breit. Man kann sich leicht vorstellen, daß da noch einige Grundlagenforschung vonnöten ist. " Daran wird wohl kaum jemand zweifeln.