Auf dem Marsch in die berufliche Sackgasse? Informatik in der Zwickmuehle: Unbehagen ueber die Ausbildung

26.05.1995

Eine Inflation von Bindestrich-Informatikern, also Absolventen von Misch-Studiengaengen, wie sie von der Ministerialbuerokratie allent- halben gewuenscht werden, und ein Mangel an Hochleistungs- Informati-kern, die in Theorie und methodischem Wissen topfit sind fuer For-schung, Lehre und innovative Praxis -, ein solches Szenario droht in Deutschland. Peter Dietz* stellt sich mit diesem Artikel gegen den Trend, die Anwendungsnaehe als Ausbildungsziel zu hoch zu bewerten. Dietz, seines Zeichens urspruenglich Physiker, spricht sich fuer eine eher generalistische Auffassung des Informatikstudiums aus.

Es ist kaum mehr als ein Vierteljahrhundert her, dass an den bundes-deutschen Hochschulen das Studienfach Informatik eingerichtet wurde. Was sich damals von den Mutterdisziplinen - der Mathematik und der Nachrichtentechnik - emanzipierte, ist nicht nur laengst ein eigen-staendiges und hoechst differenziertes Wissensgebiet geworden, sondern hatte auch stets eine grosse Anziehungskraft fuer junge Menschen. Ueber 30 000 Studenten der Informatik gibt es derzeit an 40 deutschen Uni-versitaeten, von den Fachhochschulen gar nicht zu reden. Und doch hat dieser Erfolg in juengster Zeit einen Daempfer erhalten. Fuer das Win-tersemester 1995/96 haben sich nur noch knapp 4650 Studienanfaenger an den wissenschaftlichen Hochschulen um einen Platz im Fach Informatik beworben; im Jahr zuvor waren es noch rund 6500.

Ruecklaeufiges Interesse an einem Studienplatz

Ueber die Gruende des ruecklaeufigen Interesses lassen sich gegenwaertig nur Vermutungen anstellen. Vielleicht beginnen nicht wenige junge Maenner daran zu zweifeln, ob die glanzvolle Ausbildung wirklich haelt, was sie an beruflichen Chancen versprochen hat und noch verspricht. (Frauen haben in der Informatik inzwischen ohnehin Seltenheitswert - aber dies ist ein anderes, wenngleich aeusserst aergerliches Kapitel). Und es koennte ja durchaus sein, dass die Zweifler damit nicht ganz falsch liegen. Vielleicht nimmt ihre Entscheidung das Ergebnis eines Prozesses der Selbstfindung und Neuorientierung vorweg, der in der Informatikausbildung gerade erst zoegernd beginnt.

Denn die zielt - um es ueberspitzt zu formulieren - heute noch weitgehend darauf ab, die Studenten, sofern sie nicht im Wissen- schaftsbetrieb bleiben, fuer eine Taetigkeit als Entwickler in der informationstechnischen Industrie fit zu machen. (Der Verfasser haette sich, als er noch selbst in diesem Geschaeft taetig war, nach den intelligenten und wohlausgebildeten Informatikern die Finger geleckt, denen er heute zu seinem grossen Vergnuegen in der Universitaet begegnet). Aber es ist ja eine Binsenweisheit, dass es diese Industrie hierzulande kaum noch gibt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass dort eigenstaendige, systemnahe Forschung und Entwicklung in einem nennenswerten Umfang betrieben wuerde. Und man kann sich die Frage stellen, ob es in 20 Jahren weltweit ueberhaupt noch eine Computer- und Software-Industrie geben wird, wie wir sie bisher gewohnt sind; der dramatische Wandel, in dem sie seit einem Jahrzehnt begriffen ist, rechtfertigt mehr als ein Fragezeichen. Ein historischer Vergleich sei hier erlaubt: Von einer spezifisch "physikalischen Industrie", wie sie noch Ernst Abbe und seine Zeitgenossen begruen-deten, ist ja auch nichts mehr uebriggeblieben (und doch bildet die angewandte Physik noch heute, mehr als 100 Jahre danach, die Basis aller klassischen Industriezweige).

So wird sich denn die Mehrzahl der Absolventen, um die es hier geht, in der Anwendung der Informatik wiederfinden, fuer die sie zwar nicht zielgerichtet ausgebildet wurde, aber dennoch eine Menge an nutzbarem Grundwissen mitbringt. Und dennoch trifft sie gerade hier auf eine starke Konkurrenz: Naturwissenschaftler, Ingenieure und Oekonomen, um nur drei Berufsgruppen zu nennen, die ihnen nicht nur in der jewei-ligen Anwendungsdisziplin voraus sind, sondern inzwischen auch ein geruettelt Mass an Wissen ueber den Computer und seine Einsatzmoeglich-keiten mitbringen, weil sie sich mit diesem Instrument auch und gerade waehrend ihres Studiums auf intensivste Weise vertraut gemacht haben. Zwar laesst sich zugunsten der Informatiker ins Feld fuehren, sie allein seien in der Lage, dem zuegellosen Programmierstil ihrer Kollegen den Entwurf wohlstrukturierter Software entgegen-zusetzen. Nur: Die Kreation des optimalen Algorithmus, der zugleich die Eleganz eines Rilkeschen Gedichts besitzt und somit, wenn er dann noch einem edlen Zweck dient, das Wahre, Gute und Schoene in sich vereint - ist diese Kunst im Zeitalter der Componentware und der Plug-and- play-Systeme noch gefragt?

Es ist das Gefuehl, sich moeglicherweise eines Tages zwischen saemtlichen Stuehlen wiederzufinden, was das gegenwaertige Unbehagen an der Informatikausbildung schuert, jedenfalls bei denen, die sich hierueber Gedanken machen. Befuerchtet wird, dass der Ueberschuss der Absolventen an Informatikwissen die Defizite in den Anwendungs- disziplinen nicht mehr wettmacht, um ihnen einen problemlosen Ueber-gang ins Berufsleben und eine erfolgreiche Karriere zu sichern. Nun gibt es bei vielen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen - auch in der zustaendigen Ministerialbuerokratie - die Vorstellung, man koenne dem Problem durch eine Vermehrung der Misch-Studiengaenge beikommen. Ob es allerdings sinnvoll ist, zum Beispiel die heutige Wirtschafts-, Ingenieur- oder Medizininformatik weiter zu zergliedern und das Angebot um Kreditwirtschafts-, Produktions- oder Veterinaer-informatiken zu bereichern, darueber gehen die Meinungen auseinander. Aus volkswirtschaftlicher Sicht, aber auch aus jener der Betroffenen, scheint es doch vernuenftiger zu sein, den kuenftigen Bankern, Logisti-kern und Tieraerzten das notwendige Computerwissen beizubringen, was ja im uebrigen heute schon in zunehmendem Umfang geschieht. Eine Inflation der Bindestrich-Informatiken hingegen fuehrt nur zu unerwuenschtem Spezialistentum.

Einem zweiten, bei einigen Leuten in der Wirtschaft leider noch verbreiteten Irrtum gilt es vorzubeugen: dem unreflektierten Ruf nach weniger Theorie und mehr Praxis. Es trifft ja zu, und dies ist das Petitum dieses Beitrags, dass die heutige Informatikausbildung (und zwar an den Universitaeten - ueber die Fachhochschulen vermag sich der Verfasser kein Urteil zu bilden) sich nicht vorrangig an dem orientiert, was die Absolventen in der Praxis erwartet. Genauer gesagt: Es steht zu vermuten, dass wir sie vor allem methodisch nicht so darauf vorbereiten, wie dies erforderlich waere.

Sich durch anspruchsvolle Probleme durchbeissen

Daraus den Schluss zu ziehen, man koenne auf eine theoretisch fundierte Ausbildung verzichten, waere jedoch voellig abwegig. Zwar sterben diejenigen nicht aus, die den Universitaeten eine Art von menschlichem Roboter abfordern, moeglichst fertig "teached-in" fuer den jeweiligen Gebrauchszweck. Weiterblickende Unternehmer und Manager hingegen haben Mitarbeiter im Auge, die sich kreativ mit hochkomplexen Systemen auseinandersetzen koennen, und dies unter den Bedingungen eines unvermindert raschen technologischen Wandels. Und die sind wohl am ehesten unter jenen zu finden, die sich wenigstens einmal in ihrem Leben durch ein anspruchsvolles theoretisches Problem hindurchbeissen mussten. Wo aber sonst besteht die Gelegenheit dazu als an einer akademischen Institution?

Was also ist zu tun? Wofuer hier plaediert wird, ist weder die Zernierung der Informatik in zahllose anwendungsuebergreifende Mischfaecher noch gar ihre langfristige Aufgabe als eigenstaendiges Forschungs- und Lehrgebiet. In juengster Zeit ist ausserordentlich viel von der Informationsgesellschaft die Rede, in die eingetreten zu sein man uns mit Nachdruck attestiert. Was damit konkret gemeint ist, bleibt zwar weitgehend im dunklen. Aber es steht doch ausser Frage, dass die Informationstechnik - in welcher Gestalt auch immer - eine staendig zunehmende Bedeutung erhaelt, im wirtschaftlichen ebenso wie im privaten Bereich. Und es ist vorauszusehen, dass die in Frage stehenden Systeme einerseits an Komplexitaet zunehmen duerften, andererseits aber auch immer hoeheren Anspruechen genuegen muessen. Wenn dem so ist, waere es ja geradezu ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn hier nicht auf lange Frist diejenigen ihren Platz finden wuerden, denen dieses Instrumentarium so vertraut ist wie niemandem sonst. Da sich allerdings (zumindest hierzulande) wohl immer weniger Menschen mit dessen Entwicklung und immer mehr mit seiner Anwendung beschaef- tigen, muessen wir die Informatikabsolventen kuenftig noch besser in die Lage versetzen, die Struktur von Anwendungen zu durchschauen, adaequate Problemloesungen zu entwerfen, sie auf Hardware und Software abzubilden, hierfuer die Komponenten, Werkzeuge und Methoden zu eva-luieren (oder sie notfalls selbst zu entwickeln) und dann auch noch die Projekte durchzuziehen. Dass diese immer haeufiger die Grenzen traditioneller Anwendungsgebiete ueberschreiten und damit inter-disziplinaeren Charakter annehmen duerften, spricht nebenbei gesagt fuer eine eher generalistische Auffassung des Informatikstudiums und gegen dessen Aufteilung in viele allzu enge Schubladen mit Bindestrich-Schildchen darauf.

Was hier vorgeschlagen wird, laeuft auf eine Reform des Informatik- studiums hinaus, die weniger mit einer grundlegenden Korrektur des Faecherkanons als mit der Einuebung neuer Fertigkeiten zu tun hat und weniger das Vermitteln neuen Faktenwissens betrifft als methodische Fragen, die bekanntlich die allerschwierigsten sind. Der Verfasser gibt freimuetig zu, dass ihm noch ziemlich unklar ist, wie dies zu bewerkstelligen sei, und erst recht, wer vom heutigen akademischen Lehrpersonal dies eigentlich in die Hand nehmen soll. Aber dass etwas in dieser Richtung geschehen muss, scheint ihm unausweichlich zu sein. Und noch etwas wird sich wohl aendern: Die thematische Verzahnung von Forschung und Lehre wird sich bei diesem Prozess wohl noch staerker lockern, als dies schon bisher der Fall war. Es muss und wird zwar auch bei uns weiterhin Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Informatik geben, die haeufig als exotisch eingestuften Randgebiete durchaus eingeschlossen; dies entspricht sowohl unserem Verstaendnis von Wissenschaft als auch den wohlverstandenen langfristigen Beduerfnissen einer Industrienation. Aber die Mehrzahl der Studenten wird es kuenftig wohl eher mit einer Art von Brot-und- Butter-Informatik zu tun haben.

Vielleicht hilft bei unserem Versuch einer Neuorientierung noch einmal ein Blick auf die Physik. Was deren Vertreter im 19. Jahr- hundert aufgegriffen haben, ist laengst in die Haende von Elektro- technikern, Maschinenbauern, theoretischen Mechanikern, Metallkund-lern und vielen anderen uebergegangen, die heute ihren speziellen physikalischen Acker pfluegen und, wie jedermann weiss, damit reiche Ernten einfahren. Und doch gibt es sie immer noch, die Physiker. Uebrigens nicht nur dort, wo es um naturwissenschaftliche Grundlagen geht, um die Grenzen der Erkenntnis, um das Neue und Unvermutete; auch auf eher profanem Terrain, naemlich dort, wo ihre methodische Ausbildung ihnen einen natuerlichen Vorsprung vor den Adepten anderer Disziplinen verschafft, koennen sie sich aeusserst nuetzlich machen. (Neuerdings stellen sogar einige der grossen Unternehmensberatungs- Gesellschaften bevorzugt Physiker ein.) Man soll Vergleiche nicht ueberstrapazieren; aber vielleicht helfen sie uns, ueber eine refor- mierte Informatik nachzudenken und dieses faszinierende Studienfach aus einer drohenden Sackgasse zu fuehren.

*Dr. rer. nat. Peter Dietz, getaufter Physiker, spaeter zur Informatik konvertiert, frueher einmal geschaeftsfuehrender Gesellschafter der Dietz Computer-Systeme, ist inzwischen im Venture-Management-Geschaeft taetig und im Nebenberuf Lehrbeauftragter fuer Informatik an der Universitaet Dortmund.