Der Versicherungsbranche fehlen applikationsübergreifende Plattformen

Applikations - "Patchwork" macht Computer Aided Selling schwierig

10.04.1992

Die Rechenzentren und Kommunikationssysteme der Assekuranzen nehmen seit jeher eine technologische Vorreiterrolle auf dem Feld der computergestützten Automatisierung Verschiedener Sachbearbeitungs- und Verwaltungstätigkeiten ein. Doch Hartmut Schroth* ist der Meinung, daß in der Versicherungsbranche die dezentrale Datenverarbeitung, vor allem die sinnvolle Integration des Außendienstes, noch stiefmütterlich behandelt wird.

Begonnen und jahrzehntelang vorangetrieben wurde die Computerisierung des Versicherungsgeschäfts in den Verwaltungszentralen. Dort bündeln sich sämtliche Vertragsvorgänge, die weitverzweigte Bezirksstellen, Agenturen und Außendienstvertretungen eigenständig akquirieren und zur Bearbeitung an die Zentrale weiterleiten. Zahlreiche Geschäftsvorgänge wurden bislang fast ausschließlich zentral abgewickelt - etwa die Ausfertigung von Policen.

In der ersten Phase der Automatisierung des Versicherungswesens ergab sich ein Gefälle in der Ausstattung mit Computern zwischen den zentralen Verwaltungsstellen und den Außendiensteinheiten. Während in den Zentralen bereits in den 70er Jahren nahezu alle standardisierten und zahlenmäßig umfangreichen Verwaltungstätigkeiten computerunterstützt durchgeführt wurden betrieben die kundennahen, dezentralen Mitarbeiter ihr Geschäft immer noch vollständig auf manueller Basis.

Zweite Phase der Automatisierung

In den frühen 80er Jahren begannen die DV-Verantwortlichen der Assekuranzen deshalb, Konzepte zur Behebung dieses Ungleichgewichts zu entwickeln. Damit wurde gleichsam die zweite Phase der Automatisierung des Versicherungsgewerbes eingeläutet: Man wollte die umfangreichen und im zentral gesteuerten Dienstleistungsgeschäft anfallenden Datenmengen doppelt nutzbar machen, indem man sie den dezentralen Verwaltungseinheiten als Informations- und Service-Pool zur Verfügung stellte. Beschleunigt wurde diese Entwicklung vor allem durch die Verbreitung von PCs und Laptops, durch die der Außendienst heute vor Ort problemlos auf 'aktualisierte Kunden- und Policendaten sowie Angebots- und Serviceprogramme zugreifen kann.

Wer sich heute zu einer Agentur oder Außendienststelle begibt, um Informationen oder Angebote einer bestimmten Versicherungsform einzuholen, trifft gemeinhin auf die Auswirkungen - und Begrenzungen - dieser Phase der Computerisierung: So kann das jeweilige, meist PC-basierte Angebotsprogramm nach Eingabe aller relevanten Parameter in Sekundenschnelle mitteilen, welche Konditionen, Beitragszahlungen und Leistungen der Kunde zu erwarten hat. Doch spätestens dann, wenn der Interessent mit diesem Angebot einverstanden ist und einen entsprechenden Antrag stellen möchte, erweist sich das heutige DV-Informations-Management der Versicherer als erstaunlich lükkenhaft: Sämtliche Daten, die bereits das Angebotsprogramm erhoben hat (etwa Name, Adresse, Geburtsdatum, Laufzeit der Versicherung, Versicherungssumme etc.), müssen in der Regel noch einmal manuell in ein Antragsformular eingetragen werden. Der Kunde darf daraufhin unverrichteter Dinge nach Hause gehen - die Police wird ihm meist erst Wochen später von der Versicherungszentrale als Computerausdruck zugeschickt.

Daß ein derart bedeutsamer, für das Kundengeschäft zentraler Tätigkeitsbereich der Assekuranz bis heute von einer automatisierten Bearbeitung weitgehend unberührt geblieben ist, hat viele Gründe.

Doch wachgerüttelt durch die zu erwartende Konkurrenz im Rahmen des Binnenmarktes '93, stehen die Versicherungs-Manager unter Handlungsdruck: Denn in Zukunft wird die Qualität ihres Angebots von, Kunden zunehmend an der Servicefreundlichkeit gemessen werden - und diese entscheidet sich sowohl an der Stichhaltigkeit und Breite der Beratung wie auch an einer schnellen und sicheren Vertragsausarbeitung. Angesichts des damit bereits umrissenen Anforderungskatalogs haben die Versicherungen inzwischen eine weitere Innovationsphase in ihrem DV-Management eingeläutet: Die DV-Planer der Assekuranzen beschäftigen sich nunmehr intensiv mit der Frage, wie die dezentral gewonnenen Daten mit den zentralen Verarbeitungszyklen rückgekoppelt werden können.

Neben verbesserten Serviceleistungen liegen die Ziele dabei vor allem in einer höheren Wirtschaftlichkeit von Vertrieb und Marketing sowie in der schnelleren Umsetzbarkeit von zentral entwickelten Produkt- und Marketing-Strategien.

Der, Grundgedanke dieser Rückkoppelung ist so schlicht wie effektiv: Dem Außendienst werden nicht mehr nur die zentral vorhandenen Daten zur Verfügung gestellt, sondern dieser übergibt seinerseits die kundenseitig gewonnenen Informationen den zentralen Verwaltungsstellen zur Weiterverarbeitung. Für die Schnelligkeit und Präzision, mit der ein Interessent auf diese Weise die von ihm gewünschte Versicherung erhält, lassen sich Beispiele anführen: So können etwa die in der PC-gestützten Angebotserstellung aufgenommenen dezentralen Informationen in vielerlei Hinsicht als Basis für zentrale Verarbeitungsläufe dienen - sei es als Eingangsdaten für ein Expertensystem, das das dezentral erstellte Angebot einer maschinellen Plausibilitätskontrolle und Risikoprüfung unterzieht, oder auch einfach als Grundstock für die weitere zentrale Antragsbearbeitung.

Daß die Anbindung und Nutzung von Datenbeständen in der Versicherungsbranche bislang fast ausschließlich von der zentralen Organisation ausgehend und hin zu den dezentralen Einheiten möglich ist, kann allerdings nur zu geringen Teilen der mangelnden Innovationsfreude der Versicherungen angelastet werden. Das Hauptproblem stellen vielmehr die zahlreichen oftmals hochspezialisierten Softwarehäuser dar, die es in der Vergangenheit kaum vermochten, betriebswirtschaftlich integrierte Konzepte für die Vernetzung der Versicherungs-Außendienste mit ihren Hauptverwaltungen vorzulegen.

Der neuralgische Punkt bleibt unberücksichtigt

Statt dessen konzentriert sich die Mehrzahl der Entwicklungsteams darauf, ihre einmal am Markt plazierten Programme für die verschiedenen Dienstleistungsbereiche der Assekuranz - beispielsweise Kunden- und Vertragsverwaltung einerseits sowie Beratungs- und Angebotsprogramme andererseits technologisch zu verbessern. Der neuralgische Punkt applikationsübergreifender Plattformen bleibt dabei weitgehend unberücksichtigt.

Die Folgen dieser Produktentwicklung erweisen sich für die betroffenen Anwender zunehmend als verhängnisvoll: Das dezentral aufgebaute "Patch-work" von Anwendungen kann zumeist nicht auf eine gemeinsame Datenbasis zurückgreifen - weder im Außendienst selbst, noch auf die Host Systeme in den Konzernzentralen. Dies führt auch im hochsensiblen Bereich der Datenschutzvorkehrungen zu Problemen. Da der Datenaustausch zwischen den Programmen unterschiedlicher Hersteller zumeist über offene Schnittstellen erfolgt, werden Schutzbestimmungen oftmals ad absurdum geführt. In krassen Fällen genügen primitive Editor-Hilfsmittel, um die Datensätze an den Schnittstellen zu entschlüsseln.

Fachleute malen seit längerem die Vision von Computer Aided Selling (CAS) für die zukunftsträchtigen Marketing-Strategien in traditionell stark dezentralisierten Branchen wie Banken, Versicherungen und Pharmaindustrie aus. Doch wirklich durchgreifenden Nutzen kann CAS erst dann bringen, wenn mehr Softwarehäuser dazu übergehen, wesentliche Verarbeitungskomponenten wie Bestandsverwaltung, Angebots- und Antragserstellung durchgängig auf einer unternehmensweit kompatiblen Plattform zu integrieren.

Ein vielversprechender Ansatz zur Lösung dieser Problematik besteht darin, für die verschiedenen dezentralen Aufgabenbereiche zunächst eine gemeinsame Datenbasis bereitzustellen. Diese bildet dann die Grundlage sowohl für die vorhandenen dezentralen Anwendungen als auch für zukünftige Applikationen. Die Vorteile des dadurch vereinheitlichten Programmdesigns liegen auf der Hand: So greifen beispielsweise die Anwendungsmodule für die Bearbeitungsschritte Bedarfsermittlung, Angebot und Antrag auf eine gemeinsame Datenmenge zu, die in einheitlicher Weise gegen unberechtigten Zugriff verschlüsselt werden kann.

Erhebliche Tragweite birgt für die Versicherungen auch der Umstand, daß bestehende Normierungen im Bereich der vertragstechnischen Informationen - etwa die zunehmend bedeutsame GDV-Norm der Versicherungen für den standardisierten Datenaustausch mit Maklern und Mehrfachagenten - für eine programmübergreifende Datenbasis leichter eingehalten werden können.

Gemeinsame Datenbasis der dezentralen Applikation

Der Assekuranz-Branche ermöglicht dies weitreichende Kosteneinsparungen. Denn zumindest die großen Versicherungen werden spätestens mit Inkrafttreten des europäischen Binnenmarktes in der Lage sein, zentrale Vertragsdaten nach der GDV-Norm bereitzustellen. Der wechselseitige Datenaustausch zwischen Zentrale und Außendienst läßt sich für die Versicherungen dann vergleichsweise kostengünstig realisieren. Die Liste der Vorzüge, die mit dem Konzept einer gemeinsamen "Datenbasis der verschiedenen dezentralen Applikationen erzielt werden, ließe sich noch erheblich verlängern - die Stichworte lauten dabei Bedienungsfreundlichkeit und beschleunigte Bearbeitung.

Einige der herkömmlichen Programme vermeiden demgegenüber oft nicht einmal die gröbsten Fehlfunktionen: Da müssen Daten eingegeben werden, die im Augenblick gar nicht nötig sind; auch fordern unterschiedliche Programm-Module bereits geleistete Auskünfte an anderer Stelle erneut an.

Bei der Trennung der eigentlichen Programmverarbeitungsfunktionen von der jeweiligen Präsentationsoberfläche wurden mittlerweile Fortschritte erzielt. Im Hinblick auf die Einführung integrierter Systeme entwickeln innovative Anbieter ihre Beratungssoftware inzwischen plattformunabhängig. Denn nur so können sie ihren Kunden garantieren, daß einmal getätigte Softwareinvestitionen bei zukünftigen Präsentationsoberflächen nicht gleich komplett abgeschrieben ' werden müssen. Integrierte Branchenpakete für das dezentrale Versicherungsgeschäft, die nach diesem Konzept sowohl MS-DOS, MS-Windows, OS/2 und Unix unterstützen, werden bislang gleichwohl nur von wenigen Softwarehäusern angeboten.