Deutschland hat eine gewisse Sonderstellung:

AT&T, IBM und NTT drängen in Richtung intelligente Dienste

02.08.1985

Value Added Networks waren bisher mehr ein Thema außerhalb der Bundesrepublik. Was jenseits unserer Grenzen in Europa sowie in den USA und Japan dazu gedacht und getan wird, schildert dieser Artikel von Jürgen Seetzen*, vom Heinrich-Hertz-Institut, Berlin. Seine These: Die technische Entwicklung ist manifest abhängig vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umfeld.

Fangen wir mit den USA an, nicht nur, weil es das größte und bedeutendste Industrieland ist, sondern weil hier im vorletzten Jahr ein wahrer Umbruch stattgefunden hat, der auch mehr und mehr Wirkungen in anderen Ländern hat. Es handelt sich um den auf dem Vergleichswege zustande gekommenen Beschluß, ab Januar 1983 AT&T (American Telegraph & Telephone Company) zu entflechten. Man macht sich bei uns meistens keine genauen Vorstellungen, was dies für die USA bedeutet. AT&T war mit rund einer Million Beschäftigten die größte private Firma der Welt und war faktisch das amerikanische Monopolunternehmen im Fernmeldebereich, das aus dem Aufschwung der Telefonie ab Ende letzten Jahrhunderts hervorgegangen ist. (Im Vergleich: Die Deutsche Bundespost ist das größte - allerdings staatliche - Unternehmen in Deutschland mit rund einer halben Million Beschäftigten, wobei hier jedoch die "Gelbe Post" dazugehört). In den USA waren immer schon staatliche Post und privates Fernmeldewesen getrennt. Zwar gab es neben AT&T 1500 weitere, meist örtliche, Telefongesellschaften, aber AT&T hielt 83 Prozent der Anschlüsse, wenn auch nur auf 42 Prozent des Gebietes der USA. Das heißt, AT&T hatte sich die meisten lukrativen Aktivitäten gesichert. Der nächste Konkurrent GTE (General Telephone and Electronics) hielt nur acht Prozent der Anschlüsse.

Auch natürliche Monopole nutzen Marktmacht aus

Was steckt nun hinter der Zerschlagung dieses Wirtschaftsgiganten, und was bedeutet diese Entwicklung?

Ein Monopol wie AT&T war nach einer erweiterten Theorie ein "Natürliches Monopol". Diese Monopole sind nämlich dann wirtschaftlich vernünftig, wenn Wettbewerb ökonomisch nicht die günstigste Lösung wäre.

Natürliche Monopole sind aber trotzdem Monopole, die zur Ausnutzung ihrer Marktmacht neigen, und deshalb müssen sie von staatlichen Stellen beaufsichtigt werden, und ihre Preise müssen kontrolliert werden. So geschah es AT&T, und damit

war die wirtschaftliche Welt heil bis Anfang der 70er Jahre.

Dramatisch wurde die Sache mit dem Monopol erst durch die Computerentwicklung, als über Time-sharing-Systeme das Telefonnetz zu ganz anderen Dingen als zur Sprachvermittlung genutzt werden konnte und hier ganz offensichtlich sehr kräftige Mitbewerber auftraten, die auch eigene Fernstrecken und Leitungen zur Datenübermittlung haben wollten.

Monopolstellung mißbraucht

Es war AT&T von der Federal Communications Commission (FCC) untersagt, Computerdienste anzubieten, und andererseits durften Computerhersteller keine Telefonnetze aufbauen. Sie mußten auf Mietleitungen, Funkstrecken und schließlich Satelliten ausweichen. Die ganze Geschichte ist vor allem juristisch ziemlich kompliziert, jedenfalls wurde AT&T, die nun gelegentlich als "OId fat Ma Bell" karikiert wurde, 1974 in einem Antitrust-Verfahren, angestrengt vom amerikanischen Justizministerium, angeklagt, ihre Monopolstellung mißbraucht zu haben. Dabei spielte eine besondere Rolle daß, wie in allen Fernmeldeunternehmen, rein kalkulatorisch der Ortsbereich nicht kostendeckend arbeitet und der Fernbereich hohe Überschüsse abwirft. Mitbewerber, die zum Beispiel über Satelliten den lukrativen Fernbereich abdecken konnten, wurden aber nicht ohne weiteres an die Ortsnetze von AT&T herangelassen. Hier stand also letztlich die Marktwirtschaft auf dem Spiel, denn das Monopol war nicht mehr natürlich. Anfang der 80er Jahre hat sich das AT&T-Management entschlossen, die Flucht nach vorn anzutreten. Der Schritt war sicher kalkuliert. Die wirtschaftliche Zukunft der Fernmeldedienste liegt bestimmt nicht beim guten alten Telefon. Die FCC hat in den 70er Jahren zwei Entscheidungen getroffen, in denen der Fernmeldebereich in Grunddienste und "Angereicherte Dienste (enhanced services) eingeteilt werden, die man im Amerikanischen interessanterweise auch Value-added-services oder -networks (also Mehrwertdienste oder -netze) nennt. Die ersteren blieben preisüberwacht, die letzteren nicht. Und hinter den Mehrwertdiensten verbirgt sich nichts anderes als die Kopplung von digitaler Fernmeldetechnik und Computertechnik. Man muß hier berücksichtigen, daß AT&T mit seinen weltberühmten Bell Labs, die sieben Nobelpreisträger hervorgebracht haben und über 9000 Akademiker beschäftigen, ein Forschungsriese ist, der sich auch auf den Gebieten der Digitaltechnik, der optischen Nachrichtentechnik und der Grundlagenforschung der Informationstechnik an der Vorfront der Entwicklung befindet. Als Telefongesellschaft konnte AT&T diese Kapazität nur bedingt nutzen und mußte zusehen, daß wichtige "Mehrwertdienstbereiche" ansatzweise von IBM und deren Verbündeten oder Konkurrenten besetzt wurden.

Das Ergebnis der AT&T-Entflechtung ist, auf einen einfachen Nenner gebracht, daß AT&T die Netzbetreiberschaft für den üblichen Telefonverkehr abgeworfen hat, also den ganzen regulierten Bereich. Diesen übernehmen sieben regionale Holding Gesellschaften. AT&T bleibt im deregulierten Bereich der Fernübertragung, inkorporiert die frühere Tochterfirma Western Electric, also die eigene Amtsbaufirma und kann nun im freien Markt Computerdienste anbieten. Es ist ziemlich sicher daß AT&T mit IBM in starken Wettbewerb tritt, die nun ihrerseits die Nachrichtenfernübertragung ausbauen wird.

Die eindeutige Orientierung des amerikanischen Marktführers im Gebiet der Telekommunikation hin zur Telematik, aber auch zum eigentlichen Informationsmarkt (Datenbanken, Nachrichten, Rechnerleistung, Protokoll- und Programmemulation etc.) und der zu erwartende scharfe Wettbewerb mit IBM, die auf diesem Gebiet ja auch ein Forschungsriese ist, aber auch die Trennung vom normalen Telefongeschäft lassen erwarten, daß die Systemintegration, die bei uns eine so große Rolle spielt, sich kaum auf die USA insgesamt erstrecken wird, sondern firmenspezifisch und gebietsspezifisch verlaufen dürfte. Das ISDN ist zwar stark im Gespräch, aber doch mehr als AT&T-ISDN, denn für etablierte Computernetze eines Herstellers sind die CCITT-Protokolle eher hinderlich. Man spricht auch offen von mehreren ISDN in den USA.

Reflex der Japaner

Schauen wir als nächstes nach Japan. Auch hier ist in den letzten beiden Jahren die Liberalisierung des Fernmeldewesens vorangekommen. Das bisherige staatliche Fernmelde-Monopol NTT ist im April dieses Jahres aufgehoben und wichtige Teilmärkte sind liberalisiert worden. Man geht kaum fehl in der Annahme, daß dies ein Reflex der Japaner auf die amerikanische Entwicklung ist. Daß die Japaner auf eine auswärtige Situation mit bedeutenden strukturpolitischen Maßnahmen im Inland so schnell reagiert haben, ist wirklich erstaunlich. Japan ist ja, nach allem, was wir wissen, nicht gerade der Ort des wirtschaftlichen Liberalismus. Hier müssen andere Überlegungen und Motive im Spiel sein.

Japan ist wohl daß einzige Land in dem es eine positive Utopie für die Gesellschaft und Wirtschaft gibt, nach der sich viele Handlungen ausrichten lassen und über die, was das Wichtigste ist, weitgehend Konsens herrscht, das ist das Anstreben der "Informationsgesellschaft". Japan möchte dieses Ziel zuerst erreichen. Interessanterweise nennen die Japaner das Ziel "Teletopia".

Die Einzelheiten der Liberalisierungsbestrebungen sprechen denn auch ihre eigene Sprache. Konkurrenz soll es auf beiden Sektoren geben, aber mit feinen Unterschieden. Die Netzbetreiberfirmen dürfen nicht von Ausländern beherrscht werden. Die Zulassung kann ohne schriftliche Begründung vom Postministerium versagt werden. Ein wesentlicher Teil der neuen NTT-Aktien bleibt im Besitz der Regierung.

Dies ist die eine Seite der Medaille. Die andere sind Mehwertdienste-Anbieter. Dieser Markt läßt auch ausländische Konkurrenz zu. Aber, und das scheint der springende Punkt zu sein, dieses Betätigungsfeld öffnet vor allen für NTT ganz heue Möglichkeiten. NTT hatte ohnehin mit dem INS (integrated network system) ein sehr futuristisches Konzept entwickelt das nicht so sehr die Integration der Signalübertragung als die Integration von klassischen Fernmeldediensten und Informationsverarbeitung im Sinn hatte. Dabei sollen die Netze in besonders hohem Maße ."intelligente" Dienste bieten. In dieser Perspektive spielt die "Fünfte Computer-Generation" eine entscheidende Rolle, deren Rechner, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen, in viel höherem Maße Intelligenzverstärker sein sollen als die bisherigen Computer, indem sie zunächst zum Beispiel Sprachübersetzung, soweit möglich, übernehmen und Expertensysteme bereitstellen. NTT verfügt ebenso wie AT&T und IBM über eine herausragende Forschungskapazität und die drängt in Japan ebenso wie in den USA in die Richtung intelligente Dienste mit Hilfe digitaler Fernmeldenetze. Nach dem, was heute deutlich wird, drängt sowohl IBM als auch AT&T zusammen mit leistungsfähigen amerikanischen Firmen auf den japanischen Markt der Mehrtwertdienste. Und es ist sofort einleuchtend, daß diese Teil-Liberalisierung, daß dieser Wettbewerb sehr genau in die Strategie zur Erreichung der "Informationsgesellschaft" paßt, zumal sich die Japaner und speziell NTT, durchaus zutrauen, nun ihrerseits auf dem Weltmarkt der Telematik zu agieren.

Widmen wir unser nächstes Augenmerk Europa. Hier scheint es vor allem lohnend, zunächst nach England zu schauen. Hier hat man Netzkonkurrenz zugelassen, was zur Gründung der Firma Mercury führte. Diese Firma, hinter der so kräftige Finanziers wie BP oder Barcley's Bank stehen, ist dabei, ein Fernnetz in Monomode-Glasfasertechnik zu errichten, das die großen Geschäftszentren in Süd- und Mittelengland verbindet. Aber von Firmendirektanschlüssen abgesehen ist diese achtförmige Fernverbindung auf die Ortsnetze der British Telecom angewiesen. Hier zeigt sich also wieder das gleiche Bild: Konkurrenz bei den lukrativen Fernübertragungssystemen mit der Tendenz, die geschäftliche Telekommunikation zu verbilligen und damit verbunden die wirtschaftliche Notwendigkeit, die privaten Teilnehmer höher zu belasten. Als nächster Schritt ist in Großbritannien im letzten Jahr die gesetzliche Möglichkeit geschaffen worden British Telecom schlicht zu verkaufen. Es hat einen ziemlichen Run auf die neu emittierten Aktien gegeben und der Staatshaushalt hat einen beachtlichen Zufluß gehabt. British Telecom hat sich seit dem Auftreten der Konkurrenz merklich verjüngt und unternehmerisch verhalten und strebt nun kräftig in den Endgerätesektor, in die Mehrwertdienste und versucht, auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen, der das frühere Staatsmonopol nicht interessierte.

Die Situation in Frankreich ist von den Wurzeln her noch ziemlich merkantilistisch. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Infrastrukturen sind seit Napoleons Zeiten Domäne des Staates, und niemand käme ernsthaft in Frankreich auf den Gedanken, die PTT zu verkaufen.

Die französische Regierung hat deshalb in der zweiten Hälfte der 70er Jahre einen Bericht über die Situation der Informationstechnik und deren Bedeutung in Frankreich in Auftrag gegeben. Dieser Bericht hat uns zunächst den schönen Begriff der "telematique" beschert, und er hat der französischen Nation das Ziel der "informatisation de la societe", der Informatisierung der Gesellschaft, gesteckt, also etwas ähnliches wie in Japan. Die subtilen Unterschiede sind aber, daß Frankreich auf diese Weise seine kulturelle Identität bewahren will und Japan eine höhere kulturelle Identität erstrebt.

Verteidigung der Kultur

Frankreich hat aufgrund der Marschrichtung, die von diesem Bericht (Nora-Minc) vorgegeben war, sehr schnell Maßnahmen ergriffen. Zum Beispiel hat es sehr früh begonnen, das Telefonsystem zu digitalisieren, Bildschirmtext-artige Systeme, etwa als Ersatz für Telefonbücher, einzuführen und Datenfernübertragungsnetze für den Geschäftsbereich zu installieren. Es war auch seit Ende der siebziger Jahre gar keine Frage mehr, daß eine weitflächige Verkabelung des Landes, wenn irgendmöglich, mit, Glasfasern vorzunehmen sei. Das Experiment in Biarritz mit geplanten 1500 Teilnehmern ist auf seine Weise beeindruckend. Hinter dem Kabelplan stehen aber nicht primär Marktinteressen, sondern wie die Franzosen ganz offen zugeben, die Verteidigung der französischen Kultur.

Aber man sollte in diesem Punkt unsere französischen Freunde auch nicht unterschätzen. Es ist klar, daß Frankreich schmalbandige und breitbandige ISDN entwickeln und einführen wird, aber es geht nicht primär von diesem Konzept aus.

Kehren wir nach dieser wahren tour d'horizont nach Deutschland zurück. Wir können feststellen, daß die Absicht in unserem Land, relativ schnell und schrittweise zu einem IFBN zu kommen, eine gewisse Sonderstellung in den Vorstellungen und Vorgehensweisen zum Ausbau der Fernmeldeinfrastrukturen einnimmt. In dieser Eindeutigkeit bedeutet es sogar eine gewisse Vorreiterrolle, die ideologisch nicht besonders untermauert ist, es sei denn, man nimmt das im Regierungsbericht von 1984 aufgeführte Ziel der Erhaltung beziehungsweise Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit als Ideologie. Nur ein wesentlicher Unterschied sollte zu denken geben und zum Handeln anstoßen: Das ist die bemerkenswerte Ferne des Konzepts von genau entwickelten Nutzungsvorstellungen, von nützlichen und attraktiven Nutzungsformen, die erst zur Akzeptanz der neuen Technik und damit auch zur Rentabilität führen werden. Dies ist natürlich nicht allein Sache der Post oder der fernmeldetechnischen Industrie. Aber wenn dieser Aspekt vernachlässigt bleibt kann es ziemlich unangenehme Überraschungen geben. Bekanntlich machen wir solche Erfahrungen gerade beim Bildschirmtext.