Angst essen Microsoft auf

15.11.2005
Gründer Bill Gates und Technikchef Ray Ozzie fordern von ihrer Firma einen radikalen Wandel in der Art und Weise, wie sie Software und Dienste entwickelt.

Vergangene Woche geriet ein internes Microsoft-Memo vom 30. Oktober an die Öffentlichkeit, das Gates an hochrangige Manager und Entwickler von Microsoft geschickt hat. Darin appellierte der Softwarepionier, Microsoft müsse neue Techniken besser adressieren, mit denen künftig im Netz Geld zu verdienen sei. "Der nächste Gezeitenwechsel rollt auf uns zu", warnte der Firmengründer.

Zugrunde liegt dem Gatesschen Appell ein Memo des neuen Chief Technology Officer (CTO) Ray Ozzie. Der wiederum beschreibt einige Chancen, die Microsoft verpasst hat, und zieht seinen Hut vor Firmen wie Google, Salesforce.com oder Skype Technologies, die Internet-Dienste vorangebracht hätten.

Tragende Rolle für Ozzie

Das Memo wirft ein neues Licht auf Microsofts Reorganisation in drei Geschäftsbereiche, von denen jeder neue Online-Dienste zum bestehenden Produktportfolio des Unternehmens hinzufügen soll. Es zeigt außerdem, dass Ozzie beim Vorantreiben solcher gebühren- oder werbefinanzierten Dienste eine tragende Rolle zukommt. Erst kürzlich hatte der Notes- und Groove-Erfinder bereits "Windows Live" und "Office Live" gemeinsam mit Gates präsentiert und dabei erklärt, wohin die Reise gehen soll.

Ozzie forderte jede der drei Unternehmenssparten auf, einen Plan für die Entwicklung ihrer eigenen Dienste vorzulegen. Bis Mitte Dezember sollen außerdem in jeder Division neue Topmanager ernannt werden. "Es ist klar, dass wenn wir das nicht hinbekommen, unser Geschäft, so wie wir es kennen, auf dem Spiel steht", schreibt der CTO. "Wir müssen rasch und entschieden antworten."

Die Mails von Gates und Ozzie wertet das "Wall Street Journal" als bislang klarsten Beweis dafür, wie ernst Microsoft die Bedrohung durch eine neue Generation sich rasch ändernder Internet-Dienste nimmt. Gates zieht einen Vergleich zu zwei früheren Krisenzeiten seiner Firma: Zunächst hatte Microsoft recht spät auf das Web reagiert, das Gates 1995 selbst als "die Internet-Flutwelle" bezeichnete. Eine zweite Memo aus dem Jahr 2000 mahnte die Mitarbeiter, Internet-fokussierte Softwareentwicklung ernster zu nehmen.

Mittlerweile hat das Netz Services hervorgebracht, die an die Stelle lizenzierter Software treten können und sich häufig über Werbung finanzieren. Darauf hat Microsoft bereits mit MSN und den neuen Live-Ankündigungen reagiert.

Trotzdem erlöst der Softwarekonzern noch immer das meiste Geld mit Software, die auf den Rechnern von Nutzern installiert ist und deren Entwicklung schmerzlich lange dauert. Als Unternehmen, das technische Standards setzt, an denen sich andere Programmierer orientieren, verliert Microsoft aus Sicht von Ozzie mehr und mehr an Bedeutung. Entwickler ziehen seiner Beobachtung zufolge einfachere Techniken vor, mit denen sie schnell Web-Services bauen können.

Ozzie fordert, dass sich Microsofts Betriebssystem- und MSN-Abteilungen zusammentun, um ein neues "Softwarekochbuch" für die Erstellung von Services zu definieren - eine "Internet-Diensteplattform der nächsten Generation", die Innovation sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens befördern soll.

Das Memo beweist, welche Machtfülle Microsoft Ozzie - als Chefentwickler von Lotus Notes noch ein arger Konkurrent - nach nur acht Monaten im Unternehmen einräumt. Von seinen technischen Visionen wird es in den kommenden Jahren abhängen, ob Microsoft seine dominierende Rolle im Softwaremarkt beibehält.

Und natürlich von Bill Gates selbst, der als Chief Software Architect weiterhin den Überblick über alle Microsoft-Produkte haben wird. Leute, die mit seiner Denke vertraut sind, wissen aber auch, dass der Microsoft-Gründer Manager fördert, die über den Tellerrand schauen und ihn teilweise entlasten könnten.

Microsoft habe zwar bei Internet-Diensten "gute Fortschritte" gemacht, mahnte Ozzie in seinem Memo, doch gebe es "eine Reihe sehr starker und zielgerichteter Wettbewerber, deren Fokus laserscharf auf Internet-Dienste und servicefähige Software gerichtet" sei.

"Wir hätten mit all unseren Web-Liegenschaften führend sein können, wenn wir das Potenzial von AJAX und unsere Pionierarbeit bei OWA (Outlook Web Access) ausgenutzt hätten", so der Technikchef. Obwohl Microsoft sehr wohl um die Bedeutung von Internet-Suche gewusst habe, "hat Google durch seine Fokussierung eine unglaublich starke Position erreicht", heißt es weiter.

Googles breite Investitionen in das Netz - auch wenn man noch nicht absehen könne, welche davon einmal Früchte tragen würden - "könnten sich letztlich zu einer substanziellen Bedrohung für unsere Angebote entwickeln". Yahoo hingegen sei doch eher eine Medienfirma und nutze (abgesehen von seiner Werbetechnik) seine Plattformfähigkeiten hauptsächlich als internes Asset.

Apple in der Spur

"Das Gleiche gilt für Apple, das bei der Integration von Hardware, Software und Services zu einer durchgängigen Umgebung mit Dot Mac, iPod und iTunes einen beneidenswerten Job gemacht hat, aber weniger daran interessiert zu sein scheint, Entwicklern beim Bau substanzieller Produkte und Geschäfte zu helfen", so der CTO weiter.

Und obwohl Kommunikationssoftware von Microsoft Telefongespräche über das Internet durchaus beherrsche, "war es doch Skype und nicht wir, die Voice over IP richtig populär gemacht haben", schreibt Ozzie.

Auch mobiles Messaging habe Microsoft seit langem verstanden, aber "erst jetzt überholen wir den Blackberry". Und die Office-Suite schließlich verwende zwar wichtige Web-Techniken, aber sie sei "noch nicht die Quelle zentraler Web-Datenformate" so wie Adobe Systems’ PDF für den Umgang mit elektronischen Dokumenten.

Wettbewerber "beißen sich fest"

Welche Services und Software Microsoft letztlich schaffen wird, definiert der CTO nicht spezifisch. Er betont lediglich, dass sie "nahtlos" sein werden - entworfen für eine Umgebung, in der Nutzer zwischen PCs, Notebooks, Taschencomputern, Mobiltelefonen und Spielekonsolen wechseln.

Die kommende "Servicewelle" werde "sehr durchschlagend" sein, betont Gates in seiner Mitteilung. "Wir haben Wettbewerber, die sich an diesen Ansätzen festbeißen und uns herausfordern werden - dennoch ist unsere Chance zu führen, da."