Anspruch und Wirklichkeit der Ergonomie Software kann sich nur bei anderer Arbeitsweise aendern Von Manfred Kroh*

18.06.1993

*Manfred Kroh ist Management-Berater und Geschaeftsfuehrer der KSS GmbH, Koeln.

In der Steinzeit der DV - die erst einige Jahrzehnte zurueckliegt - waren die Moeglichkeiten der SW-Entwicklung sehr begrenzt. Da es galt, kostbaren Speicherplatz optimal auszunutzen, diktierte die Hardware das Machbare. Die seither denkbar gewordenen ergonomischen Verbesserungen sind auch an neue Formen der Arbeitsorganisation gebunden.

Eine neue Aera der DV-Geschichte hat begonnen: Nicht mehr die Technik bestimmt die Anwendung, sondern umgekehrt die Anwendung die Technik.

Der enorme Preisverfall im Hard- und Softwarebereich bei explosionsartiger Verbesserung der Leistungsfaehigkeit, Programmiersprachen der vierten und fuenften Generation sowie neue Methoden der Software-Entwicklung etwa durch objektorientierte Programmierung erlauben auch eine immer bessere Orientierung an den praktischen Erfordernissen.

Der Stand der technologischen Entwicklung wuerde es zulassen, erst die Software und dann die genau dazu passende Hardware zu entwickeln. Es ist sogar ein noch weitergehender Schritt denkbar, naemlich, dass von der Anwendung ausgehend erst die Software und dann die Hardware dazu entwickelt wird.

Es ist mehr gefordert als

nur Oberflaechenkosmetik

Das derzeitige Bemuehen konzentriert sich auf die optimale Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstellen. Bei zeitgemaessen Softwareprogrammen sind grafische Oberflaechen, die ein komfortables Arbeiten ermoeglichen und den Einarbeitungsaufwand reduzieren, zumindest in der PC-Welt bereits eher die Regel als die Ausnahme.

Software-Ergonomie ist zu einem Schlagwort geworden. Erschoepft sich der Anspruch auf Ergonomie aber in der Gestaltung der Oberflaechen, handelt es sich um reine Oberflaechenkosmetik.

Ergonomie ist die Wissenschaft von der besten wechselseitigen Anpassung zwischen dem Menschen und seinen Arbeitsbedingungen. Ergonomie verlangt, dass eine Arbeitsaufgabe mit Hilfe der Technik durch eine optimale menschengerechte Auslegung so einfach und so wenig belastend wie nur moeglich durchgefuehrt werden kann.

In letzter Konsequenz muss Software an menschliche Beduerfnisse angepasst werden. Ein hoher Anspruch - denn jeder Arbeitsplatz und die damit verbundene, vom Menschen zu leistende Arbeitsaufgabe ist individuell verschieden, genauso wie die Menschen selbst.

Gemessen daran kann man die bisher verfuegbare Software nicht im umfassenden Sinne ergonomisch nennen. Mittlerweile bestimmt zwar weniger die Hardware als die Software das Machbare, aber trotz aller Fortschritte bei der Gestaltung der Oberflaechen geben Softwareprogramme Ablaufschemen vor, denen sich Anwender unterzuordnen haben. Sie pressen sie in ein Korsett aus starren Vorgaben. Daran aendern auch die kleinen Ansaetze in Richtung Benutzerfreundlichkeit nichts. Der Anwender kann zwar entscheiden, welche Hintergrundfarbe sein Bildschirm hat - die Software an sich allerdings ist fertig und kann sich nicht mehr entwickeln.

Der Anwender kann nicht sagen: "Neben dem Feld 'Artikelnummer' moechte ich auch das Feld 'Artikelbezeichnung' sehen, und zwar nicht oben links, sondern unten rechts auf der Maske. Ich moechte als naechsten Menuepunkt direkt ins Rechnungswesen und nicht erst ins Bestellwesen". Vielmehr muss sich der User an das halten, was ihm vorgegeben wird, da wir (vorlaeufig) mit statisch strukturierten Systemen arbeiten.

Starre Ablaufschemen stossen zunehmend an eine Grenze. Betrachtet man die Entwicklung in vielen DV-Unternehmen, ist eine deutliche Tendenz zur Aufloesung herkoemmlicher, hierarchischer Strukturen zu erkennen. Ueberall werden eigenstaendige Geschaeftseinheiten gebildet, in denen kleinere Einheiten und Projektteams immer wieder neue Aufgaben uebernehmen. Unter einem Dach entstehen viele selbstaendige kleine Unternehmen, die ergebnisorientiert gefuehrt werden.

Neue Organisationsformen erfordern aber auch eine neue Art der Unterstuetzung durch DV. Die Software-Entwicklung der Zukunft wird dem allgemeinen Trend zunehmender Individualisierung folgen. Verlangt werden flexible Systeme fuer flexible Organisationen. Es ist absehbar, dass bisherige Informationssysteme, die auf Effizienzsteigerung mit hoch standardisierten Arbeitsablaeufen ausgerichtet sind, den veraenderten Anforderungen bald nicht mehr gerecht werden koennen.

Benoetigt werden Loesungen, die ganze Geschaeftsprozesse und meist schwach strukturierte, komplexe Arbeitsaufgaben unterstuetzen.

Soll Software wirklich ergonomisch sein, muessen wir von der Software- zur Anwendungsentwicklung gelangen. Das heisst, Anwender, die ihre Arbeitsgebiete selbst am besten kennen, muessen in den Entwicklungsprozess einbezogen werden.

Erst wenn wir diesen Schritt vollzogen haben, kann man von verwirklichter Ergonomie sprechen. Da Ergonomie etwas hoechst Individuelles ist, muss sie sich an der Stelle entwickeln, wo sie gebraucht wird - am Arbeitsplatz. Anwendungsentwicklung hat also von den Anforderungen des Arbeitsplatzes auszugehen.

Auch eine Black box:

Menschliche Beduerfnisse

Bei der Software-Entwicklung werden in Zukunft soziale Prozesse im Vordergrund stehen und nicht die Technik. Auf diese Entwicklung sind die Informatiker noch nicht vorbereitet. Da ihnen oft die erforderlichen sozialen Kompetenzen fehlen, entwickeln sie Software nach wie vor weitgehend losgeloest von Anwendern. Nuechtern betrachtet zeigt sich dabei ueberall dieselbe Struktur: In der Ueberzeugung, ergonomisch Hervorragendes zu leisten, entwickeln Informatiker Software und lassen dabei den Anwender ausser acht.

Die Tatsache, dass wir immer noch nicht ueber im eigentlichen Sinne ergonomische Software verfuegen, ist nicht in der Technik begruendet, sondern vor allem im ungenuegenden Zugang zu menschlichen Beduerfnissen und sozialen Prozessen.

Woher soll aber auch das

dafuer notwendige Verstaendnis kommen? An den Universitaeten ausschliesslich geschult in technischem Denken, sollen sich Informatiker nun ploetzlich in Menschen einfuehlen und deren Arbeitsablaeufe nachempfinden. Damit sind sie oft schlichtweg ueberfordert.

Genau das ist der Grund, weshalb wir noch nicht ueber eine Software verfuegen, die wir - technisch gesehen - bereits realisieren koennten.

In der Technikentwicklung ist ein allmaehliches Fortschreiten vom Groben zum Feinen zu beobachten. Zunaechst schuf der Mensch einfache Maschinen, die mechanische Funktionen abbildeten. Getrieben von dem Wunsch, Arbeit an die Maschine zu delegieren, gelang es ihm tatsaechlich, dieser immer kompliziertere Arbeitsablaeufe zu uebertragen. Langsam, aber stetig, entwickelte er mit den Computern raffinierte Gehirnmaschinen. Der Spielraum erweiterte sich. Zunehmend gelang es, selbst organisatorisch- administrative Abwicklungen maschinell nachzubilden. Das Verstaendnis fuer Ergonomie entwickelt sich parallel dazu in einem langsamen Prozess.

Bei Hard- und Software geraten wir zunehmend in den Bereich des Bewusstseins, in die menschliche Informationsverarbeitung und damit in Unwaegbarkeiten. Noch ist unsere Einsicht hier unzureichend. Die Software-Entwicklung haelt uns einen Spiegel vor, der uns zeigt, was wir davon verstehen - naemlich nicht sehr viel.

Eine Orientierung am Sichtbaren erschwert es, dem Unsichtbaren Struktur zu verleihen. Dem menschlichen Bewusstsein naehern sich Informatiker nach wie vor durch Versuch und Irrtum an.

Der Begriff "Black box", mit dem etwa die KI-Forschung das Unsichtbare belegt, bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck. Bei menschlichen Beduerfnissen und Arbeitsablaeufen handelt es sich um schwer fassbare Prozesse. Sich in sie einzufuehlen, verlangt ganz besondere Qualitaeten, ueber die unsere Techniker bislang eben nur begrenzt verfuegen.

Objektorientierung als

ein moeglicher Ausweg

Software, die sich den staendig wechselnden Anforderungen des Benutzers anpasst, nennen wir evolutionaere Software. Entstehen kann sie durch objektorientierte Programmierung (OOP). Diesem Ansatz zufolge denkt der Mensch in Objekten mit ihren Ausformungen, ihrem Verhalten und ihren Beziehungen zueinander. Da es diese Methode ermoeglicht, die Welt mit ihren zahlreichen unterschiedlichen Objekten besser abzubilden, wird auch die Entwicklung ergonomischer, also beduerfnisgerechtere Software machbarer.

Diese Zielsetzung verlangt es aber auf ganz andere Weise in Organisationsablaeufe einzudringen, als dies bisher geschah. Die Moeglichkeiten zur Entwicklung beduerfnisgerechter Software, wie sie uns die technische Entwicklung allmaehlich zugaenglich macht, ist von einem umfassenden Lern- und Bewusstwerdungsprozess abhaengig. Die bisher verfuegbare Software haelt uns nicht zuletzt auch einen Spiegel ueber unsere Art zu arbeiten vor. Wollen wir andere Software haben, muessen wir beginnen, auf eine andere Weise zu arbeiten - dann aendert sich die Software von selbst.

Kroh: Starre Arbeitsablaeufe sind nicht mehr gefragt