Digitale Transformation

Anwender müssen jetzt die Weichen stellen

17.02.2015
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
Was digitale Transformation bedeutet, darauf dürfte jede Branche anders antworten. Sicher ist: Die IT-Abteilungen spielen eine Schlüsselrolle. Sie sollten sich ihre Architekturen genau ansehen.

Kein Lebens- und Wirtschaftsbereich bleibt von der digitalen Umwälzung verschont - das war der Tenor einer Podiumsrunde, die sich vor zahlreichen IT- und Wirtschaftsjournalisten in München abspielte. Den einführenden Vortrag hielt Carlo Velten vom Analystenhaus Crisp Research. Die weiteren Teilnehmer kamen von den IT-Anwenderorganisationen SOA Innovation Lab und VOICE e.V. sowie von den IT-Anbietern Dimension Data, NTT Data und Microsoft.

Velten schilderte die weitreichenden Folgen der Digitalisierung anhand ungewöhnlicher Beispiele wie dem Einsatz von Sensoren im Weinbau: "Einige Winzer bestücken heute ihre Weinberge schon mit Sensoren, um damit das Mikroklima zu messen und auf dieser Datenbasis den Wasser und Düngereinsatz quasi punktgenau zu steuern."

Chancen und Risiken der Digitalisierung: Hersteller und Anwender diskutierten kontrovers bei IT meets Press in München.
Chancen und Risiken der Digitalisierung: Hersteller und Anwender diskutierten kontrovers bei IT meets Press in München.
Foto: Witte/Miedl

Als wichtigsten Treiber sieht der Crisp-Analyst indes das Endkundensegment, wo Fitnessbänder, intelligente Uhren oder auch Sensor-bestückte Socken die Gesundheitsbranche in Schwung bringen sollen. "Auch wenn aus Gründen des Datenschutzes in Deutschland noch eine gewisse Skepsis vorherrscht, sehen wir im boomenden Lifestyle-Bereich die größte Bereitschaft zum Teilen von Daten", sagte Velten.

Drei Angriffspunkte der Digitalisierung

Johannes Helbig, Vorstandsvorsitzender des SOA Innovation Lab, machte drei "Angriffspunkte" der Digitalisierung aus, die jeweils einen unterschiedlichen strategischen Fokus benötigten. So gehe es zunächst um die Digitalisierung des eigenen Produkt- und Leistungsangebots. Neue Geschäftsmodelle kämen auf, die auf digitalen Services und Produktmerkmalen beruhten und künftig mit über die Wettbewerbsfähigkeit entschieden.

Darüber hinaus gehe es um die Digitalisierung der Leistungserbringung - beispielsweise der Fertigung im Sinne von Industrie 4.0. Und schließlich betreffe die Digitalisierung auch alle übrigen Geschäftsfunktionen im Unternehmen in mehr oder weniger starker Ausprägung - etwa in der Art und Weise wie Mitarbeiter auf sozialen Plattformen zusammenarbeiteten (Collaboration).

Helbig sagte, jedes Unternehmen werde sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, was die Digitalisierung für seine Produkte und Services bedeute. Das gelte für alle Branchen. "Die Digitalisierung löst die hergebrachten Industriestrukturen auf und verschiebt die Position der Unternehmen in der Wertschöpfungskette - oft dramatisch."

Rehabilitierung von SOA

Neue Geschäftsmodelle erforderten neue IT-Strukturen in den Unternehmen: Wo Wertschöpfungsnetzwerke über Unternehmensgrenzen hinweg neu verknüpft werden sollen, erleben modulare, service-orientierte Architekturkonzepte als Voraussetzung gerade eine Renaissance, sagte Helbig, der 2010 von der COMPUTERWOCHE und dem CIO Magazin zum "CIO des Jahres" gewählt worden war - damals als IT-Chef der Post im Unternehmensbereich Brief. Solche flexiblen Architekturansätze ermöglichten zudem die Flexibilität, die man angesichts unsicherer Marktentwicklungen benötige: Entwicklungszyklen von fünf Jahren seien zum Explorieren neuer Geschäftsmodelle keine Option.

Thomas Stöcker, Vice President Business Development bei der Unternehmens- und IT-Beratung NTT Data, gab Helbig recht: Die IT müsse sich vor dem Hintergrund des rasanten Wandels auf Strukturmodelle wie Service-orientierte Architekturen besinnen, um modulare Services anbieten zu können. "Bisher war die IT auf Langlebigkeit mit Zyklen von fünf und mehr Jahren ausgerichtet. Das widerspricht heutigen Innovationszyklen, die oft zwischen einem halben und einem Jahr liegen. Die Enterprise IT muss, um den Anforderungen in einer digitalisierten Welt gerecht zu werden, an Agilität und Flexibilität gewinnen. Dabei müssen IT-Anbieter und Dienstleister unterstützen."

IT der zwei Geschwindigkeiten

Die Idee einer IT-Organisation der zwei Geschwindigkeiten brachte Tolga Erdogan, Director Solutions & Consulting beim IT-Dienstleister Dimension Data, ins Spiel: "Ein sinnvoller Schritt, um die Herausforderungen zu meistern, ist die Zweiteilung in Tanker und Schnellboote. So erreicht die Organisation die notwendige Flexibilität, um parallel zum Betrieb neue Ideen ohne Risiko auszuprobieren. Die IT muss sich flexibel und modular organisieren, um disruptive Technologien zu integrieren und entsprechende Services bereit zu stellen."

Werner Reuss, Internet of Things Commercial Lead bei Microsoft, betonte die wichtige Rolle von Cloud Computing als Basistechnik, um zu flexibleren Strukturen zu kommen und beispielsweise vom "Internet of Your Things" zu profitieren. Reuss sagte: "Dank des vergleichsweise geringen Kapitaleinsatzes bei Cloud-Lösungen muss dieser Prozess der Digitalisierung gar nicht disruptiv sein. Heute reicht oft eine gute Idee aus, die auf vorhandenen Technologien aufbaut und den Wettbewerb mit neuen Innovationen herausfordert."

Reuss nannte das Beispiel des Armaturenherstellers Alois F. Dornbracht, der mit der intelligenten Vernetzung von Wasserinstallationen in Bad und Küche eine neue Qualität von Serviceleistungen geschaffen habe. So werde der Wasserverbrauch reduziert, Energie gespart und die Umwelt geschont. Dem Microsoft-Manager zufolge ist im Zuge des Industrie 4.0-Trends eine Entwicklung zu mehr Individualität und kleinteiliger Produktion zu beobachten. In der Fertigung komme man dem alten Ideal der "Losgröße 1" nun tatsächlich näher.

Die Hersteller können nicht immer liefern

Für den IT-Anwenderverband VOICE e.V., in dem sich deutsche CIOs organisieren, sprach Patrick Quellmalz. Der Leiter IT-Benchmarking beanstandete, dass die Hersteller oft nicht die passenden Produkte für die Digitale Transformation liefern können. "In der Fertigungsindustrie kann einer der größten Ausrüster die Anlagen nicht so zur Verfügung stellen, dass diese in Industrie 4.0 Szenarien sicher eingesetzt werden können." Schließlich legte er den Finger noch in eine weitere Wunde der IT - die mangelhafte Selbstvermarktung: "Die Anbieter verkaufen ihre Lösungen zunehmend direkt in die Fachbereiche, die IT muss den Zoo hinterher oft wieder einfangen. Hier müssen Fähigkeiten für die Kommunikation und Überzeugungskraft wiedergewonnen werden, um dem Business die eigene Potenziale und Lösungen zu vermitteln."

Fazit

Die Diskussionsteilnehmer appellierten an die Unternehmen, das Thema digitale Transformation wirklich ernst zu nehmen. Die Veränderungen kämen, und sie seien unausweichlich. Es gelte, bisherige Geschäftsmodelle zu überdenken und flexible Grundlagen für neue Geschäftsmodelle in der IT-Architektur zu schaffen. IT-Anbieter und Anwendervertreter waren sich einig, dass sie die großen Herausforderungen durch Digitalisierung, etwa die semantische Integration oder den hohen Sicherheitsanspruch, nur gemeinsam meistern können.