AWE-CEO Ori Inbar im Interview

AR und VR werden Leben und Arbeitswelt verändern

10.10.2019
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Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
Am 17. und 18. Oktober findet in München zum vierten Mal in Folge die europäische Ausgabe der weltgrößten AR/VR-Veranstaltung Augmented World Expo (AWE) statt. Die COMPUTERWOCHE sprach im Vorfeld des Events mit Ori Inbar, AWE-CEO und -Mitbegründer und AR/VR-Urgestein.
Bevor sich Ori Inbar ganz den Themen AR und VR verschrieb, war er unter anderem bei SAP als Senior Vice President für die Vermarktung der NetWeaver-Plattform zuständig.
Bevor sich Ori Inbar ganz den Themen AR und VR verschrieb, war er unter anderem bei SAP als Senior Vice President für die Vermarktung der NetWeaver-Plattform zuständig.
Foto: AWE

Was ist der Unterschied zwischen der AWE und der AWE Europe?

Inbar: Die AWE gibt es bereits zehn Jahre und sie ist mit über 6000 Teilnehmern und 250 Ausstellern viel, viel größer als ihre Schwester in Europa. Sie ist wie die CES, aber für die kleinere AR/VR-Welt. Daneben wird aber auch die unterschiedliche Kultur in den beiden Events deutlich. Während in den USA viele Neuheiten und Produkte vorgestellt werden, drehen sich auf der AWE Europe die Diskussionen stark darum, wie man die Technologien sinnvoll einsetzen kann. Was nicht heißen soll, dass der europäische Markt nicht so wichtig für die Anbieter ist: Er ist nach Umsätzen gemessen bereits genauso groß, wenn nicht sogar größer als der US-Markt, aber stärker fragmentiert und schwerer zu erobern.

Zurückblickend auf zehn Jahre AWE - was hat sich in diesem Zeitraum im AR/VR-Bereich getan?

Inbar: Viel, speziell in den letzten zwei, drei Jahren. Noch vor zehn Jahren konnte kaum jemand etwas mit den Begriffen Augmented Reality und Virtual Reality (AR/VR) anfangen. Dank Pokemon Go und Snapchat Filters, aber auch dank der breiten Nutzung von AR/VR in Fortune-1000-Companies, sind beide Technologien den meisten Menschen heutzutage bekannt. Sie wissen vielleicht nicht genau, wie AR/VR ihr Leben oder ihre Art zu Arbeiten künftig verändern wird - noch nicht. Aber sie wissen, was es ist und kennen Anwendungsbeispiele.

Was sehen Sie dabei als den aufregendsten Bereich?

Inbar: Der Business-Bereich ist derzeit der aufregendste Teil, was den AR-Einsatz betrifft: So gibt es einige sehr überzeugende Case Studies von großen Unternehmen, die zeigen, wie AR Wertschöpfung bringt, Vorteile in Bereichen wie Kosten, Sicherheit und Produktivität generiert. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich auf einmal alle großen Unternehmen dafür interessieren. Studien zufolge nutzen bereits mehr als 70 Prozent der Unternehmen AR oder planen dies im nächsten Jahr zu tun. Das ist ein Riesenwandel.

Case Studies sorgen für den Durchbruch im Business-Umfeld

Welche Faktoren machen Sie für den Durchbruch von AR/VR im Business-Umfeld verantwortlich? Sind das Dinge wie Hololens & Co.?

Inbar: Ich denke, es ist eine Kombination von verschiedenen Faktoren. Der wichtigste Faktor, wenn es um die letzte Technologiewelle, die Nutzung im Unternehmen, geht, ist vermutlich die Existenz von echten Anwendungsbeispielen. Diese zeigen auf, welche Verbesserungen sich durch die Nutzung ergeben. Bereits vor drei bis vier Jahren konnte man erste Case Studies mit kleinen Piloten sehen. Diese zeigten Einsparungen von 20, 50 oder sogar 99 Prozent bei Zeit und Kosten auf und das in vielerlei Aspekten - etwa in der Fertigung oder im Bereich Field Services.

Wenn so etwas bereits existiert, ist es einfach, eine Technologie in größerem Stil innerhalb eines Unternehmens einzuführen. Und natürlich bekommt das auch der Wettbewerb mit und reagiert entsprechend. Das Bewusstsein, was die Technologie leisten kann, ein sehr klarer ROI, solche Dinge treiben die Einführung voran.

An welche Use Cases denken Sie da primär?

Inbar: Der vielleicht wichtigste Use Case, der den Einsatz in Unternehmen fördert, ist der Remote Expert Assistent. Stellen Sie sich vor, Sie müssen unterwegs eine Reparatur durchführen oder als Arzt einen Patienten behandeln - und Sie können einen Experten hinzuziehen, der durch die Kamera im Smartphone oder seine Smartglasses sieht, was Sie machen und Anleitungen gibt. Das verbessert zum einen die Möglichkeit, mit dem Problem umzugehen, zum anderen senkt es die Kosten für Transport etc. Außerdem kann ein Experte so in kurzer Zeit mehrere Leute im Feld unterstützen. Das ist einer der Haupt-Treiber für die Adoption von Smartglasses, denn man benötigt nicht einmal eine besonders komplizierte Technologie.

Es muss nicht immer eine Hololens sein

Und auf der Geräte-Seite?

Inbar: Ja, da ist sicher die Microsoft Hololens, die erste Version war bereits ein sehr fähiges, nützliches Gerät, und die zweite noch viel mehr. Obwohl diese Devices noch immer sehr klobig und teuer sind, generieren sie in einigen Fällen so viel Wert, dass Unternehmen sie einsetzen. Es sind jedoch nicht nur solche Highend-Devices, die in Unternehmen eine Rolle spielen, sondern auch einfachere Head-up-Displays für AR, wie sie etwa Realwear anbietet: Die Datenbrillen sind nicht so ausgereift wie die Hololens, aber für einige Use Cases reichen sie völlig aus. Denn man bekommt Informationen im Sichtfeld angezeigt, während man eine Aufgabe ausführt, außerdem sind sie Enterprise-ready, weil sie sehr robust sind und eine lange Akkulaufzeit besitzen. Obwohl noch relativ jung, ist die Company daher in der Lage, Zehntausende von Smartglasses an Unternehmen zu verkaufen.

BMW North America nutzt die Realwear-Smartglasses, um Reparatur- und Wartungszeiten zu reduzieren.
BMW North America nutzt die Realwear-Smartglasses, um Reparatur- und Wartungszeiten zu reduzieren.
Foto: BMW Group

Und man darf auch nicht die anderen 'Geschmacksrichtungen' von AR vergessen: Smartphone und Tablet werden ebenfalls im Business eingesetzt. Und Unternehmen kaufen nicht nur Hololens-Geräte, sondern auch eine AR-Plattform und ermöglichen es den Anwendern, damit zu interagieren - mit welchem Gerät auch immer, sei es Hololens, Smartphone oder Tablet.

Wen sehen Sie auf der Anbieterseite für den Erfolg verantwortlich?

Inbar: Vielleicht den größten Beitrag dazu leisteten Tech-Giganten, die sich auf das Thema gestützt haben und Milliarden von Dollar in Entwicklungs-Tools oder Hardware investierten - das verleiht der ganzen Industrie einen Schub. Auf der anderen Seite gibt es eine Menge von Startups, die in dem Bereich Innovationen vorantreiben - schneller als die großen Unternehmen. Einige von ihnen werden übernommen, einige könnten das nächste Google oder Facebook werden. Wir sind an dem Punkt, wo neue Marktführer entstehen oder konsolidiert werden - eine Menge davon werden wir auf dem Event nächste Woche sehen.

AR und VR könnten in der Zukunft verschmelzen

Was ist wichtiger - AR oder VR?

Inbar: Augmented Reality und Virtual Reality weisen viele Gemeinsamkeiten auf: Beide Technologien wurden in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt und bei beiden handelt es sich um Spatial - räumliches - Computing - als Unterschied zur zweidimensionalen Bedienung eines PCs oder Smartphones.

Der fundamentale Unterschied ist, dass es sich bei Virtual Reality um eine andersgestaltete Welt, bei Augmented Reality fast um die reale Welt handelt. Lag VR zunächst bei der Popularität vorne, schwang das Pendel mit der Verbreitung von Smartphones als ideale Devices wieder stärker in Richtung AR - Google Search Trends belegt das. Nach einigem Hin und Her denke ich, dass sich aktuell beide Technologien im Aufschwung befinden, insbesondere im Business-Umfeld. Der einfache Grund: Kunden suchen nach der Lösung für ein Problem und differenzieren dabei nicht zwischen AR und VR. Entsprechend sind auch Anbieter die beides liefern können sehr erfolgreich, denken Sie an die Firma Re'flekt aus München.

Glauben Sie, dass AR und VR in naher Zukunft verschmelzen?

Inbar: Zum aktuellen Zeitpunkt denke ich, dass es erst einmal so bleibt, denn die Anwendungsfälle für AR und VR sind sehr unterschiedlich und Entwickler oder Anwender müssen herausfinden, was für sie die geeignetere Technologie darstellt. Aber man sieht bereits Crossovers, wie die Demo vom Hersteller Varjo zeigt: Es ist überwiegend ein VR-Device, aber wenn man die Kamera öffnet, verwandelt es sich in ein AR-Gerät mit eingeblendeten Videos. Ich denke, in Zukunft werden wir mehr Beispiele dieser Art sehen. Die Experten sind sich einig, dass die unterschiedlichen Geräte in fünf bis zehn Jahren zu einem Device verschmelzen, das beides kann.

Wird das das Ende des Smartphones darstellen?

Inbar: Ich glaube fest daran, dass es irgendwann in der Zukunft das Smartphone nicht mehr geben wird - zumindest nicht in der Art, wie wir es kennen. Man hat zwar noch eine Art Computing Device in der Geldbörse oder Tasche, aber ohne direkte Interaktion, ohne Informationen, die darauf dargestellt werden. Wenn es erstmal möglich ist, via Smartglasses Dinge viel größer und breiter zu sehen und leichter mit ihnen zu interagieren, warum sollte man auf einen kleinen Bildschirm zurückgreifen und nur mit Touch arbeiten.

Wann es so weit sein wird, weiß ich nicht. Ich habe schon 2014 auf der InsideAR in München prophezeit, dass Smartglasses Smartphones ersetzen, genauso wie DVDs VHS und Streaming-Angebote die DVD verdrängt haben. Die Prophezeiung ist dann nicht so schnell eingetreten, daher bin ich vorsichtig.

5G ermöglicht andere Geräte und Anwendungen

Im Zusammenhang mit neuen AR/VR-Trends fällt häufig auch der Begriff 5G - ist der LTE-Nachfolger wirklich ein Game Changer?

Inbar: Ja, 5G ist ein großes Thema, denn die Carrier suchen nach Anwendungen, die 5G benötigen und davon wirklich profitieren - nicht nur die Möglichkeit, den neuen Avengers-Film in fünf Sekunden auf das Smartphone zu laden. Die Carrier sehen in diesem Zusammenhang AR/VR als eine der größten Möglichkeiten und treiben das Thema stärker voran als die AR/VR-Industrie selbst. Das ist ein Thema, das sicher auf dem AWE Europe und praktisch in jeder AR/VR-Session diskutiert werden wird.

5G bietet definitiv einige Vorteile, wie einen schnelleren Zugang zum Internet und höhere Bandbreiten sowie eine niedrigere Latenzzeit und ich denke, es könnte transformativ für AR/VR sein. Man muss nur daran denken, dass die Startups in diesem Bereich heute darum wetteifern, wer eine schnellere Verarbeitung der Daten - Computervision und Machine Learning - auf dem Gerät selbst realisiert. Mit 5G kann man auf einmal ein Großteil der Datenverarbeitung in der Cloud erledigen und bekommt das Ergebnis sofort auf das Gerät gespielt. Es macht also keinen Sinn mehr, die Informationen auf dem Device selbst zu verarbeiten.

Und da man keine Highend-Prozessoren mehr benötigt, könnten die Geräte kleiner und leichter werden sowie eine längere Batterielaufzeit aufweisen. Man muss allerdings bedenken, dass die Firmen zwar auf 5G setzen - auch weil die Carrier Geld in sie investieren. Aber dass 5G in ein oder zwei Jahren auf breiter Basis verfügbar ist, damit ist nicht zu rechnen.

AR-Natives schaffen neue Anwendungen

Was ist die aufregendste AR/VR-Anwendung, die Sie in den letzten Monaten gesehen haben?

Inbar: Das ist eine schwere Frage für mich, denn ich mag sie alle. Das ist, wie wenn man einem Vater die Frage stellt: 'Wer ist Dein liebstes Kind?' Aber ganz generell gibt es auf der einen Seite die Tech-Giganten, die wirklich viel investieren, um sich gegenseitig zu übertrumpfen und Tools hervorbringen, die es wirklich einfach machen, Content in AR und VR zu entwickeln. Und das hat starke Auswirkungen auf den Markt.

Und was spannend ist: Menschen, die keine Programmierer sind, nutzen diese Tools und erschaffen Dinge, die wir vorher noch nie gesehen haben. Für mich ist das Aufregendste in diesem Jahr, was sich in der Entwicklerszene tut. Denn nachdem die Technologie nun weit genug ist, müssen wir Dinge entwickeln, die für jede Person auf der Welt relevant und wichtig sind.

Ich denke, das Geheimnis liegt dabei in der Unterschiedlichkeit, es gibt nicht die eine Killer-App, die alle nutzen, sondern Millionen von Kreativen, die Erlebnisse schaffen, die wichtig für verschiedene Zielgruppen sind, seien es Consumer oder Unternehmen. Insbesondere die AR-Natives, Leute, die in diese neue Welt hineingeboren wurden, haben ein anderes Verständnis davon, was AR bedeutet. Wir wuchsen in einer Welt mit einem zweidimensionalen Bildschirm, einer zweidimensionalen Interaktion mit dem Computer auf. Nun ist diese Einschränkung weg und wir werden Dinge sehen, die wir niemals für möglich gehalten hätten. Das ist für mich die spannendste AR-App.