ARD und ZDF im Hochrechnungs-Wettstreit

12.11.1976

MÜNCHEN - Stars der Wahlnacht sind nicht nur die Politiker, sondern auch Computer, die mit Hochrechnungen und Analysen ihren Beitrag dazu leisten, daß die Öffentlichkeit schnell und ausführlich über den Ausgang von Wahlen unterrichtet wird. Die "Hochrechnerei" hat ermöglicht, daß der auf das Ergebnis gespannte Zuschauer sich nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen muß, sondern schon gegen 21.00 Uhr, mit allen Informationen versorgt, beruhigt oder auch nicht beruhigt - je nach Wahlausgang - zu Bett gehen kann. Längst vorbei ist das anfangs vorhandene Mißtrauen mancher Spitzenpolitiker, die einer Stellungnahme zu den frühzeitig vorgelegten Hochrechnungsergebnissen mit der Begründung auswichen, sie müßten "erst einmal die wirklichen Ergebnisse abwarten", wie ARD-Wahlkommentator Rudolf Rohlinger rückblickend berichtet. Wenn heute die maximale Abweichung einer Hochrechnung mehr als ein Prozent beträgt, "so gilt für uns die Wahl als verloren", erklärte Gerd Diederichs vom Hochrechner-Team des für die ARD arbeitenden Infas-Instituts der CW. Sobald am 3. Oktober gegen 19.00 Uhr die ersten Hochrechnungen vorliegen, wird das - so Rohlinger - "den Politikern Anlaß sein für Triumph oder Gram, Dank an die Wähler oder Suche nach eigenen Fehlern".

Prognosen sind keine Hochrechnungen

Trotz der Starrolle der "Wahlcomputer" bei ARD und ZDF existieren oft unklare Vorstellungen darüber, was eine (Wahl-) Hochrechnung ist. Im allgemeinen wird damit das statistische Verfahren zur Umrechnung von Einzelergebnissen (Stichprobe) auf die Gesamtheit (alle abgegebenen Stimmen) bezeichnet.

Im speziellen Fall der Wahl geht es um frühzeitige Aussagen über das vermutliche Endergebnis durch Hochrechnungen bereits ausgezahlter Stimmen erster Wahlbezirke auf das Gesamtergebnis.

Wichtig ist die Abgrenzung der Hochrechnung gegen die Wahlprognosen - zwei Verfahren, die sich sachlich und methodisch deutlich voneinander unterscheiden. Bei den Wahlprognosen werden vor der Wahl von Meinungsforschungsinstituten repräsentative Umfragen durchgeführt. So hohe Genauigkeiten wie bei den Wahlhochrechnungen können hierbei nicht erreicht werden, da die Grundgesamtheit am Erhebungstag nicht identisch ist mit der Grundgesamtheit der Wählerschaft am Wahltag. Bis zum Wahltag kann sich immer noch die Meinung vieler Wähler ändern, ebenso kann ein Schlechtwetter-Einbruch am Wahltag das Prognose-Ergebnis verzerren. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor liegt im hohen Prozentsatz der Befragten, die vor dem Wahltermin sich noch als unschlüssig bezeichnen oder keine Meinung bekanntgeben. Die Hochrechnung dagegen ist keine "Prognose" des Wahlergebnisses, da die Wahl bereits abgeschlossen ist und nur noch nicht alle Stimmzettel ausgezählt worden sind.

Die Stringer in den Wahllokalen

Grundlage für die Hochrechnungen ist eine Stimmbezirks-Stichprobe. Aus allen Stimmbezirken des Wahlgebiets wird schon vor der Wahl eine repräsentative Auswahl von Wahllokalen getroffen. Die ausgewählten Stimmbezirke müssen also möglichst getreu die Gesamtheit aller Stimmbezirke abbilden. Sogenannte "Stringer" geben die Ergebnisse der Auszählungen aus diesen repräsentativen Stimmbezirken telefonisch an die Rechenzentren weiter. Die Durchsagen werden direkt über Bildschirmterminals dem Computer eingegeben und dabei auf Plausibilität kontrolliert. Sind noch nicht alle Stimmbezirke aus der Stichprobe ausgezählt und von den Stringern zur Auswertung durchgemeldet, wird dennoch mit den bereits vorhandenen ausgezahlten Stimmbezirken hochgerechnet. Sie werden als Stichprobe behandelt, obwohl es sich in der Regel um eine zufallsbedingte Auswahl mit erheblicher Verzerrung handelt. Die benutzten Schätz- und Stichproben-Verfahren berücksichtigen das und gleichen die Ungenauigkeiten mit Korrekturgliedern und Gewichtungsfaktoren aus. Besonders durch die Verwendung der Ergebnisse vorangegangener Wahlen wird dieser Fehler weitgehend beseitigt.

Wettstreit um Minuten und Prozente

Selbst einfache Hochrechnungsverfahren erfordern einen relativ hohen Rechenaufwand. Daher wurde es erst durch den Computereinsatz möglich, derartige Berechnungen in kurzer Zeit durchzufahren, obwohl die mathematisch-statistischen Verfahren schon vorher bekannt waren. Eine Hochrechnung mit Hilfe von Tischrechenmaschinen würde zu lange dauern, "denn das Endergebnis des Bundeswahlleiters würde eher vorliegen als unsere Voraussage", erläuterte ein Infas-Sprecher.

In Deutschland werden seit der Bundestagswahl 1965 EDV-Anlagen in die Wahlberichterstattung der Fernsehanstalten einbezogen. Zu diesem Zweck haben für die ARD das Institut für angewandte Sozialwissenschaften (Infas), Bad Godesberg, und für das ZDF der Mannheimer Politologe Rudolf Wildenmann und ein Soziologen-Team sogenannte "Wahlinformationssysteme" entwickelt. Beide Fernsehanstalten liegen am Wahlabend in Wettstreit miteinander, denn jede will mit ihren Hochrechnungen das endgültige Ergebnis genauer und früher treffen als die andere.

Analyse der Trends

Die Wahlinformationssysteme der ARD und des ZDF haben zusätzlich zu den Hochrechnungen noch eine zweite Aufgabe zu erfüllen: Sie liefern noch am Wahlabend-Zahlenmaterial für politische Analysen, das sonst erst Wochen oder Monate später aufgeschlüsselt vorliegen könnte, denn auch solche Wahlanalysen erfordern einen hohen Rechenaufwand. Die Wahlentscheidung des einzelnen bleibt zwar geheim, aber durch Zusammenfassen gleich strukturierter Wahlkreise kann man Schlüsse auf das Verhalten bestimmter Wählergruppen ziehen, insbesondere wenn die Veränderungen zur Vorwahl und Abweichungen vom Gesamtergebnis betrachtet werden. Dazu der ZDF-Wahlspezialist Wildemann: "Die Wähler haben ein Anrecht auf umfassende Information. Durch unsere Wahlanalysen ermöglichen wir es dem Zuschauer zu verstehen, was sich in der Wahl abgespielt hat. So interessant das Ergebnis alleine schon ist, noch interessanter ist es, die Zusammenhänge zu erkennen. Wer wählt welche Partei und warum? Aus solchen Analysen wird auch deutlich, was die Wähler von den neu gewählten Politikern erwarten."