Trends '95/Virtual Reality (VR) eroberte sich neue Dimensionen

Auch die kuenstliche Realitaet startet durch ins Internet

05.01.1996

In der Hauptstadt der Schwaben ging es im Februar unter internationaler Beteiligung um die Themen der Virtual Reality: Simulation, Rapid Prototyping, neue Medien, Medizin, Entertainment, Architektur, Force Feedback, Akustik. Tutorials, Kongress, Messe und Experience Park brachten die technologische Entwicklung auch dem Einsteiger dar. Das Thema zog Besucher an: 700 Kongressteilnehmer und 4300 Messebesucher stroemten in die Stuttgarter Gefilde und genossen auch im Experience Park, was Virtual Reality zu bieten hat. Der grosse Renner: Schattenboxen ohne eigene Blessuren.

Die Moeglichkeiten von VR realiter ausschoepfen

Die Fortsetzung der von der Fraunhofer Gesellschaft, Mecklermedia und IDG veranstalteten VR-World wird uebrigens vom 13. bis 15. Februar 1996 stattfinden.

Ganz allmaehlich hat aber nach dem Stuttgarter Highlight die VR- Routine wieder die Oberhand gewonnen - oder das, was die Spezialisten als Routine empfinden, was Laien aber dennoch zum Staunen bringt.

Publikumswirksam praesentierte die Redaktion der Tagesschau vom NDR, was mit VR durchaus telegen zu schaffen ist. Am 9. Juni diesen Jahres um 00:30 Uhr ging das erste ARD-Nachtmagazin mit virtueller Echtzeittechnik live auf Sendung. Realer Aufmacher: der in Bosnien abgeschossene und gerettete US-Pilot Scott O'Grady. Zu sehen war damals auch ein gelb-blaues Parteienkuerzel, das anspielungsreich zur Haelfte im Boden versank und Moderator Boetzkes, der im blau ausgekleideten, ecken- und kantenlosen Studio 4 in Hamburg um virtuell plazierte Tennisschlaeger herumschleuderte. Sogar das ARD-Wetter kam erstmals in 3D-Form in deutsche Stuben - als computeranimierter Flug ueber Deutschland. Zwischen dem Stuttgarter Ereignis fuer die (Fach-)Welt und dem Medienprojekt fuer jedermann ging die Arbeit am Virtuellen konstant und eher im Stillen weiter. Mit sinkenden Preisen fuer die Hardware und zunehmendem Know-how wuchs und waechst das Interesse verschiedenster Anwender, die Moeglichkeiten der virtuellen Realitaet realiter auszuschoepfen. So erteilte der Spielehersteller Bally-Wulff dem IPA den Auftrag, einen ersten Prototyp eines VR-Spiels zu entwickeln, berichtet Thomas Flaig vom Fraunhofer Institut fuer Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), Stuttgart. Entstanden ist "Die Muehle". Mit einem Free-flying-Joystick bewegt der Spieler eine schwebende Hand durch eine Muehle mit Fachwerkwaenden, dunkler Balkendecke und einem riesigen Schaufelrad in der Mitte. Verzierte Schraenke und Kommoden bergen Schaetze, Felsbloecke mit raetselhaften Emblemen ragen aus moosiger Steinwand. Es gilt Objekte auszuwaehlen und Schaetze zu entdecken, um dann sein Glueck am Fels zu erproben. Ein Drehen des richtigen Steins laesst das Vermoegen wachsen, das Beruehren eines falschen Emblems macht arm.

Sollte der Spieler Herzflattern bekommen, so hat das IPA in einem anderen Projekt auch hierfuer virtuell vorgesorgt: Das erste Modul des interaktiven 3D-Anatomieatlas "Digihom 3D" mit Namen "Skelett" wurde in diesem Jahr fertiggestellt. Gedacht fuer die Aus- und Weiterbildung, eroeffnet diese Anwendung, die mit medizinischen Originaldaten arbeitet, Medizinern die Welt der dritten Dimension.

Die Module Gehirn, Augen, Ohr und Leber sollen im kommenden Jahr folgen. Der grosse Unterschied zu den bislang auf dem Markt erhaeltlichen Systemen liegt laut IPA darin, dass sich Koerperteile in ihren natuerlichen Bewegungsachsen interaktiv und in Echtzeit drehen lassen. Dabei werden nicht lediglich vorgefertigte animierte Sequenzen abgespielt. Der Auszubildende kann hier Haut virtuell anfassen, ziehen und auch schneiden. Er sieht, wie sich Muskeln zusammenziehen oder ein Knochen - digital - bricht.

Noch laeuft dieser Menschenatlas auf Hardware mit R4xxx-Prozessoren auf Silicon-Graphics- und SNI-Maschinen mit einem Hauptspeicher von mindestens 64 MB und 1 GB empfohlener Festplatte unter OSF/Motif 1.2 und Irix 5.x. Die PC-Versionen fuer Windows 95 und OS/2 sind jedoch in Arbeit.

Die Medizin entwickelt sich zu einem Gebiet, das sich geradezu als einer der Motoren fuer VR-Technologie bezeichnen laesst. So steht bei den Bestrebungen der Entwickler nicht nur die Ausbildung kuenftiger Aerzte im Vordergrund, sondern auch die Weiterbildung und das Erlernen von Operationstechniken ohne Risiken fuer den Patienten. Ein drittes Gebiet fuer Virtual Reality ist die Simulation von Risiken und Komplikationen, die waehrend einer Behandlung auftreten koennen.

Aber die medizinische Wirklichkeit werdende Vision der vollstaendigen Entwicklung eines Menschenatlanten am IPA geht noch einen Schritt weiter. Es kommt ein Medium ins Spiel, das 1995 ganz besonders viel von sich reden machte: das Internet. So soll es binnen weniger Jahre moeglich sein, den Digihom-Server mit einem Digihom-3D-Home-set aus speziell entwickelter Grafikkarte mit integrierter Abrechnungsfunktion und sogenannter 3D-Shutter-Brille ueber das Netz anzuwaehlen. Nach der Eingabe der Kreditkartennummer sowie einer Pruefung der Zugangsberechtigung und Bonitaet kann sich der Nutzer die gewuenschten Softwaremodule per ISDN auf seinen Home-PC laden und solange nutzen wie gebucht. Die entsprechend programmierte Grafikkarte verhindert das Speichern, Kopieren und Weitersenden der Software. Das ist Virtualitaet in Reinstkultur, denn die realen Probleme wie komplizierte Updates, Raubkopien, teure Anschaffung von Hardware mit grossem Speichervolumen und die komplizierte Installation der Software entfallen.

Damit gewinnt Virtual Reality greifbar eine neue Dimension. Galt sie noch bis Anfang der 90er Jahre als Synonym fuer Cyberspace - den individuellen dreidimensionalen Raum des schwerbehelmten Schattenboxers -, so lautete die Forderung auf der VR World '95/Herbst im November in Los Angeles: "WebSpace for Everyone!"

Im Jahr 1995 verknuepften sich Netz und kuenstliche Realitaet, so die Aussage von Keynote-Sprecher David Frerichs, Silicon-Graphics- Manager, auf der VR-World/Herbst zum alten Traum vom virtuellen Raum fuer jedermann zu jeder Zeit.

So wie der Trip durch das Netz, wird bald auch die Reise in den virtuellen Raum "durchdemokratisiert". Museen in 3D ersparen einem Warteschlangen an der Kasse und machen schlaflose Naechte zu einem Kunstgenuss. Der Besuch der CeBIT 2000 endet gar mit Schampus puenktlich 18:00 Uhr am heimischen Bueroschreibtisch - waehrend die Kids nun zum 3D-Schlendern in irgendeinen Spielzeugladen aufbrechen.

Obwohl in diesen Tagen noch eine Vision, hat auch der virtuelle Messerundgang seine Vorteile: Die Aussteller koennen neue Zielgruppen ganz konkret ansprechen, der Besucher findet bequem grundlegende Infos, und zwar ohne quaelende Draengelei.

Und nachts geht Papi ins Casino - in Hausschuhen wohlgemerkt. Interaktive 3D-Casinos sind in der Planung, Themenparks, die Spass verheissen und Sporterlebnis ohne Muskelkater. Die Anwendungen sind so unzaehlig wie in der echten Welt.

Die Virtual Reality Modelling Language (VRML) von Silicon Graphics gilt als De-facto-Standard fuer die Definition von 3D-Raeumen und Objekten im World Wide Web (WWW). Das Ziel der Spezialisten heisst im Boomjahr des Internets, Entwicklungs-Tools fuer entsprechende VR-Anwendungen zu verbessern und auch 3D ins Haus zu bringen. Erste Werkzeuge fuer Windows-Plattformen sind in diesem Jahr gereift, so beispielsweise der Home Space Builder von Paragraph Inter-national.

Auch die Northeastern Univer-sity befasste sich in ihren Forschungsarbeiten 1995 intensiv mit der Transformation virtueller Realitaet auf verschiedene Plattformen. "Renderware" zum Beispiel ist eine grafische Bibliothek, die es erlaubt, virtuelle Umgebungen unter verschiedenen Systemen zu entwickeln. Windows 3.1, Windows 95, NT, Mac und Power-Mac System 7 sowie Sun-Unix- Workstations sind die Ziele dieser Arbeiten. VR bekommt die breite Basis - und da das Netz fuer Neues offen ist, erscheint die Zukunft noch spannender, als sie sich 1995 bereits darstellt.

Mit dem Schritt ins Netz erwachsen Anwendungen, die auch kommunikativ in neue Dimensionen fuehren. Mehrere User koennen sich gleichzeitig im virtuellen Raum bewegen - fuer Designbesprechungen, Praesentationen, Trainings oder auch nur, um zu spielen. Die Kollisionserkennung im 3D-Raum bei mehreren Benutzern - technisch sonst wichtig zum Greifen oder Versetzen von Objekten - beschaeftigt die Gemueter seit 1995 nun auch noch sozio- psychologisch. Dies auch unter dem Aspekt: Was passiert, wenn Bill sich mit Herta virtuell in die Wolle kriegt?

VR-Gruppen waren gleichgut oder sogar besser

Geht Virtual Reality fuer den Normalanwender noch stark in Richtung Entertainment, so fordert diese Welt doch auch, dass Ernst dem Spass vorauseile. Und damit der Ernst auch Spass macht, ist Ausbildung vonnoeten - im virtuellen Raum, versteht sich. So fuehrte beispielsweise die Motorola University, eine weltweit operierende Weiterbildungsstaette des Unternehmens fuer Angestellte und Externe, eine Studie im Calvin Center, Schaumburg, Illinois, zum Einsatz von Virtual Reality zum Training von Fertigungspersonal durch. Zwei Gruppen, die in einer VR-Umgebung trainierten, standen einer Kontrollgruppe einer herkoemmlichen Ausbildung im Kampf um besseres Know-how gegen Die VR-Gruppen waren mindestens gleich gut und in einigen Punkten sogar besser in der Lage, die gestellten Anforderungen zu erfuellen.

Der Einsatz von VR als Trainingsinstrument hat Vorteile auch in der schnoeden, da realen und geldbestimmten Welt: Kostensenkung. Er lohne sich vor allem dann, wenn fuer die Ausbildung "on the job" sonst eine Fertigungsstrasse aus der Produktion genommen werden muesste, so die Motorola-Ausbilder. Virtual Reality eigne sich hervorragend, wenn viele verschiedene Taetigkeiten geuebt werden muessen, die Fertigung von Guetern zu trainieren sind, die noch nicht in der Massenfertigung produziert wurden, und auch dann, wenn entsprechende Trainingsvorgaenge die laufende Produktion stoeren oder behindern wuerden, weil dazu spezielle Labore fehlten.

Virtual Reality aber schult, richtig eingesetzt, nicht nur praktische Fertigkeiten. So setzt die Kent State University ebenso wie die George Washington University seit juengster Zeit ebenso virtuelle Realitaet ein, beispielsweise in MBA-Curricula (Master of Business Administration). Der Schritt zur Ausbildung per Internet mit virtueller Technik scheint klein geworden.

Die Probleme, die hier zur aktuellen - nun nicht mehr nur technischen - Diskussion anstehen, befassen sich neben der Integration von VRML, HTML (Hyper Text Modelling Language), dem Einsatz von Datenbanken und Aspekten der Sicherheit intensiv mit Fragen der sozialen Auswirkungen.

Nur ein kleiner Schritt noch zur Ausbildung via Internet

Dem sozialpsychologischen und dem sozialen Aspekt der Virtual Reality gebuehrt - nicht nur in der Diskussion der Bereitstellung im Netz - ein immer groesserer Raum. So stellte Fujitsu Cultural Technologies auf der Herbstkonferenz in Los Angeles das Projekt Avatar vor, eine sozial interaktive, virtuelle Anwendung.

Sie soll Zusammenhaenge der heutigen Anstrengungen zu einem ganzheitlichen Management der Probleme nahebringen und Diskussionen zu dieser Thematik foerdern.

In diese Spezialgruppe der sozial orientierten Anwendungen der Virtual Reality faellt auch ein anderes interessantes Projekt, das in diesem Herbst von der World Inc. in den Vereinigten Staaten im Herbst '95 vorgestellt wurde und unter Schirmherrschaft von Steven Spielbergs Starbright Foundation steht: Starbright World. Die User dieser Anwendung sind schwerkranke Kinder in verschiedenen Hospitaelern, die im virtuellen Raum miteinander spielen koennen und so ein bisschen Ablenkung finden. Sozial orientierte Applikationen revolutionieren derzeit die Sicht, unter der netzbasierte VR- Anwendungen gesehen werden, meint dazu Allan McLennon, Vice- President der World Inc.

Ueber all die interaktiven Anwendungen zum Edu- und Entertainment soll ein urspruenglicher Bereich nicht ausser acht gelassen werden, der im vergangenen Jahr - fast - einen Quantensprung vollzog. Virtual Reality entwuchs im Bereich des Prototyping und des industriellen Designs in vielen Faellen dem Laborstatus und steht nun in erster konkreter Anwendung.

Ein Beispiel aus der grossen Gruppe: Im IPA entstand in Zusammenarbeit mit dem schwedischen Fleischforschungsinstitut Kottforskningsinstitutet aus Kaevlinge eine neue Methode zur Entbeinung von Kotelettstraengen. Zentrale Problemstellung dabei ist die Erzeugung einer Schnittbahn durch den Strang. Drei CCD- Kameras zeichnen Grauwertbilder in orthogonalen Ebenen auf, anhand deren Auswertung dann die Berechnung der Schnittbahnen erfolgt. Integrierte Kraftsensoren kontrollieren den Schnittablauf und leiten, so erlaeutern die Entwickler, bei Knochen ueber Fuzzy-Logic- Regler die Ausweichbewegung ein.

Der Anlagenprototyp wurde in Virtual Reality entworfen. Die dreidimensionale Simulation der Anlage schuf die Moeglichkeit, Funktionalitaet und Tauglichkeit zu ueberpruefen und Aenderungen in einem fruehen Stadium einzuarbeiten. Zudem bietet die Echtzeitsimulation eine notwendige Voraussetzung fuer eine Auslotung der systemrelevanten Taktzeiten.

Virtual Reality scheint also zu boomen. Die Daten, die beispielsweise die Unternehmensberatung 4th Wave zur Verfuegung stellt, sprechen von einem Marktvolumen von knapp 280 Millionen Dollar dieses Jahr allein fuer die USA - und 380 Millionen Dollar im naechsten. Es bleibt abzuwarten, ob diese Zahlen von Anfang 1995 mit der tatsaechlichen, jetzt weltweiten Entwicklung schritthalten werden. So, wie das Internet den Kick nach vorne machte, kann es auch mit der virtuellen Welt geschehen.

Antworten, Loesungsansaetze und auch Neues - der Ausblick sei erlaubt - gibt es in Stuttgart Mitte Februar auf der VR World 96 mit Business und Experience Park, vielleicht sogar mit Schnitzeln "Cut in Sweden". *Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in Muenchen.