Expertensysteme auf dem Weg in die betriebliche Praxis:

Auf die Euphoriephase folgt unweigerlich Frust

13.06.1986

Expertensysteme sind zum großen Schlagwort in der DV-lndustrie geworden. Trotzdem gibt es immer noch weit weniger im praktischen Einsatz laufende Produkte als allgemein vermutet. Nach dem Abebben der anfänglichen Euphorie wird auch der Kl-Sektor nicht von Frustrationen verschont bleiben. So das Ergebnis einer Untersuchung, die ein Forschungsteam der Universität Erlangen-Nürnberg jetzt unter Leitung von Professor Dr. Peter Mertens durchführte. Hier das Ergebnis der Bestandsaufnahme.

Die Untersuchung zielte darauf, herauszufinden welchen Weg die Idee der Expertensysteme von der Wissenschaft in die Praxis nimmt. Insgesamt wurden 274 Vorschläge, Pilotprojekte oder Machbarkeitsstudien unter die Lupe genommen, davon 61 im deutschsprachigen Raum. Der Schwerpunkt liegt im Bereich Forschung / Entwicklung / Produktgestaltung, es folgen der Fertigungssektor und der Vertrieb, dem die Autoren auch die Hardware- und Software-Konfigurationen zugeordnet haben, von denen es besonders viele gibt.

Unterscheidet man nach der Aufgabenklasse, so dominieren Systeme, die Diagnosen beziehungsweise Expertisen erstellen oder die die Rolle einer "intelligenten Checkliste" übernehmen. Es folgen Expertensysteme, die der Auswahl von Bauteilen, Arbeitsgängen sowie Strategien aus einer großen Zahl von Möglichkeiten dienen. Nur bescheidene Bedeutung haben bisher Zugangssysteme, bei denen Expertensysteme weniger Geübten die Bedeutung anderer Dialogsysteme erleichtern: die Systeme zur "aktiven Hilfe" als Fortentwicklung der klassischen HelpFunktionen in Dialogen sowie Expertensysteme beim computerunterstützten Unterricht.

So gut wie nicht vorhanden sind Integrationen verschiedener Expertensysteme. Eine große Ausnahme macht hier lediglich DEC in den USA mit den im eigenen Hause eingesetzten Werkzeugen zur Konfigurierung, Materialwirtschaft und zur Versanddisposition.

In den Betrieben des deutschsprachigen Raumes (Bundesrepublik, Österreich, Schweiz) wurden nur zehn "running systems" vorgefunden, die in der täglichen Praxis Disponenten oder Führungskräften helfen und von den Endbenutzern akzeptiert sind (siehe Kasten).

Neben den "running systems" gibt es eine Vielzahl interessanter Entwicklungen. Große Anstrengungen zur Entwicklung von Konfigurationen von Hardware und Software unternehmen viele DV-Hersteller.

Interessant erscheinen den Forschern Versuche von SCS und auch in der Kraftwerk-Union (KWU), Expertensysteme heranzuziehen, um aus umfangreichen und verstreut niedergelegten Gesetzen, Vorschriften und Normen diejenigen herauszufiltern, die für ein akutelles Projekt oder eine Behörde zu beachten sind. Solche Systeme können dazu beitragen, das Dilemma abzumildern, daß einerseits immer mehr Verrechtlichung und Bürokratie zu einer Vorschriftenflut führt, andererseits aber wegen der vielen Vorschriften kaum noch jemand den Überblick hat und gerade dadurch Rechtsunsicherheit und Fehler drohen.

Umdisposition erfolgt mit Tagesgenauigkeit

Vielversprechend befand das Team auch ein Esprit-Projekt im Hamburger Philips- Forschungslaboratorium: Ein Expertensystem soll zwischen ein im Batch laufendes PPS- System, das mit Wochengenauigkeit arbeitet und ein Real-time-Leitsystem geschaltet werden. Meldet das Leitsystem Veränderungen, die dazu führen, daß der Wochenproduktionsplan nicht realisiert werden kann, so läßt sich das PPS-System nicht neu starten, weil es stundenlang rechnen würde. Das Expertensystem könnte dann "in die Bresche springen" und mit Tagesgenauigkeit umdisponieren.

Im eigenen Institut arbeitet die Erlanger unter anderem an Expertensystemen zur automatischen Eingangspostbearbeitung, zur Schwachstellendiagnose in mittelständischen Betrieben und speziell in Produktion und Materialwirtschaft und neuerdings am "Staknetex", einem System, das nach einer Beschreibung der Situation und Wünsche eines Unternehmers Hinweise geben soll, welche staatlichen Subventionsprogramme in Frage kommen.

Als für Expertensysteme typische Nutzeffekte kristallisierte sich im Verlauf der Untersuchung heraus:

- Bei der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine in Dialogen wird die "Front" ein Stück in Richtung auf die Maschine verschoben, weil ein Teil der schlecht strukturierten Tätigkeiten automatisiert werden kann. So kommen beispielsweise DV-Hersteller mit weniger Konfigurationspersonal aus.

- Steigerung der Unabhängigkeit von Mitarbeitern, zum Beispiel, weil nicht mehr nur ein Instandhaltungsfachmann mit überragendem Wissen da ist, sondern weniger spezialisierte Kräfte mit Unterstützung eines Expertensystems ähnliches leisten können.

- Individualisierung: Mit gleichem Aufwand wie vorher kann eine Organisation auf die speziellen Bedingungen ihrer Partner eingehen. Beispielsweise wird eine Versicherung Baufinanzierungsangebote unterbreiten, die Lebensversicherungsverträge so einbinden, daß optimale Steuerersparnisse herauskommen, Industriebetriebe werden für den Abnehmer besonders günstige Konstruktionsvarianten herausfinden.

Gemessen an dem Wirbel, der um Expertensysteme gemacht wird, erscheint die Zahl von nur zehn Systemen, die als laufend vorgefunden wurden, enttäuschend, zumal es sich nicht ausschließen läßt, daß das eine oder andere dieser Systeme bald wieder abgeschaltet werden könnte. Viele informationstechnische Entwicklungen (Informationssysteme, relationale Datenbanken, verteilte Datenverarbeitung, LANs, Planungssprachen) haben sich nach dem Muster der Abbildung 1 entwickelt. Im deutschsprachigen Raum befindet man sich etwa in der durch den Pfeil gekennzeichneten Phase. Wegen zu großer Versprechungen dürften in den nächsten Jahren Ernüchterungen nicht ausbleiben bis hin zu einem Punkt, wo derjenige als unseriös gelten könnte, der überhaupt von Expertensystemen spricht. Die Fachleute würden jedoch selbst dann "im stillen Kammerlein" weiterarbeiten und irgendwann in den 90er Jahren Systeme erreichen, die menschlichem Problemlösen ähnlicher sind als heutige DV-Verfahren.

Etablierte Lieferanten engagieren sich zu wenig

Eine bisher unterschätzte Akzeptanzbarriere liegt darin, daß die Hardware und Software zu den Expertensystemen von "Newcomern" und weniger von etablierten Lieferanten wie IBM oder Siemens angeboten wird. DV-Leiter sperrten sich dagegen, einen weiteren Maschinenlieferanten ins Haus zu nehmen oder eine neue Gruppe von Programmierern aufzubauen, die Prolog oder Lisp können.

Wiederholt wurde im Verlauf der Untersuchung auch die Sorge geäußert, daß man die Optimalität der Empfehlungen, die ein Expertensystem gibt, nicht nachweisen könne. Wenn ein solches Werkzeug im unmittelbaren Kundenkontakt benutzt wird, etwa bei der Vermögensanlagenberatung oder beim Ausdruck von Expertisen in Verbindung mit medizinischen Diagnosegeräten, könnten schwer kalkulierbare Haftungsfragen entstehen.

Schließlich gilt es auch, Elemente aus Expertensystemen mehr als bisher mit Bekanntem zu verbinden, so zum Beispiel mit vorhandenen PPS-Verfahren, Simulationen oder anderen Operations-Research-Methoden. Gerade die erfolgreichen Projekte enthalten Mischsysteme bis hin zu einem Ausmaß, daß sie von Puristen gar nicht mehr als Expertensysteme akzeptiert werden.

Im deutschsprachigen Raum eingesetzte Expertensysteme

1. "Cadbau" der Bocad GmbH in Bochum unterstützt Konstruktionsvorgänge im Stahlbau. Es handelt sich um eine Verbindung eines CAD-Systems mit der Expertensystemidee. Man unterscheidet zwischen einem Kern der klassische CAD-Methoden enthält und zirka 300 000 FortranStatements umfaßt, sowie einer Wissensbasis mit firmenspezifischem Wissen und Normen des anwendenden Unternehmens (Stahlbau. Ingenieurbüro). "Cadbau" verfügt über eine leistungsfähige Erklärungskomponente mit grafischen Elementen die es im anwendenden Bauunternehmen auch weniger spezialisierten Kräften erlaubt, das Konstruktionssystem zu nutzen.

2. "Gummex" generiert Arbeitspläne zur Produktion von Elastomer-Erzeugnissen (Gummimembranen). Das System läuft im Batch-Betrieb. Der Benutzer kann das Ergebnis akzeptieren; die Erklärungskomponente zeigt aber auch Schwachstellen auf die - wie bei vielen Expertensystemen üblich - durch mehr oder weniger systematische Lockerung von Nebenbedingungen beseitigt werden können. "Gummex" wurde vom Battelle-lnstitut in Frankfurt entwickelt und befindet sich in einer Art Probezeit beim Gummiwarenhersteller Freudenberg in Weinheim.

3. "Ikon" konfiguriert Hardware und Software des DV-Herstellers PCS. Es plaziert Steckkarten an die richtige Stelle rechnet die Länge der Kabel aus oder prüft die Stromversorgung. Dabei werden Prioritäten auf dem Bus berücksichtigt. Wenn die Hardware konfiguriert ist, überprüft das System, ob die Software, die der Kunde bestellt hat, von der Hardware unterstützt wird ob also zum Beispiel der Speicherplatz groß genug ist.

4. Der Rolladenexperte führt Verkaufssachbearbeiter der Rolladenfabrik Baumann AG in Wädenswil/Schweiz durch einen Dialog und generiert dabei eine Stückliste. Die Prozedur besteht sowohl aus Auswahlvorgängen (zum Beispiel eines Motortyps) als auch aus Berechnungen (etwa der Lamellenmaße).

5. "Intra" assistiert Support-Ingenieuren von Hewlett-Packard (Deutschland) bei der Bearbeitung von Programmabbrüchen in den Anwendungssoftwarepaketen zur Finanzbuchhaltung. Es erfragt Informationen aus dem Abbruch-Trace und solche zur Systemkonfiguration, analyziert die Abbruchsituation, erstellt eine Diagnose und schlägt Möglichkeiten zur Behebung des Fehlers vor.

6. Die Firma "Professor Dr. Feilmeyer, Junker & Co., Institut für Wirtschafts- und Versicherungsmathematik GmbH in München hat sich eine Wissensbasis geschaffen, die dazu dient, Beratungskunden gezielt Fragen zu stellen, wenn neue Modelle zur Simulation der Bilanzen (Bildungsprojekte) aufgebaut werden.

7. In der Zentralsparkasse der Stadt Wien hilft ein Expertensystem dabei, Kunden Vorschläge zur Eigenversorgung für das Alter zu machen. Der Dialog beginnt damit, daß Kundenmotive, wie zum Beispiel Ansparen einer Zusatzpension, und die Kundensituation, zum Beispiel schon bestehende Sparformen, erhoben werden. Es erscheint dann ein Versorgungsangebot auf dem Bildschirm, bei dem auch noch ausgenutzte steuerliche Pauschalen berücksichtigt werden. Das Angebot wird mit Hilfe der Erklärungskomponente erläutert. Die Sparkasse strebt mit dem System eine einheitliche Beratungsqualität über alle Filialen hinweg an.

8."Ixmo" dient der Motoren-Diagnostik auf Prüfständen in der Serienproduktion von Daimler-Benz und BMW in Stuttgart beziehungsweise Steyr. Auf dem Motorenprüfstand werden zum einen Meßdaten automatisch erfaßt und über eine V. 24-Schnittstelle dem System zugeführt. Zum anderen gibt der Qualitätsingenieur auch subjektive Wahrnehmungen, zum Beispiel Geräusche, ein.

9. In einem großen Unternehmen der elektronischen Industrie, das ungenannt bleiben will, hat man ein Diagnosesystem eingeführt, das einen Ingenieur durch einen Prozeß zur Lokalisierung eines Fehlers führt und einen Reparaturvorschlag ausgibt.

10. "Dial-D" ist ein dialogorientiertes Selektionssystem für Datendienste der Deutschen Bundespost. Es erhebt in einem "intelligenten Dialog" die Anforderungen und Restriktionen des Nutzers, gleicht sie mit Merkmalen der Datel-Dienste ab, empfiehlt einen oder mehrere Dienste und erklärt den Lösungsvorschlag. "Dial-D" ist von der Bundespost noch nicht in die Praxis überführt worden, jedoch nutzt es das Softwarehaus SCS, das das System entwickelt hat, zur Beratung der eigenen Kunden. Quelle: Professor Dr. Peter Mertens, Universität Erlangen- Nürnberg,