Expertensysteme als Chance für mittelständische Software-Unternehmer:

Auch die Kleinen besitzen High-Tech-Können

10.02.1989

Expertensysteme und KI-Techniken waren bisher die Domäne großer Unternehmen mit riesigen Forschungsetats und entsprechender wissenschaftlicher Manpower. Michael Schaffer* zeigt jedoch, daß gerade mittelständische Software-Unternehmen ihre Nische in diesem High-Tech-Markt finden können, wenn sie sich auf ihre ureigensten Qualitäten besinnen.

Der Expertensystem-Markt - auch XPS-Markt genannt - scheint in der Bundesrepublik langsam in seinen Konturen und Ausmaßen Gestalt anzunehmen. Um Marktanteile konkurrieren zur Zeit große EDV-Firmen (Nixdorf, Siemens, TI, NCR, IBM, HP etc.) und spezialisierte KI-Unternehmen. Die meisten mittelständischen, traditionellen Softwarehäuser haben sich bisher kaum in diesem neuen Technologiebereich engagiert. Werden die mittelständischen Unternehmen in diesem Bereich abgehängt? Oder können sie sich noch ihren Anteil am wachsenden Markt für Expertensysteme sichern?

Wenn sie diese moderne Software-Technologie gewinnbringend nutzen wollen, müssen sie ihre spezifischen Stärken bei der Entwicklung von XPS-Systemen einsetzen. Dafür bedarf es jedoch einer noch stärkeren auf die Probleme der Anwender orientierten Strategie. Sie müssen ihr Verständnis und ihre Einschätzung von Expertensystemen ihren Kunden gegenüber verdeutlichen. Leider ist hier die Diskussion noch immer auf einem nicht sehr anwenderfreundlichen Gleis.

Die derzeitige Marktlage ist grob durch vier Phänomene gekennzeichnet:

1. Das akademische Phänomen: Viele Großprojekte werden im Verbund verschiedener Forschungseinrichtungen und der Industrie mischfinanziert durchgeführt. Hier dominiert oft der Experimentiercharakter, und die Entwicklung eines XPS endet meist im Stadium des Prototypen. Die Umsetzung von Forschungsprojekten in betriebliche Anwendungen ist in der Regel unbefriedigend. Die Erfahrungen, die in Laborsituationen gemacht werden, lassen sich nur schwer auf die betriebliche Praxis übertragen.

2. Das Inhouse-Phänomen: Die großen EDV-Unternehmen entwickeln Expertensysteme für den Bedarf im eigenen Haus. Auf diese Weise sammeln sie Erfahrungen beim Knowledge Engineering, bei der Shell-Entwicklung und im XPS-Projekt-Management. Weitere Gründe für diese Inhouse-Entwicklungen sind die Verfügbarkeit von hausinternen Experten und der prestigeträchtige Demonstrations- und Präsentationseffekt eines funktionierenden Expertensystems sowie die positiven ökonomischen Effekte beim Einsatz eines XPS.

3. Das kommerzielle Test-Phänomen: Von vielen Anwenderfirmen werden Tools und Shells getestet und gekauft. Viele KI-Unternehmen oder -Abteilungen leben vorwiegend vom Verkauf von Shells und von der Schulung. Projekte sind hier selten. Es dominiert eher die Erstellung von Demoversionen und Machbarkeitsstudien.

4. Das euphorische Prototyp-Phänomen: Die zum Teil euphorische KI-Diskussionen und Publikationen der letzten Jahre hatten zur Folge, daß oft zu komplexe Probleme angegangen wurden. Daraus ergab sich wiederum, daß die hohen, bei den Anwendern geweckten Erwartungen nicht erfüllt werden können. Viele Projekte sind daher nicht über das Prototypstadium hinausgekommen.

Die Marktbedeutung wird noch unterschätzt

Nach einer Studie aus dem Jahr 1988 wurden weltweit 935 Expertensysteme für den betrieblichen Bereich gezählt. Hierunter befinden sich 248 (27 Prozent Weltanteil) deutschsprachige Systeme, wovon jedoch nur 32 laufen. Dabei hat sich in dem Zeitraum von Januar 1987 bis Januar 1988 die Zahl der eingesetzten Systeme von 9 auf 32 erhöht. Eklatant hoch ist die Menge der nicht zum Einsatz kommenden Systeme. Offensichtlich ist es bisher noch nicht gelungen, die bestehenden, großen Erwartungen in ein Wachstum des Marktes für Expertensysteme umzusetzen.

Hauptursachen dieser Entwicklung sind

- eine noch immer ungenügende Systemanalyse und die daraus resultierende mangelhafte Integrierung von XPS in bestehende EDV-Umgebungen,

- eine Unterschätzung der Bedeutung des Knowledge Engineering bereits bei der Projektkonzeptionierung, und

- eine damit eng zusammenhängende Vernachlässigung der adäquaten Problembegrenzung auf ein bewältigbares Maß.

Gegenüber diesen praktischen Realisierungsproblemen nimmt die Diskussion über einzelne Tools und Shells und deren unterschiedliche Leistungskapazitäten einen zu hohen Stellenwert ein.

Fazit dieser skizzenhaften Marktdarstellung: Offensichtlich ist es den meisten Anbietern von XPS-Technologie noch nicht gelungen,

- den Wissenstransfer zu den Anwendern überzeugend zu gestalten,

- den ökonomischen Nutzen von Expertensystemen für das jeweilige Unternehmen darzustellen,

- und die noch immer bestehende Skepsis vieler Unternehmen gegenüber dieser neuen SW-Technologie zu überwinden.

Aus diesen Marktschwächen können spezifische Marktvorteile für mittelständische Software-Entwickler gegenüber großen EDV- und speziellen KI-Firmen resultieren. Diese Vorteile müssen konsequent genutzt werden.

Schlußfolgerungen für die traditionellen Softwarehäuser: XPS-Technologie muß in erster Linie als moderne, vielseitig einsetzbare Software-Technologie verstanden werden. Die Darstellung der Systeme sollte von der allgemeinen Diskussion um "Künstliche Intelligenz" abgekoppelt werden. Die Betonung muß auf dem Nutzen von Expertensystem-Software liegen und nicht auf den KI-Techniken, mit denen sie erarbeitet werden.

Die neue Software-Technologie ist nur interessant in Zusammenhang mit Anwendungen, bei denen ihre spezifischen Stärken demonstriert werden können. Im Vordergrund muß daher die Verdeutlichung von sinnvollen Einsatzgebieten stehen. Die in weiten Gebieten vorherrschende Diskussion um unterschiedliche Repräsentationskonzepte spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Regel - oder objektorientierte Shellkonzeptionen sind Etikettierungen, die zunächst weniger über die Qualität einzelner Shells aussagen, als vielmehr über die dazupassenden Anwendungsfelder. EDV-technische Anforderungen an Shells sind aus der Sicht von SW-Häusern und Anwendern in erster Linie die mögliche Einbettung in bestehende DV-Systeme. Schwerfällige Schnittstellen zu Datenbanken, Tabellenkalkulation oder ähnlichen Standardsoftwareprogrammen stehen der Akzeptanz von XPS-Shells im Wege.

Hier sind auch die Shell-Ersteller gefordert, die noch zu oft den Aspekt der multiplen Integrierbarkeit ihrer Shells vernachlässigen. Damit werden Hindernisse für den Einsatz von Expertensystem-Technologie geschaffen, die auch durch das brillanteste Repräsentationkonzept nicht überwunden werden können.

Mittelständische SW-Häuser sollten bei ihrem Einstieg in die Welt der Expertensysteme zur Zeit auf Anwendungen verzichten, die

- teure Soft- und/oder Hardware-Investitionen verursachen,

- einen hohen Entwicklungsstand erfordern, oder

- nur in langfristigen Forschungsverbunden realisiert werden können.

Bei der Projektakquisition sollten zunächst eher "kleinere" Projekte anvisiert werden, die folgenden Kriterien genügen:

- Klares, abgrenzbares Wissensgebiet.

- Das Projekt muß ein reales Problem in einem Unternehmen behandeln.

- Eine Expertise muß zur Verfügung stehen.

- Eine definierte Lösungserwartung muß vorhanden sein.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, frühzeitig mit den Knowledge-Engineering zu beginnen. Fachleute sollten bereits bei der Problemauswahl beteiligt werden. Dann können sie aufgrund ihres systemtechnologischen Wissens helfen, eine Problemüberfrachtung zu vermeiden. Die bisherige Erfahrung zeigt, daß in der Regel die Komplexität von Problemen unterschätzt wird. Weniger wichtig ist, ob das Problem allein mit Techniken der Expertensysteme gelöst wird oder ob diese nur einen Teil der Lösung darstellen.

Entscheidend ist zunächst nur, daß Erfahrung mit XPS-Technologie auf beiden Seiten gewonnen werden kann und, daß die Projektlösung die erwartete Leistung erbringt.

Technologie im Dienst der Problemlösung

Bei der Suche nach ihren Möglichkeiten im Bereich Expertensysteme können mittelständische Software-Unternehmen gegenüber KI-Firmen und großen EDV-Unternehmen auf folgende Vorteile aufbauen:

Durch ihre Kundennähe haben solche SW-Häuser Kenntnis über die konkreten Bedürfnisse von Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen.

SW-Häuser können durch ihre Erfahrung mit traditioneller Systementwicklung

- die Anforderungen an integierte EDV-Lösungen umsetzen (Vermeidung von Insellösungen),

- die Probleme bei der Erstellung von Schnittstellen zu unterschiedlichen DV- und insbesondere DB-Systemen lösen, und

- bei der Erstellung von Expertensystemen auch das hausinterne Software-Know-how nutzen.

Darüber hinaus sind sie in der Lage, diejenigen Probleme zu benennen, die bisher mit traditioneller Programmierung nicht gelöst werden konnten.

SW-Häuser sind es zudem gewohnt, den Wissenstransfer zu ihren Kunden zu unterstützen. Durch partnerschaftliche Beziehungen findet ein Austausch über die Funktionsweise, Notwendigkeit und Anspruch innovativer Technologie statt.

Deutlich wird, daß der Expertensystem-Markt zur Zeit noch ein intensiver Beratungsmarkt ist. Das heißt, daß allzeit versucht werden muß, durch Projekte anschauliche Überzeugungsarbeit zu leisten.

Ein empfehlenswerter Einstieg wäre meines Erachtens, "intelligente" Benutzerschnittstellen zusätzlich zu den üblichen Systemen anzubieten. Über solche Schnittstellen kann der Anwender mit dieser neuen Programmiertechnik vertraut gemacht werden.

Gerade die traditionellen Softwarehäuser müssen in dem neuen Bereich der Expertensysteme ihre Problemlösungskompetenz demonstrieren. XPS-Technologie kann hierbei als eine Methode dienen, bestehende Organisationsprobleme und Informationsdefizite abzubauen. Die Unternehmen sollten bereits jetzt beginnen, sich diese Technologie schrittweise anzueignen, um für die kommenden Anforderungen im Bereich Software-Entwicklung gewappnet zu sein.