Anwender halten an ihren Systemen fest

Anwender halten an ihren Systemen fest Proprietäre Server - ein Fall für die Deponie?

19.03.1999
CW Bericht, Wolfgang Herrmann MÜNCHEN - Der Siegeszug von Unix und Windows NT hat die proprietären Systeme zu Auslaufmodellen degradiert. Das zumindest behauptet so mancher IT-Hersteller. Doch die Realität sieht anders aus. Server unter den Betriebssystemen MPE, VM/VSE oder Open VMS bilden in vielen Unternehmen nach wie vor die Knotenpunkte für geschäftskritische Aufgaben. Anwender loben die Stabilität und einfache Verwaltbarkeit der DV-Dinos.

"Meine HP 3000 arbeitet ab zwei Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen um sechs ohne Betreuung", sagt Peter Herpich, DV- Leiter beim Maschinenbauer Lindauer-Dornier. "Auf der 3000er läuft alles, was kritisch ist." Ein 24-Stunden-Betrieb an sieben Tagen in der Woche sei deshalb unabdingbar.

Unter dem Betriebssystem MPE fährt das mittelständische Unternehmen mit Sitz in Lindau unter anderem ein eigenentwickeltes Produktionsplanungs- und steuerungs-System (PPS). Kaufmännische Anwendungen wie Lohn- oder Anlagenbuchhaltung wurden von unabhängigen Softwarehäusern für das seit 1972 vermarktete Hewlett-Packard-System geschrieben.

Lindauer-Dornier gehört zu den rund 2500 Anwendern in Deutschland, die noch mit den als "proprietäre Altlast" verschrienen Midrange- Servern HP 3000 arbeiten.

Eine Migration auf eine andere Plattform ist für Herpich "kein Thema". Er lobt vor allem die Robustheit der drei installierten Maschinen. "Stabilität ist das hervorstechende Merkmal der HP 3000." Seine Kollegen, die NT-Systeme oder PC-Technik betreuen, müßten oft am Wochenende oder nachts präsent sein, nur um den Betrieb dieser Rechner sicherzustellen.

Unternehmenskritische Anwendungen fährt auch die Firma Häfele mit Sitz in Nagold auf proprietären Rechnern. Der Zulieferer für das holzverarbeitende Handwerk und die Möbelindustrie setzt seit mehr als 20 Jahren die IBM-Betriebssysteme VM und VSE ein. VM dient dabei als Trägersystem für das in der Branche als Low-end- Mainframe-Betriebssystem bekannte VSE. Auf dem Server unter VSM/VSE (IBM 9672 R24) liefen fast alle geschäftskritischen Anwendungen, berichtet Horst Reichardt, Leiter Systemtechnik: Eigenentwickelte Programme für Materialwirtschaft, Logistik, Vertrieb und Beschaffung etwa; ein Finanzmodul wurde zugekauft. "Die Programme sind zwar schon ein paar Jahre alt, wurden aber regelmäßig pro Anwendungsgebiet aktualisiert oder neu geschrieben", so Reichardt.

Eine Migration auf ein anderes System komme "innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre nicht in Frage". Für Reichardt liegt das wichtigste Argument für ein Festhalten an VSE in der großen Basis eigenentwickelter Anwendungen: "Wir waren über viele Jahre hinweg gezwungen, Software selber zu schreiben, weil es für unsere Branche keine geeignete Standardsoftware gab." Außerdem versprach man sich dadurch Wettbewerbsvorteile. "Mit den eigenen Anwendungen haben wir einen sehr hohen Integrationsgrad erreicht", so der DV-Verantwortliche. Gleichwohl entwickeln die Programmierer bei Häfele nicht nur für den Großrechner, sondern zunehmend auch in Client-Server-Technik. Langfristig ist die Ablösung des Hosts vorgesehen.

Der Halbleiterhersteller Philips Semiconductor dagegen will noch mindestens zehn Jahre an seinen Servern unter dem Betriebssystem Open VMS festhalten. Das Unternehmen beschäftigt am Standort Hamburg rund 2000 Mitarbeiter. Die Fertigung diverser Halbleiterprodukte steuert Philips mit zwei großen Vax-Clustern der ehemaligen Digital Equipment. Diese arbeiten derzeit noch mit proprietären Vax-Prozessoren, sollen jedoch im Sommer auf Alpha- CPUs umgestellt werden. "Mit einer Migration auf ein anderes Betriebssystem würden wir aber nichts gewinnen", meint Elmar Folba aus der Abteilung Datenverarbeitung. "Wir rechnen damit, daß Open VMS sicher noch zehn Jahre lang verfügbar sein wird." Die wichtigsten Eigenschaften des gut 20 Jahre alten Betriebssystems sind für ihn eine "grenzenlose Stabilität" und die Clustering- Fähigkeiten.

Ein weiteres Argument der Besitzer proprietärer Systeme ist die einfache Verwaltbarkeit der Maschinen. "Wenn man sich vor Augen hält, welche Manpower benötigt wird, um die sogenannten offenen Systeme auf Dauer betriebsbereit zu halten, dann ist der Anschaffungspreis sekundär", erläutert DV-Leiter Herpich. Zwar lägen die Anschaffungskosten proprietärer Systeme deutlich über denen vergleichbarer Unix- oder NT-Server. Diese Differenzen würden aber durch den geringeren Administrationsaufwand und die Stabilität der Systeme mehr als kompensiert.

Herpich belegt seine Aussage mit hausinternen Zahlen. Berechnungen der Controlling-Abteilung hätten ergeben, daß die Kosten der DV bei Lindauer-Dornier gemessen am Umsatz nur 1,4 Prozent betrügen. Nach Angaben des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) liege der Durchschnittswert in Deutschland bei 2,4 Prozent für die Maschinenbaubranche. In den USA gehe man gar von 3,3 Prozent aus.

Andreas Zilch, Analyst bei der Meta Group in Bad Homburg, plädiert demgegenüber für eine differenziertere Betrachtung: Einerseits seien die niedrigen Verwaltungsaufwendungen tatsächlich auf ausgereifte System-Management-Funktionen zurückzuführen, wie auch von Herstellern so dargestellt. Auch das vorhandene Know-how bei den Anwendern trage dazu bei.

Andererseits sei der Administrationsaufwand aber auch deshalb so niedrig, weil es sich um statische Systeme handle, die kaum Veränderungen unterworfen seien. Umgebungen wie beispielsweise Windows NT, die laufend modifiziert würden und zudem schnell wüchsen, verursachten naturgemäß höhere Administrationskosten.

Zilch empfiehlt außerdem, nur dann an proprietären Systemen festzuhalten, wenn das Jahr-2000-Problem befriedigend gelöst sei. Davon könne man nicht in allen Fällen ausgehen.

Bei Lindauer-Dornier zumindest scheint der Jahrtausendwechsel kein Hindernis darzustellen. "Das ist bereits erledigt", berichtet Herpich. Eigenentwicklungen unter MPE habe man bereits vor zwei Jahren für den Jahrtausendwechsel vorbereitet. In den Anwendungen werden zum Teil Datumswerte verwendet, die weit in die Zukunft reichen. Deshalb war eine frühzeitige Umstellung nötig. Auch die eingekaufte Standardsoftware von den Softwarehäusern All-Seitz, AC Service und OSG sei bereits Jahr-2000-fähig gemacht worden.

Bei Philips Semiconductor war der Datumswechsel angeblich ebenfalls "kein großes Thema". Laut DV-Mitarbeiter Folba mußte der Hersteller "keine fünf Softwareprodukte" umstellen, die zudem alle nicht geschäftskritisch gewesen seien. Die eigenentwickelte PPS- Anwendung sei von Anfang an Jahr-2000-fest ausgelegt worden. Nach Angaben von Compaq ist Open VMS seit der Version 5.5-2 Jahr-2000- fähig (aktuelle Version: 7.2). Auch Hewlett-Packards MPE-System ist nach Herstellerangaben seit November 1997 auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet.

Horst Reichardt von der Firma Häfele verläßt sich bei der Datumsumstellung auf IBM. Der Hersteller garantiere die Jahr-2000- Tauglichkeit von VM/VSE. Installierte Anwendungen seien bereits umgestellt.

Die Marketiers der DV-Dinos sehen das Ende der Systeme denn auch noch längst nicht gekommen. Jürgen Rehm etwa, Presseverantwortlicher für IBMs Großsysteme, spricht von einer "erstaunlichen Treue der Kunden zu VM/VSE". Erstaunlich ist in der Tat, wie lange sich das System schon auf dem Markt halten kann: 1998 feierte VSE das 33jährige Jubiläum - eine kleine Ewigkeit im schnellebigen IT-Geschäft. Klaus Göbel aus dem VSE- Entwicklungszentrum der IBM in Böblingen ist sich sicher: "VSE wird es noch viele, viele Jahre geben."

Analyst Zilch mag diese Ansicht nicht teilen. "Alle proprietären Systeme werden vom Markt verschwinden", glaubt der Meta-Group- Mann. Eine Ausnahme bilde lediglich die AS/400, die die Meta Group aber nicht mehr als proprietär einstufe. Zilch führt eine Reihe gewichtiger Argumente an, die gegen die Rechnerboliden sprechen. "Sie kriegen keine Standardsoftware mehr für diese Systeme, keine Tools und keine weiterentwickelten Programmierumgebungen." Zwar könne man eigenerstellte Anwendungen bis zu einem gewissen Grad weiter pflegen, aber: "Das dazu nötige Wissen stirbt aus. Die Leute gehen schlicht und ergreifend in den Ruhestand oder machen etwas anderes." Die meisten Know-how-Träger in den Unternehmen seien über 50 Jahre alt. Über kurz oder lang entstünden zudem Ersatzteilprobleme.

Die Hersteller ficht solche Kritik offenbar nicht an. Compaqs CEO Eckhard Pfeiffer verspricht seinen Kunden vollmundig: "Die Open- VMS-Plattform war nie besser in Form, und ihre Zukunft war nie sicherer." (Siehe Kasten: "Die Pläne der Hersteller".)

Von mangelndem Selbstbewußtsein kann auch bei Hewlett-Packard nicht die Rede sein. HP-3000-Produkt-Manager Horst Kanert etwa verweist auf die vielen Vorzüge von MPE: abwärtskompatibel über alle Versionen, Posix-zertifiziert für die Nutzung von Unix- Funktionen und eine riesige Softwarebasis.

Bereits im April 1997 habe man einen Zehnjahresplan für die Weiterentwicklung der Plattform vorgelegt. Die nächste MPE-Version (6.1) soll unter anderem mit dem "Apache Server" für den Einsatz als Web-Server ausgeliefert werden. Ob das ausreicht, um die Zukunft der proprietären Systeme zu sichern, steht dahin. Kanert jedenfalls verteilt unverdrossen goldene Ansteckbuttons mit der Aufschrift: "MPE forever".