IT im Maschinenbau/VR-Beispiele: Vom Wasserglas bis zum Formel-1-Rennen

Auch das Prototyping macht sich die virtuelle Welt zunutze

19.04.1996

Die junge Methode des Prototyping via Virtual-Reality- Anwendung gewinnt immer mehr Anhaenger. Zahlreiche Anwendungen bezeugen den Erfolg, und das nicht nur wegen erheblicher Kosteneinsparungen.

Rund 25 Jahre ist es her, dass Ingenieure zur Stuetzung ihrer Entwicklungs- und Designarbeiten erstmals die Daten eines Modells in einen Computer eingeben konnten. Allerdings konnten sie nur im eindimensionalen Raum Analysen durchfuehren. Leistungssteigerungen der DV-Komponenten ermoeglichen heute 3D-Modelle, die sich in einem virtuellen Raum auch in ihrem Verhalten bewerten, veraendern und optimieren lassen.

Auf Basis dieser aktuellen Technik in Form des Programms "Adams/Rail" der US-amerikanischen Mechanical Dynamics Inc. aus Ann Arbor, Michigan, entwickelte Dutch Rail ihre Waggons. Es erlaubte, Stabilitaet und Spursicherheit genauso wie das Beladungsverhalten und den Komfort der Eisenbahnwagen zu simulieren, ohne auch nur ein einziges physisches Modell bauen zu muessen.

Virtuelles Prototyping machte das teure Vorgehen frueherer Zeiten ueberfluessig: Individuelle Komponenten mussten nach ihrer Entwicklung in zumeist handwerklichen Verfahren modelliert werden. In dem arbeitsintensiven, zeitaufwendigen Prozess entstand ein physischer Prototyp, der mit Instrumenten und Messgeraeten auszustatten war. Nach einer Reihe von Standardtests schliesslich, in denen oft unvorhergesehene Ereignisse eintraten, ging es an die Interpretation der gewonnenen Daten, deren Analyse und die Entscheidung ueber Veraenderungen des Designs - woraufhin der Prozess von neuem begann. Kosten ueber Kosten fielen dabei als Quasi- Wegwerf-Budget an.

Im Gegensatz dazu sind diese Schritte beim virtuellen Prototyping soweit wie moeglich auf den Computer verlagert. Grafisch werden die Einzelteile des Produkts entworfen und als Gesamtsystem integriert. Die Instrumentierung erfolgt durch die computerisierte Auswahl der gewuenschten Outputs. Ein Standardset von hochparametrisierten Simulationen oder experimentellen Tests fuehrt schliesslich zu einer Datensammlung, die automatisch verwaltet, organisiert und in der gewuenschten Form ausgedruckt werden kann. Die Veraenderungsentscheidung schliesslich laesst sich ebenfalls am Computer verifizieren.

Gegenueber herkoemmlichem 3D-Design ist beim virtuellen Prototyping neu, dass auch Materialeigenschaften und auftretende Kraefte simuliert werden koennen. So laesst sich zum Beispiel bei der Gestaltung der Eisenbahnwaggons nach Angaben der Mechanical Dynamics Inc. auch das Verhalten der Waggons bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Kurvenfahrten voraussagen.

Die Bereiche, in denen virtuelles Prototyping zur Zeit am haeufigsten zum Einsatz kommt, sind neben dem Schienenfahrzeugbereich

-Automobilbau,

-Schwerlastverkehr,

-Schiffs- und Flugzeugbau,

-Raumfahrt,

-industrielle Maschinisierung und

-Biochemie,

-medizinische Ausruestung sowie teils die

-Sportausruestung. Es handelt sich also insgesamt noch um Bereiche, in denen der Bau eines Prototypen entweder bezahlbar ist oder wie der Live-Test im Flugzeugbau lebensgefaehrlich sein kann.

Der Siegeszug von Virtual Prototyping ist offenbar nicht mehr aufzuhalten: Die Entwicklungsspezialisten des Schuhfabrikanten Nike begannen ein Experiment, das die punktgenaue Landung eines Basketballspielers simuliert. Sie sammelten Bewegungsdaten, bedienten sich des realistischen Modells eines menschlichen Beins und Fusses und liessen Bewegungssimulationen mit diesen experimentellen Daten laufen. Das Research-Team variierte diese Simulationen und vollzog die Landung auf einem flachen Untergrund und bei Unebenheiten nach. Diese wurden so lange erhoeht, bis der kuenstliche Knoechel brach. Auf Basis dieser Daten machte sich das Team daran, einen Sportschuh zu entwickeln, der stabilisierend und verstaerkend auf den Knoechel wirkt und die Verletzungsgefahr fuer den Traeger reduziert.

Die Entwicklung derartiger virtueller Prototyping-Methoden ist aufwendig und kostenintensiv. Fuenf der groessten Automobilhersteller (Audi, BMW, Ford, Renault und Volvo) schlossen sich deshalb vor rund eineinhalb Jahren zu einem Konsortium zusammen, um gemeinsam mit Mechanical Dynamics in die bereits vorhandene Prototyping- Software zur mechanischen Simulation die Besonderheiten des Automobilbaus einzubringen. Im Verbund gelang es, eine Software zum virtuellen Prototyping zu entwickeln, die es erlaubt, die

-Charakteristika der Handhabung,

-Fahreigenschaften,

-das Crash- und Sicherheitsverhalten unter Beruecksichtigung aller erforderlichen Komponenten und

-Steuerungsmechanismen zu simulieren. Sogar das Verhalten auf verschiedenen Strassenbelaegen laesst sich so berechnen.

Die Erarbeitung eines virtuellen Prototypings ist durch intensive Zwischenphasen gekennzeichnet. Hierzu zaehlt die Design- Verifikation, in der realistische Animationen des Gegenstands entwickelt werden. Auch die Phase der Testplanung an sich ist umfangreicher geworden; je genauer sie erarbeitet wird, desto exakter das Ergebnis. In der Simulation lassen sich ja nur Fehler erkennen, die im Simulationslauf vorgesehen sind: beispielsweise abplatzender Lack, der Lueftungsschlitze verstopfen koennte. Auch das Verhalten im tatsaechlichen Einsatz muss so genau wie moeglich beruecksichtigt werden.

Selbst im hochsensiblen Auto-Rennsport kommt virtuelles Prototyping zum Einsatz: Fuer Indianapolis 1995 optimierte das Rennteam Newman/Haas einen Lola T95/00s, der von einer Ford/ Cosworth-Maschine angetrieben wurde. Die Optimierungen, die in diesem Sektor auf herkoemmlichem Weg erzielbar sind, betragen nur gut ein Prozent; nach Aussage des Rennteams erreichte man Verbesserungen um zwei bis drei Prozent durch die virtuellen Testlaeufe.

Die zu veraendernden Parameter beziehen sich auf das Chassis, seinen Schwerpunkt, die Gewichtsverteilung, die Spritladung und die kritische Masse. Auch das aerodynamische Verhalten laesst sich berechnen, genauso wie die Maschinenbelastung mit der Uebersetzung oder die Dimensionierung der Bremsen und die Bremskraftverteilung. Hier zaehlt vor allem, wie schnell der Computer die Resultate errechnet, denn oft sind nur marginale Aenderungen am Fahrzeug notwendig, um Optimierungen im Rennbetrieb zu erzielen.

Die Datenuebergabe zwischen dem eingesetzten CAD-System und der Software fuer das virtuelle Prototyping erfolgt bei ausgereiften Programmen ueber eine einzige Schnittstelle. Auch die Integration der Finite Elemente Analyse (FEA) in die Simulationssoftware sollte gegeben sein. In diesem Bereich sei der Schritt zur virtuellen Realitaet im Prototyping nicht mehr gross, schreibt Dan Deitz im US-Fachblatt "Mechanical Engineering". Fotorealistische Rendering-Programme, Animations- und Walk-through-Software, die CAD-Geometrie stereoskopisch mit Hilfe von 3D-Brillen praesentieren, sind in der Erprobung und teils schon in ersten Exemplaren marktreif. Insbesondere fuer die Analyse von Bauteilen bietet dieses Verfahren Vorteile.

Ein eindrucksvolles Beispiel stammt von Super Sky Products aus Mequon, Wisconsin. Das Unternehmen beschaeftigt sich mit der Entwicklung von Glasdaechern und entwickelte fuer einen Wasserpark ein Modell mit ueber 30000 Komponenten. Bei der virtuellen Reise auf einer Rutsche mit der Intergraph-Software "Modelview" stellten die Ingenieure fest, dass der wasserrutschende Badegast durch einen zu geringen Abstand zwischen Kanal und Halterung an einer Stelle haette gekoepft werden koennen. Die Aufzeichnung ging direkt an den Hersteller der Wasserrutsche, der dieses Problem noch im Vorfeld des Baus beseitigen konnte.

Aber auch fuer den alltaeglichen Bereich ist Prototyping und virtuelle Modellierung von Vorteil. Mit Autocad Designer, Autosurf und 3D Studio der Autodesk Inc. aus San Rafael in Kalifornien gelingt es etwa, einen Becherhalter an einem zahnaerztlichen Behandlungsstuhl auf Anhieb in seinen Funktionalitaeten Wassereinlass, Stopp bei bestimmter Fuellhoehe, Entnahme und Abfluss perfekt zu konstruieren.

Der Flugzeugkonzern Boeing nutzte virtuelles Prototyping zur Entwicklung der Maschine 777. Das gesamte Flugzeug wurde dreidimensional "animiert" - die Ingenieure wanderten Nacht fuer Nacht virtuell durch den neuen Flieger, um die jeweiligen Veraenderungen des Tages zu ueberpruefen. Auch der Kraftwerksbau nutzt die neue Technik bereits.

Virtual Prototyping bietet einen weiteren Vorteil, der beispielsweise von Ford genutzt wird. Gemeinsam mit der Universitaet von Michigan aus Ann Arbor gelang es, Entwicklungsingenieure aus den Vereinigten Staaten und Deutschland in eine gemeinsame virtuelle Umgebung einzubinden und so die Zusammenarbeit an verschiedenen geografischen Orten zu vereinfachen.

Die Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Die Structural Dynamics Research Corp. aus Milford, Ohio, arbeitet gemeinsam mit der Universitaet von Illinois in Chicago an einem 3D-Studio. In dem knapp vier mal vier Meter grossen Raum CAVE (Cave Automatic Virtual Environment) projiziert eine Reality Engine 2 von Silicon Graphics eine virtuelle Umgebung. Besucher dieses Raums, die Crystal-Eyes- 3D-Brillen von Stereo Graphics Corp. tragen, befinden sich ihrer Wahrnehmung nach in einem ganz normalen Raum - und wenn einer der Teilnehmer auf ein (virtuelles) Objekt zu seinen Fuessen deutet, sehen es auch die anderen Besucher. Es ist bereits moeglich, mit Hilfe der CAD/CAM-Software I-DEAS von SDRC erstellte Teile zu verbinden.

"Das System allerdings geht noch einen Schritt weiter", sagt Entwicklungsingenieur Mike Zelina. Es erlaube etwa, einen Motor so zu vergroessern und im Real-time-Modus in den Raum zu projizieren, dass man in dem laufenden Motor spazierengehen kann.

Zurueck zu der Technologie, die sich noch auf Monitore stuetzt. Hier werden die Hilfsmittel zunehmend ausgefeilter. So arbeitet der Anbieter Catia daran, echte Materialeigenschaften in einen virtuellen Raum einzubringen. Eine kuenstlich erzeugte Teekanne, die herunterfaellt, zerspringt. Im Bereich des Engi- neering werden jetzt also auch Materialeigenschaften in CAD/ CAM-Anwendungen integriert. Stahl verhaelt sich dann virtuell wie Stahl.

Die Vorteile all dieser neuen Technologien sind offensichtlich: Verbesserung der Kooperation, leichteres Ausmerzen von Fehlern und Kosteneinsparungen stehen auf der einen Seite. Kuerzere Produktentwicklungszeiten und die Moeglichkeit, Design-Alternativen zu entwickeln, sprechen zudem fuer sich. Dazu kommt der unschaetzbare Vorteil, dass virtuelle Tests auf dem Computer jederzeit wiederholbar sind - nicht nur die Dummy-Puppen werden es danken.

Kurz & buendig

Nicht nur Zeit und Raum lassen sich in der virtuellen Wirklichkeit simulieren, auch Materialeigenschaften kann der Rechner ins virtuelle Modell einer Produkt- oder Anlagenentwicklung integrieren. Ob ein Wasserglas am Zahnarztstuhl, ob die Entwicklung von Grossraumflugzeugen oder Waggons, in immer mehr Faellen kann der klassische Modellbau voellig entfallen. Wichtigste Highlights der neuen Technologie: Kostenvorteile, beliebig hohe Wiederholbarkeit und die Schonung von Menschenleben und Manpower. Zahlreiche Beispiele von virtuellem Prototyping (siehe die vier Abbildungen) zeigen das Potential der neuen Technik.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in Muenchen.