"Softwerker" in St. Petersburg - verlängerte Werkbank des Westens? (Teil 3)

Angelsächsische Länder haben längst Brückenköpfe an der Newa

27.10.2000
ST. PETERSBURG - Der Mangel an IT-Experten in Deutschland rückt immer mehr Alternativen zur vielzitierten "Green Card" in den Blickpunk. Vor allem in Mittel- und Osteuropa bieten sich für IT-Firmen bisher nur zaghaft genutzte Kooperationsmöglichkeiten zur Softwareentwicklung an. Anknüpfend an die einst von Zar Peter I. begründete Rolle als Vermittler zwischen Russland und den westeuropäischen Staaten will die alte Zarenmetropole St. Petersburg hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Alexander Egorov und Mathias Weber* haben vor Ort recherchiert.

Kenner der Szene verweisen immer wieder darauf, dass die St. Petersburger Softwareindustrie bisher vorrangig für die skandinavischen und englischsprachigen Länder arbeitet, während sich Staaten aus dem romanischen Sprachraum, aber auch Deutschland, dort bisher nur sehr zurückhaltend engagierten. Vor allem deutsche Unternehmen verbauen sich mit Vorurteilen viele interessante Geschäftsmöglichkeiten. Dabei ist die Zeit längst auch für deutsche IT-Mittelständler reif, an der Newa aktiv zu werden.

Zu den international bekannten Firmen, die sich das Potenzial an Informatikern und Entwicklern in St. Petersburg längst zu eigen machen, gehören beispielswesie Nokia (Finnland) und Ascom (Schweiz), Italtel (Italien), CSC (Dänemark) sowie aus den USA Harris Electronics, Motorola, Sun Microsystems, Digital Equipment (jetzt Compaq) oder Relativity Technologies. Als geradezu beispielhaft gilt das Engagement von Motorola. Der Mobilfunkspezialist will sein Personal in St. Petersburg von gegenwärtig knapp 200 schrittweise auf 500 Mitarbeiter erweitern. So entstand am hiesigen "Polytech" im Rahmen des Lehrstuhls für Informations- und Steuerungssysteme der Fakultät für Technische Kybernetik das so genannte Motorola-Center, das von seinem Namenspatron durch Stipendien und Mittel für die technische Ausstattung unterstützt wird. Das Center verfügt über die technischen Mittel zur Entwicklung komplexer Softwaresysteme durch große Entwicklerteams unter Berücksichtigung internationaler Anforderungen und Standards - und sichert so gleichzeitig die Aus- und Weiterbildung von Studenten auf höchstem Niveau. Mehr als 20 Projekte wurden inzwischen für Motorola erfolgreich abgewickelt. Gibts Du mir (qualifizierte und billige) Hände, unterstütze ich Dich in der Grundlagenforschung! Das ist - salopp formuliert - das Prinzip dieses Deals.

Ähnlich ist bereits 1994 Digital Equipment verfahren und hat an der Technischen Universität das "Digital-Polytechnic Education & Research Centre" ins Leben gerufen, dessen Kurse im Verlauf der vergangenen sechs Jahre bereits Hunderte von Studenten absolvierten. Die Einrichtung bietet neben Ausbildung, Lehre und Forschung auch Consulting und technischen Service an - und hat ein enges Kooperationsnetz in Russland und im Ausland geknüpft, darunter auch zu deutschen Forschungseinrichtungen. Sun Sun Microsystems wiederum ist an der Staatlichen Universität in St. Petersburg präsent.

Quellcode-Inhaber geben einen VertrauensvorschussBei all diesen Kooperationen geht es, man muss es noch einmal betonen, nicht um Flickschusterei oder esoterische Übungen, sondern um die Entwicklung marktreifer Softwarelösungen. Das setzt natürlich enormes Vertrauen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer voraus, und einen funktionierenden Kommunikationsfluss und reibungsloses Arbeiten zwischen "Quellcode"-Inhaber und "verlängerter Werkbank". Was auch er Fall ist, denn ihre vermeintliche Abhängigkeit von russischen Firmen sehen die Amerikaner gelassen. In einzelnen Fällen kam es inzwischen sogar zur Gründung von Joint Ventures. Zum Beispiel die kalifornische Softwareschmiede Santa Barbara, deren Management (vor allem Finanzen, Marketing und Vertrieb) in den USA angesiedelt ist, während die Entwicklungsabteilung in St. Petersburg unter dem Dach des dortigen Systemhauses Contex residiert.

Wenn auch Skandinavier und Angelsachsen in der Kooperation mit St. Petersburger IT-Unternehmen die Nase vorn haben, gibt es doch auch in der Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen erste vielversprechende Ansätze. Deutschland steht ohnenhin aus Sicht der Russen aus mehreren Gründen auf der Wunschliste für Kooperationen ganz weit oben. So spielen unter anderem die geografische Nähe, die Verfügbarkeit von Experten mit russischen Sprachkenntnissen in Ostdeutschland eine große Rolle. Vor allem aber erhofft man sich von der jetzt neu geschaffenen Plattform des deutschen IuK-Dachverbandes Bitkom weitere Impulse zur Geschäftsanbahnung.

Was nichts daran ändert, dass die Deutschen noch immer eine Art psychologische Barriere überwinden müssen. So zeigen deutsche Firmen, wie russische Experten immer wieder bemängeln, bei ihren Aktivitäten in Russland zu viele Ängste; sprechen auf einschlägigen Konferenzen vorrangig über Probleme, während sich beispielsweise die Amerikaner eher an den "Opportunities" orientieren. Ferner neigen die Deutschen dazu, sämtliche Geschäftsrisiken auf die russischen Auftragnehmer zu verlagern, während Amerikaner oft selber ins Risiko gehen, nachdem sie intensiv die Firmengeschichte ihrer Partner, das Umfeld, deren Technologie und technische Basis sowie auch die Bilanzen geprüft haben.

Nach etlichen Jahren der Unsichtbarkeit engagieren sich mittlerweile auch namhafte Unternehmen wie Debis oder Siemens in St. Petersburg, wenn auch nicht in vergleichbaren Dimensionen wie die Amerikaner. Alexander Bogdanov etwa, Professor am Institut für Hochleistungsrechner und Datenbanken, lobt die Darmstädter Software AG, die am Litmo mit seiner Unterstützung ein Softwarezentrum aufbaut: "Mein deutscher Partner hat eine ziemlich große Kooperation auf die Beine gestellt, nämlich die Entwicklung eines Informationssystem zur Schiffskonstruktion." Für die Stadtverwaltung ist dies laut Bogdanov derzeit eines der zentralen Infrastruktur- und Wirtschaftsförderungsprojekte. Doch auch der St. Petersburger Informatikpapst sieht die deutsch-russischen Kooperationsmöglichkeiten im Moment noch eher zwiespältig. "Deutsche Firmen sind nur unter einer Bedingung bereit, Teile von Projekten nach außen zu geben: Es muss möglich sein, den Fortgang der Arbeiten und den Produktionsprozess täglich zu kontrollieren und zu überwachen. In die dafür nötige Infrastruktur muss die hiesige Softwareindustrie investieren. Dann kommen auch die gewünschten Aufträge."

(wird fortgesetzt)

*Alexander Egorov ist Gründer und CEO des in St. Petersburg ansässigen Softwarehauses Reksoft.Mathias Weber ist Mitarbeiter des IuK-Dachverbandes Bitkom e.V.

DEUTSCH-RUSSISCHE KOOPERATIONEN

Der Status quo

Mittelstandsinteresse:

Anfang bis Mitte der 90er Jahre begannen global agierende Unternehmen mit der Evaluation osteuropäischer IT-Experten. Von den Ergebnissen drang nur wenig an die Öffentlichkeit. Angesichts des Defizits an qualifiziertem Personal ist das Interesse an Partnern im Osten nun aber auch bei deutschen IT-Mittelständlern erwacht. Ein gut vorbereitetes Engagement im Osten kann sich für sie durchaus lohnen.

Hindernisse:

Kooperationen auf dem IT-Sektor zwischen Deutschland und Ländern Mittel- und Osteuropas (MOE) haben noch längst nicht die Dimensionen erreicht, die den beiderseitigen Möglichkeiten entsprechen. Viele deutsche Unternehmer werden durch mangelnde Stabilität im politischen Umfeld abgeschreckt; sie kommen oft zu spät und nutzen vorhandene Angebote und akkumuliertes Wissen nicht. Ohnehin sind derzeit die Vereinigten Staaten "Hauptkonsument" russischer Hightech-Erzeugnisse, während sich das konservative Europa noch zu sehr mit der Rolle eines Zuschauers begnügt. Die Identifikation leistungsfähiger Anbieter ist zudem aufwändig und setzt Recherchen vor Ort sowie die Unterstützung von Insidern voraus. Zur Entwicklung von Kooperationskompetenz auf beiden Seiten ist ein Vorlauf von etwa ein bis zwei Jahren erforderlich.

Marktsegmente:

Kooperationsangebote osteuropäischer Firmen können dann erfolgreich sein, wenn sie sich am unmittelbaren Bedarf deutscher Kunden orientieren. Dazu gehören am ehesten Auftragsentwicklung und Re-Engineering. Für deutsche Unternehmen treten die MOE-Firmen dabei als Partner bei der Verminderung von Kapazitätsengpässen oder der Erschließung von Kostenvorteilen, nicht aber als Wettbewerber auf.

Vorzüge:

Russland verfügt nach wie vor über ein umfangreiches intellektuelles Potenzial, das sich in erheblichem Maße in der Softwareentwicklung ein neues Betätigungsfeld erschlossen hat. Ein 1999 veröffentlichter McKinsey-Report attestiert der russischen Softwareindustrie die mit Abstand höchste Produktivität unter insgesamt zehn untersuchten Branchen in der ehemaligen Sowjetunion. Zwei Dutzend IT-Firmen in St. Petersburg sind mit der Auftragsprogrammierung für westliche Kunden erfolgreich im Geschäft. Sie bringen dabei vor allem auch ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber einigen asiatischen Ländern ins Spiel - spezielles Know-how in der Anwendungsentwicklung und langjährige Mitwirkung an den Hightech-Programmen der früheren UdSSR. Hinzu kommen gut ausgebildete Mitarbeiter, intensive Kontakte zu Hochschulen und ausgefeilte Techniken und Methoden in puncto Projekt- und Qualitäts-Management.