Der entflochtene Telefonkonzern beflügelt die Phantasie:

AT&T auf Brautschau in europäischen Gefilden

20.01.1984

In der letzten Zeit vergeht kaum eine Woche, in der der seit Jahresbeginn "deregulierte" Telefonriese American Telephone and Telegraph (AT&T) nicht Schlagzeilen macht: Kurz vor Weihnachten wurde die 25prozentige Beteiligung der Amerikaner an Olivetti bekannt (CW Nr. 1/2 vom 5. 1. 1984), wenig später folgte ein Exklusivabkommen mit Convergent Technologies über die Entwicklung einer "Workstation" und jetzt sind sich AT&T und die deutsche Wacker Chemietronic angeblich über ein Gemeinschaftsunternehmen zur Glasfaserproduktion einig geworden.

Ihre ersten Pflöcke im europäischen Markt hatten die AT&T-Manager bereits im vergangenen Jahr eingeschlagen. So wurde, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, im März 1983 die Kontrolle über die irische Telefongesellschaft Telectron übernommen. Im Juli brachten die Amerikaner ein Abkommen mit der holländischen Philips unter Dach und Fach, das die Entwicklung und Vermarktung eines digitalen Ortsvermittlungssystems in Europa zum Inhalt hat.

Bei allen Engagements in der "Alten Welt" und auf den anderen internationalen Märkten außerhalb der USA agiert die AT&T International, sozusagen der ausländische Marketingarm der Muttergesellschaft. Dieser Unternehmensbereich mit Sitz in Basking Ridge, New Jersey, wurde im August 1980 gegründet und markierte einen Wendepunkt in der bis dato geltenden AT&T-Konzernphilosophie: Erstmals seit 1925, als man die ausländischen Aktivitäten für rund 30 Millionen Dollar an den Konkurrenten ITT verkaufte und sich als "Quasi-Monopolist" nur noch auf das US-Geschäft beschränkte, versuchte "Ma Bell" nun auch auf dem Weltmarkt wieder Fuß zu fassen.

Dieser Schritt aus dem gesicherten heimischen Markt hinaus ins harte Konkurrenzgeschäft geschah allerdings nicht ganz freiwillig. Erste Abstriche an ihrem Monopol mußte AT&T schon 1968 mit der "Carterfone"-Entscheidung der Federal Communications Commission (FCC) hinnehmen. Seither durften auch die Endgeräte anderer Hersteller an das Netz des Telefonriesen angeschlossen werden.

Frühzeitig neue Strategie entwickelt

Am 20. November 1974 begann dann das, was als größte Entflechtung seit der Aufsplitterung von Rockefellers Standard Oil in die Geschichte eingegangen ist und an dessen Ende seit 2. Januar dieses Jahres die "neue AT&T steht. Die wichtigsten Etappen:

- Das Justizministerium will zunächst die Produktionsgesellschaft Western Electric, die "Ma Bell" und sämtliche Betriebsgesellschaften exklusiv beliefern, aus dem AT&T-Verbund herauslösen.

- 1978 wird Bundesrichter Harold Green mit dem Thema AT&T betraut.

- 1981 eröffnet Green das Verfahren gegen den Konzern; Zielrichtung ist jetzt, das gesamte Unternehmen zu entflechten.

- Am 8. Januar 1982 einigen sich AT&T und das Justizministerium auf einen Kompromiß. Danach trennt sich der Multi von seinen regionalen Betriebsgesellschaften und - bis auf zwei Ausnahmen - vom Gründernamen Bell, erhält aber zugleich Zugang zum lukrativen DV- und Communications-Services-Markt. Allerdings muß sich das Unternehmen jetzt auch gegen die heimische Konkurrenz durchsetzen, da die Monopolstellung nicht mehr gegeben ist. Ein ungewohnter Zustand, wie manche Beobachter und Mitbewerber meinen, an den sich die "neue AT &T" erst gewöhnen müsse.

AT&T-Chairman Charles Brown hat sich allerdings schon frühzeitig darum bemüht, den Konzern auf die sich abzeichnende "Abspeckung" vorzubereiten. Abkommen und Vereinbarungen mit europäischen Partnern waren dabei ein Teil der Strategie, die Gründung der American Bell im Juni 1982 ein zweiter. Diese neue Gesellschaft diente vor allem dazu, unabhänging von dem laufenden Entflechtungsverfahren den Aufbau des "Net 1000" voranzutreiben. Dieses Netzwerk ist vergleichbar mit dem europäischen Integrated-Services-Digital-Network-Konzept (ISDN).

Nach der Abmagerungskur umfaßt der Telekommunikationsmulti jetzt nur noch ein Drittel seiner ursprünglichen Dimension, ist aber, wie amerikanische Statistiker flugs errechnet haben, immer noch so groß wie Mobil Oil und zweimal so groß wie der heimische Konkurrent GTE.

Das neue Gesicht

Der neue Verband besteht aus zwei großen Bereichen, der AT&T Communications und der AT&T Technologies. In der Communications Division sind sämtliche Dienstleistungen für den Intercity- und den internationalen Telefonverkehr angesiedelt, also im wesentlichen die alte "Long Lines"-Betriebsabteilung. Die AT&T Technologies umfaßt alle Dienste und Systeme "für ein weiteres Informationsmanagement". Hierzu gehören die Bell Laboratories, das größte Forschungslabor der Welt, die Produktionsgesellschaft Western Electric, die AT&T Information Business sowie die AT&T International.

Western Electric, mit einem Umsatz von 12,6 Milliarden Dollar 1982 der größte Hersteller von Fernmeldegeräten in den USA, muß sich jetzt neben seiner ursprünglichen Aufgabe auch der Erschließung neuer Märkte außerhalb des Telefonbereichs widmen. Zu diesem Zweck wurden der Gesellschaft folgende Geschäftsbereiche unterstellt: Netzwerksysteme, Bauteile und elektronische Systeme, Prozessoren, Produkte für Regierungsaufträge sowie Verbrauchererzeugnisse .

AT&T Information Systems, die bisher, unter dem Namen American Bell, Fernmeldedienste und -anlagen in den USA vertrieb, kümmert sich jetzt um Service und Wartung bei den US-Kunden.

Die Aufgaben der Bell Labs umfassen jetzt neben der Forschung zusätzlich die systematische Unterstützung der anderen Konzernteile sowie Entwicklung und Entwurf von Bauteilen, Anlagen und Informations- und Betriebssystemen. In den vergangenen Jahren konzentrierten sich die Bell-Eggheads vor allem auf die Bereiche Mikroelektronik, Glasfasernetze und digitale Vermittlungssysteme. Zu den jüngsten Entwicklungen gehören denn auch ein 256K-RAM-Chip mit einer Zugriffszeit von 105 Millisekunden, ein neues Glasfaser-Monomode-System mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 436 Mbit pro Sekunde sowie ein Verfahren für die Vielfach-Wellenlängenteilung, mit dem mehr als 12 000 Gespräche gleichzeitig übertragen werden können, oder das digitale Vermittlungssystem 5ESS für bis zu 100 000 Leitungen.

Zugang zu etablierten Vertriebsnetzen

Das immense Know-how der 1925 gegründeten Bell Labs macht AT&T zu einem attraktiven Partner - vor allem für europäische Unternehmen. Philips beispielsweise ist durch das Joint-venture mit den Amerikanern, jetzt wieder in der Lage, auf dem Markt für öffentliche Vermittlungssysteme aktiv zu werden, aus dem man sich in den vergangenen Jahren zurückgezogen hatte. Unter der Bezeichnung 5ESS-PRX" soll das AT&T-System für den europäischen Markt entsprechend den CEPT- und CCITT-Standards modifiziert und vermarktet werden. Als Gegenleistung für ihre "technologische Spritze" erhalten die Amerikaner Zugang zum weltweiten Philips-Vertriebsnetz.

Die italienische Olivetti erhält mit der 25prozentigen AT&T-Beteiligung nicht nur dringend erforderliche Investitionsmittel, sondern zugleich auch -ebenso notwendiges - Telekommunikations-Wissen. Die PABX-Anlage "Dimension '85" der Amerikaner dürfte in der Angebotspalette der Italiener wohl schon bald eine wichtige Rolle spielen und deren Office-Automation-Ambitionen stärken. Im Gegenzug erhält AT&T wiederum Zutritt zum europäischen Markt über das Vertriebsnetz von Olivetti. Darüber hinaus dürften auch die Mini- und Mikrocomputer aus Ivrea den Amerikanern ins Konzept passen.

Es scheint allerdings, als wollte sich AT&T nicht allein auf die Olivetti-Produkte verlassen. Kurz nach der Liaison mit den Italienern gaben die US-Manager bekannt, daß man die Convergent Technologies beauftragt habe, exklusiv für AT&T Information Systems Workstations und andere Produkte zu entwickeln. Diese stünden dann in unmittelbarer Konkurrenz zur "Linea Uno" von Olivetti.

Liaison mit Wacker

Über das offenbar bevorstehende Joint-venture mit der Burghausener Wacker Chemietronic, einer Tochter der Wacker Chemie, die wiederum je zur Hälfte der Familie Wacker und dem Hoechst-Konzern gehört, engagieren sich die Amerikaner erstmals auch auf dem deutschen Markt - und das noch dazu im Sektor Glasfaserkabel. Damit nämlich erscheint es fraglich, ob das Kartell der fünf großen Kabelhersteller in der Bundesrepublik, wie ursprünglich vorgesehen, sein Gemeinschaftsunternehmen überhaupt aufbauen kann. Siemens, AEG, Kabelmetal, SEL und PKI beabsichtigen nach der Zusage des Postministeriums, von 1985 bis 1995 jeweils pro Jahr 100 000 Faserkilometer für den Fernbereich abzunehmen, ihre Fertigungskapazitäten zusammenzulegen.

Für den Fall, daß es Wacker gelingt, über das Bundeskartellamt diese gemeinsame Produktion der etablierten Kabelhersteller zu untersagen, hätte AT&T eine günstige Ausgangsposition auf dem deutschen Markt, vor allem im Hinblick auf den Einsatz der Glasfaser im Ortsnetz, der sich allerdings erst schemenhaft abzeichnet.

Die Zusammenarbeit mit den Burghausenern dürfte wohl nicht das letzte Engagement von AT&T sein. Außerdem wird allgemein erwartet, daß der Konzern bald ein Joint-venture mit einem DV-Unternehmen eingehen wird. Gerüchteweise wird bereits der Name Wang gehandelt, wobei Branchenkenner darauf verweisen, daß schon jetzt zwischen AT&T und den Wang Labs ein Abkommen über die gegenseitige Information bei Basistechnologien besteht.

Neben dem Zukauf von Computer-Know-how, so heißt es in den Staaten, wird AT&T sich aber auch verstärkt mit eigenen Produktentwicklungen auf diesem Sektor präsentieren. Allein in diesem Jahr sollen angeblich mindestens 30 Neuheiten auf den Markt kommen, darunter auch ein "Super Personal Computer". Außerdem sei damit zu rechnen, daß die bisher nur als Prozessor-Modellreihe innerhalb des Bell-Systems eingesetzte 3B-Familie als Business Computer verkauft werden. Keinerlei Absichten hege AT&T dagegen - noch jedenfalls nicht - auf dem Großrechnersektor sowie bei Lowcost-Personal-Computern.

Weitere Kooperation von seiten IBMs erwartet

Auf welchen Märkten schließlich der Ex-Telefongigant tatsächlich aktiv wird und damit eine echte Konkurrenz zu bereits etablierten Mitbewerbern darstellt, ist vorerst nicht abzusehen. Sicher ist nur eines: Die erste Runde zwischen DV-Marktführer IBM und dem größten Telekommunikationsunternehmen der Welt ist eingeläutet. Inzwischen wird bereits gemunkelt, daß Big Blue in Anbetracht der Kooperationsaktivitäten von AT&T zusätzlich zu den Beteiligungen bei Intel und Rolm speziell für den europäischen Fernmeldesektor auf Partnersuche sei. Gehandelt werden hier insbesondere zwei Namen: der italienische Telekommunikationskonzern Stet und Siemens.