64-Bit-Architektur/Neben Risc und Epic hat auch die alte Cisc-Technik wieder eine Chance

Architekturen: Läutet IA-64 die letzten Tage von Risc ein?

22.09.2000
Eine Titanenschlacht im Computermarkt könnte nach Ansicht von Karl-Ferdinand Daemisch* stattfinden, wenn Intels 64-Bit-Spätzünder Itanium auf die seit Jahren etablierten Risc-Wettbewerber trifft. Zudem hat kürzlich Intels Dauerverfolger AMD seinen Hut in den 64-Bit-Ring geworfen. Cisc gegen Epic gegen Risc - so steht die Formation in der Hardwarearena.

Andere Aspekte kommen im Softwarelager zum Tragen: Es gibt Anzeichen dafür, dass Linux die 64-Bit-Architektur als Überholspur gegen die anderen Unix-Plattformen nutzen will. Abwarten bei der Portierung auf 64 Bit scheint dagegen eher die Devise bei den Anbietern von Applikationssoftware zu sein.

Intel griff in die Historienkiste, um dem ersten Vertreter seiner 64-Bit-Mikroprozessor-Architektur, dem Itanium - vormals Merced, einen würdigen Rahmen für seinen Marktauftritt zu verschaffen: Zuletzt sei 1985 mit der 386er CPU ein ähnlich epochales Ereignis eingetreten, so verlautete es aus der kalifornischen Firmenzentrale. Dies mag aus Intel-Sicht zwar zutreffen. Betrachtet man aber den Gesamtmarkt, wandelt sich das Marketing-Gebrüll des Prozessorriesen zum Fauchen eines Stubentigers.

Denn erstens besitzt das Thema 64 Bit nur für Intel diesen Sensationscharakter. Am Markt bestehen höchst erfolgreiche Systeme mit dieser Architektur, gegen die sich IA-64 erst noch beweisen muss. Firmen wie Mips und Digital brachten bereits 1992 ihre ersten Implementierungen heraus. Für IT-Verhältnisse lange her ist auch das 1994 geschlossene IA-64-Abkommen von Intel und Hewlett-Packard (HP), das jetzt, sechs Jahre später, erste Früchte trägt. Zweitens stößt der PC-Chip-Gigant mit seinen 64-Bit-Prozessoren in das ihm bisher eher fremde Segment des Highend-Computing vor, das aber durch die traditionellen Risc- und Unix-Protagonisten längst besetzt ist.

Trotzdem evoziert die Intel-Initiative tiefgreifende tektonische Verschiebungen, deren Auswirkungen auch den Risc- und Unix-Markt erschüttern. Zunehmend zerbricht eine bislang in der IT einzigartige Symbiose von Risc-Prozessor und "seinem" darauf optimierten Unix-Derivat. Obwohl proprietär, bildete sie eine der deutlichsten Stärken der Risc-Unix-Kooperation. Intel ist hier auf externe Zulieferer angewiesen. Ein dadurch ausgelöster Nebeneffekt führt aber - wo bislang alle Unix-Konsortien und Unierungsbestrebungen versagten - nun zur (Zwangs-)Konsolidierung der diversen Unix-Derivate.

Der wohl stärkste IA-64-Gegner IBM fährt beispielsweise eine Doppelstrategie. Das Betriebssystem AIX soll nicht auf IA-64 portiert werden. Es bleibt der hauseigenen PowerPC-Architektur vorbehalten. Für IA-64 ist das Monterey-Produkt bestimmt, das zusammen mit SCO und Sequent entwickelt werden sollte. Nach SCOs Rückzug aus dem Unix-Betriebssystemgeschäft hat Big Blue dieses Projekt gezwungenermaßen unter dem Namen "AIX 5L" in Eigenregie übernommen.

Sun Microsystems vertritt dagegen eine andere Position. Der Hersteller will sein Betriebssystem Solaris nach allen Seiten hin absichern. Zunächst im Frieden, dann im Krach mit Intel - jeder warf der anderen Seite Untätigkeit vor - wurde das 64-Bit-Solaris, Version 8, zusätzlich zur eigenen Ultrasparc-Architektur auch auf IA-64 portiert. IBM und Sun sind für Intel folglich auch die härtesten Brocken im Wettbewerb. Andere Hersteller wie HP, SGI/Mips oder Siemens räumen dem Itanium dagegen mehr oder weniger kampflos das Feld.

IBM steht zu PowerPC und AIXIBM hat unmissverständlich schon vor einiger Zeit erklärt, seine PowerPC-Architektur und AIX trotz der nach eigenen Angaben immensen Investitionen noch mindestens zehn Jahre weiter zu pflegen. Die Armonker gehen mit ihrem neuen 64-Bit-Power-4-Prozessor - mit 170 Millionen Transistoren und einem Gigahertz Taktrate - ebenfalls den Weg in hohe Parallelisierungsgrade, wenn auch anders als Intel. IBM platziert auf einem Chip zwei komplette Kupfertechnik-basierende CPUs mit Erst- und einem großen Zweit-Level-Cache. "2003 werden wir auf einem Chip vielleicht 128 CPUs in einer Symmetrical-Multiprocessing-(SMP-)Implementierung zusammenschalten", verblüffte IBMs Chefentwickler Frank Soltis die Zuhörer bereits letztes Jahr auf einer AS/400-Veranstaltung in München. Ob diese Strategie tragfähig sein wird, bleibt abzuwarten.

IA-64-Konkurrenten unter ZugzwangAllerdings warnte Keith Diefendorf im "Microprocessor-Report" vom Oktober 1999: "Sollte es IBM, nach all dem Investitionsaufwand für den Power-4-Chip nicht schaffen, einen Server-Prozessor zu bauen, dessen Leistung die besten IA-64 absolut übertrifft, bleibt als Alternative nur die Kapitulation." Eine harte Prognose nicht nur für IBM, denn: "Sollte Power4 nicht erfolgreich sein", fuhr Diefendorf fort, "ist dies auch ein klares Signal an Sun, Compaq und andere IA-64-Gegner, dass die Tage ihrer proprietären CPUs gezählt sind."

Die Ziele, die IBM erreichen könnte, scheinen für die anderen Wettbewerber utopisch zu sein. Vor allem Compaqs Digital-Erbe, die Alpha-Chips und Tru64 Unix, blicken in eine unsichere Zukunft. Trotz der Tatsache, dass Tru64 derzeit, laut den Analysten von D.H. Brown Associates (DHB) aus Chester, New York, die besten 64-Bit-Fähigkeiten aufweist. Darüber hinaus bestätigt DHB in seinen jährlichen Untersuchungen allen Unix-Derivaten, genügend ausgereift für das Enterprise-Business zu sein.

Von einer solchen Beurteilung kann Microsoft nur träumen. Die NT-Varianten aus Redmond landen in Betriebssystem-Rankings regelmäßig abgeschlagen auf dem letzten Platz. Nicht sehr ermutigend für den Auftritt eines 64-Bit-Windows, das als Preview-Version erst Mitte dieses Jahres gezeigt wurde. Konkurrent Linux als Open-Source-Standard gehöre dagegen die Zukunft, konstatierte eine auf der dritten Linux World in San Jose veröffentlichte Marktuntersuchung von Forrester Research.

Die Marktforscher befragten Vertreter von 2500 Unternehmen, von denen 56 Prozent Linux nutzen. IDC stuft das Open-Source-System als das schnellstwachsende Betriebssystem ein. Nach Marktanteilen steht es auf Platz drei hinter NT und Netware. PC-Direktvermarkter Dell meldete unlängst, Linux sei bereits auf zehn Prozent seiner im laufenden Jahr ausgelieferten Server im Einsatz. Das seien 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Anwendungsseitig scheint der Durchbruch ebenfalls nicht mehr fern: Der von Nomina, München, erstellte "Isis-Report" führt 1000 Linux-basierende Applikationen von 300 Anbietern auf. Linux-Distributor Suse nennt sogar 1300 verfügbare Anwendungen - allerdings fast ausschließlich 32-Bit-Lösungen.

Diese Situation dürfte die Intel-Manager beunruhigen. Der Chiphersteller muss erst noch beweisen, dass Versprechen wie die Verarbeitung von alten 32- neben neuen 64-Bit-Applikationen im harten Praxisbetrieb auf dem Itanium funktionieren.

Bei der Beurteilung der IA-64-Fähigkeit anderer Unix-Systeme halten die Analysten der Gartner Group heute schon Solaris 8 für die einzige seriöse Alternative. Doch auch IBM erntet Lob: "Monterey ist ein offenes Unix", behauptet die Robert Francis Group. "Darin steckt genügend Substanz, um das Versprechen eines konsolidierten Unix für Intels IA-64-Architektur - und für PowerPC von IBM - zu erfüllen." Von der Option HP-UX auf IA-64 halten die meisten Marktforscher dagegen wenig.

Linux, aufgewertet durch das mit Intel, HP, IBM, SGI und anderen Branchengrößen hochkarätig besetzte Trillian-Projekt, meldet ebenfalls Ansprüche auf die neue Intel-Architektur an. Für Alpha-Systeme von Compaq brachte kürzlich der US-Distributor Turbolinux eine auf Fließkomma-Berechnungen ausgerichtete 64-Bit-Linux-Version heraus. Ilogs "Cplex", eine Optimierungssoftware, die etwa in der Flugzeugcrew-Einsatzplanung genutzt wird, war eines der ersten kommerziellen Trillian-Pakete, das auf einem IA-64-Server von SGI lief. Gleichzeitig forcieren auch Intel und HP mit einem "IA-64 Developers Kit for Linux" die Anwendungsentwicklung für das freie Betriebssystem.

IA-64-Erfolg hängt von den Abwendungen abEchte 64-Bit-Applikationen sind in bestehenden Architekturen selten. Nach wie vor fehlen Standards, sowohl bezüglich der Compiler- als auch der Integer-Konventionen. Alle bisherigen Regelungen wie etwa Cose Spec1170 behandeln nur 32-Bit-Features. Es liegen zwar Anmeldungen für die IA-64-Welt vor, jedoch sind bislang kaum konkrete Versionen realisiert. So bietet etwa Sun lediglich "Oracle8i" und den Apache-Web-Server als Applikationen an. Dell dagegen gelang es zusammen mit SAP, eine R/3-Lösung auf IA-64-Prozessoren unter Linux zu implementieren. Das Paket wurde auch auf Solaris 8 von DeTeCSM, der IT-Tochter der Deutschen Telekom, erfolgreich getestet.

64-Bit-Software betrifft zunächst überwiegend die technisch-wissenschaftliche IT mit ihrem kaum stillbaren Performance-Hunger. Berechnungen für Analyse und Simulation sind ebenso Beispiele dafür, wie die Visualisierung mit Virtual Reality von Crash-Tests oder pharmazeutisch-chemischer Molekülforschung und -synthese. Selbst Software für Konstruktion und Design könnte einen Leistungsschub vertragen. Doch liegt von keinem CAD-Anbieter (Computer Aided Design) derzeit eine auch nur unverbindliche Zusage für die Portierung ihrer Produkte auf 64 Bit vor.

Auch die großen Anbieter scheinen erst einmal abzuwarten. Etienne Droit, Vizepräsident für Vertrieb und Marketing bei IBMs Catia-Entwickler Dassault, sieht vorerst keinen Handlungsbedarf: "Wenn Anforderungen der Kunden dies verlangen, werden wir uns darauf einstellen." Den zweiten Part für 64-Bit-Applikationen besetzt die kommerzielle IT mit Anwendungen, die extrem große Datenmengen - bis in den mehrstelligen Terabyte-Bereich - in Data Warehouses und mit Data Mining bewegen. Praktisch alle Datenbank-Anbieter sind daher mit 64-Bit-Lösungen ihrer Produkte am Markt. Für die bislang schwache Resonanz von IA-64 im Markt waren die Verspätung und die enttäuschende Leistung des Itanium verantwortlich. Doch muss hier gerechterweise auch der hochkomplexe Paradigmenwechsel zur Epic-Systemarchitektur (Explicitly Parallel Instruction Computing) in IA-64 berücksichtigt werden. Im Vergleich dazu war der Umstieg von Cisc (Complex Instruction Set Computing) - Beispiel: alte Intel-CPUs - zum Reduced Instruction Set Computing (Risc) mit superskalaren Prozessoren vergleichsweise leicht.

Was bei Risc-Systemen die superskalare Hardware leistet, strebt Epic mit einem neuentwickelten Befehlssatz Software-seitig an: das hochparallelisierte Ausführen des Programm-Codes. Dies zeichnet die Architektur in erster Linie aus, mehr noch als die Verarbeitung von Very-Large-Instruction-Word-(VLIW-)Befehlen. Intel propagiert Epic daher als Lösung der künftigen Performance-Forderungen wegen seines Leistungsschubs mit einem Faktor von bis zu 1000 gegenüber den Risc-Plattformen. Im Gegenzug zur ungleich schwerer beherrschbaren, in Compiler- und Betriebssystem verlagerten Komplexität kann nun die Hardware wieder einfacher und effektiver gestaltet werden. Die Problematik dieser im IA-64-Chip implementierten Software wurde jedoch sowohl in Palo Alto wie in Santa Clara unterschätzt.

Allerdings dürfte sich die Epic-Architektur kein Monopol für die Nach-Risc-Zeit sichern können. Auch Cisc scheint trotz aller Neuerungen eine Zukunft zu besitzen. Diese Architektur ist offensichtlich noch nicht ausgereizt, wenn der 64-Bit-Cisc-Chip-Ankündigung vom Intel-Rivalen Advanced Micro Devices (AMD) zu glauben ist. Der AMD-Vorstoß sieht eine Erweiterung der bestehenden 32-Bit-Architektur um 64-Bit-Register vor. Der Vorteil, den sich der Anbieter davon verspricht, ist die unkomplizierte Kompatibilität zu bestehender 32-Bit-Hard- und Software. Damit sollte sich ein Umstieg auf die 64-Bit-Welt wesentlich einfacher gestalten lassen als mit Epic. Ob dieses Szenario von AMD eintrifft, wird sich frühestens Ende nächsten Jahres zeigen, wenn, wie Marktbeobachter vermuten, die Chips erhältlich sein sollen.

Ring frei für die erste RundeAnalysten von der International Data Corp. (IDC) bis zur Gartner Group prohezeiten schon ab Mitte der 80er Jahre das massive Aussterben einiger Risc-Prozessor-Familien. Etwas zu voreilig, wie die aktuellen Verhältnisse zeigen. Trotzdem stehen alle der damals als schwache Kandidaten bezeichneten Risc-Prozessoren nach wie vor auf wackeligen Beinen. Das Gleiche gilt für die symbiotisch mit ihren Chips verbundenen Unix-Derivate, denen IA-64 und Epic allmählich die Grundlage entziehen.

Daneben gibt es zwar noch Motorolas 88 000-CPUs und das Unternehmen Mips sowie ein 64-Bit-Irix von SGI. Doch die Chips finden sich zunehmend eher in Embedded-Systemen wie Kopierern, Faxgeräten - oder Nintendo-Spielekonsolen. Erklärtermaßen will SGI sein Irix in absehbarer Zeit einstampfen. Dafür puscht der Hersteller den Einsatz von Linux als Pro64-Suite für die IA-64-Architektur.

Etwas anders gelagert ist der Fall bei HP. Die eigene PA-Risc-Entwicklung wie auch die Pflege von HP-UX galt unter Analysten als kaum gefährdet - trotz mancher Lücken in den Entwicklungslinien, die die Marktforscher immer wieder einmal bemängelten. Wegen des verspäteten Itanium musste nun auch HP seine Risc-Linie beibehalten. Sie soll aber letztlich - und aus Kostengründen möglichst bald - in IA-64 münden, auch wenn hochrangige HP-Vertreter trotzig erklärten, sie könnten sich noch einen PA-9000 vorstellen.

Für HP-UX sieht der Hersteller einen gleitenden Übergang auf die IA-64-CPUs vor. Die gemeinsame Entwicklung mit Intel verschafft den Kaliforniern aus Palo Alto hier sicher nicht zu unterschätzende Vorteile. Dem stimmen die Analysten jedoch nicht einhellig zu: DHB meinte sogar, Tru64-Unix schlage HP-UX schon in der Version 4.0f, die dem aktuellen Release 5.0 vorausging, aus dem Feld. HP seinerseits verweist jedoch auf bereits 500 Interessenten an seinem Partnerprogramm "Designing the Future". Es soll unabhängigen Software-anbietern die Anpassung ihrer Software an die neue Architektur erleichtern: unter HP-UX natürlich, aber auch unter Linux und Windows 2000.

Galgenfrist für Risc-Unix-Allianzen?Wenn manche Analysten nun recht behielten, schlägt bald die letzte Stunde für die symbiotisch verbundenen Risc/Unix-Derivate. Totgesagte leben jedoch meist länger. Technologisch gibt es zu Risc nichts Vergleichbares, wenn pure Leistung nötig und hohe Anforderungen gestellt sind. IA-64-Epic-Unix - oder wie immer - ist hier noch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Die andere Alternative für unternehmenskritische IT-Prozesse, der Mainframe, steht absolut nicht mehr zur Debatte. So wird es keine andere Wahl geben - da sind schon Monterey und Linux vor.

Was haben Prozessoren mit Betriebssystemen zu tun? Nichts, was naturgegeben oder ursächlich wäre, wie SCO - und nun Linux - bewiesen. Die proprietäre Symbiose zwischen Risc und Unix zerbricht, da sich die Gewichte zur Trennung von CPU-Hardware und Betriebssystem verschieben. Damit könnte ein weiterer Schritt von der Idee offener Systeme realisiert werden.

Das dadurch absehbare Ende der bisherigen Risc-Familien birgt aber noch eine brisante Konsequenz: Derzeit ist keine konkrete Entwicklung zu erkennen, die eine Prozessor-Mono(pol)kultur vom PC bis zum Highend-Enterprise-System verhindern könnte. Eine - von IBM und PowerPC vielleicht einmal abgesehen - alternative (Nicht-Intel-)Quelle ist bislang nicht in Sicht. Auch der Punkt "preiswert", mit dem Intel immer gegen Risc argumentierte, dürfte trotz Massenproduktion für IA-64 so kaum mehr gelten. Der momentan einzige, ernsthafte Intel-Wettbewerber ist AMD, zumindest im PC-Geschäft. Intels anvisierte IA-64-Strategie bewegt sich aber in ganz anderen Leistungsdimensionen.

*Karl-Ferdinand Daemisch ist freier Fachjournalist in Lörrach.