Digital Equipment und Alpha

Analyse

20.11.1992

Eine neue Lawine wurde ins Rollen gebracht; am 10. November 1992 kündigte die Digital Equipment Corp. ihre ersten Alpha-Systeme an. Mit diesen 64-Bit-Rechnern möchte DEC zu neuen Ufern aufbrechen. Als seinerzeit Control Data auf diese Wortlänge setzte, ging es um möglichst genaue Numerik, DEC hingegen eröffnet vor allem riesige Adreßräume, die Rechengenauigkeit wird als Beigabe mitgeliefert.

Ist der Markt reif für eine solche Architektur? Der Endanwendermarkt sicherlich nicht, denn da keimen bereits wieder die Fragen nach einem Cobol-Compiler oder klassischen Transaktionsraten auf. Als ob Cobol oder andere historische

Programmieransätze auf Terabytes direkt adressierbaren Adreßraums ausgelegt waren! Aber bei der Basissoftware für Datenverwaltung und Grafikverarbeitung, für humane Ein- und Ausgabemethoden wie Spreche sowie Bild und nicht zuletzt für multimediale Subsysteme braucht es nicht nur große Adreßbereiche, sondern auch schnelle Prozessoren, wie die der Alpha-Familie. Auch das gesamte Feld der System- und Netzwerk-(selbst)verwaltung erfordert hochkomplexe Verfahren, die mit herkömmlichen Algorithmen kaum abzubilden sind.

Die Marketing-Planer der großen Anbieter verfechten heutzutage zwei Denkschulen. Die einen gehen von einem weitgehend gesättigten Markt, die anderen von ungebrochenen Wachstumschancen aus. Beide Gruppen haben auf ihre Weise recht und auch wieder nicht.

Herkömmliche tastaturorientierte Computer, die Grafik höchstens dazu benutzen, Texte schöner darzustellen, können breiteren Käuferschichten in der Tat nicht mehr zugemutet werden. Solche Systeme verlangen einfach zuviel Anpassung (Schulung) seitens der Benutzer. Der Sekundäraufwand an Computerei zum Erreichen des primären Geschäftsziels steigt mit der Komplexität der Anwendung. Selbst wenn es manchmal noch möglich ist, Beratungs- und Schulungsaufwände wirtschaftlich zu rechtfertigen, so bleibt immer noch die Frage nach dem Wollen des Anwenders offen. Rechner hingegen, die sich nahtlos in menschliche Abläufe und Kommunikation einfügen, weil sie menschliche Mittel und Medien verwenden, werden sicher ganz neue Marktchancen haben. Unter den heutigen wirtschaftlichen Randbedingungen mit extremem Wettbewerbs- und damit Kostendruck sind die Zeiten vorbei, in denen praktisch jede DV-Abteilung aus Roh-Rechnern- spezielle Anwendungssysteme schnitzen konnte. Das gilt um so mehr, als die

herkömmlichen Programmierfertigkeiten für die neuen Anwendungskategorien eher hinderlich sind und insbesondere in Deutschland keine Reform des beruflichen oder gar allgemeinen Bildungswesens zu erhoffen ist, damit neuartige Anwendungsentwickler hervorgebracht werden. Somit ist das Szenario für DECs Erfolg oder Mißerfolg

vorgezeichnet. Zum ersten wird es für Alpha - von einem kurzfristig zu befriedigenden MIPS-Stau abgesehen - keinen nennenswerten Endanwendermarkt geben. Wenn es das DEC-Management schafft, die Vertriebsmannschaft vor allem auf Softwarepartner und OEMs auszurichten und diese Entwicklungshäuser auf seine Seite zu ziehen, dann kann die Alpha-Produktlinie zum entscheidenden Motor eines neuen Wachstumsschubes im

Computermarkt werden. Außerdem darf Digital nicht der Versuchung erliegen, seine Versäumnisse bei den offenen Systemen mit einem Alpha-Unix-Parforceritt wieder auszubügeln. Die alten Untaten sollten ruhen gelassen werden. Denn Unix wird zwar auch bei den 64-Bit-Architekturen eine Rolle spielen; aber mit der Anstrengung, aus minimal-funktionalen Unix-Rechnern ein menschlich kommunizierendes Client-Server-Netz zu entwickeln, durften sich die meisten Softwarehäuser überheben. Also muß auf wesentlich höheren Funktionalitätsebenen (Objekte!) aufgesetzt und demnach standardisiert werden. Erst wenn DEC als eine der Lokomotiven vor einer solchen Bewegung agiert, werden genügend Softwarepartner in die Laze versetzt, eine 64-Bit-Architektur breiten Käuferschichten schmackhaft zu machen - und das mit dem langen Atem, der für die Marktreife neuer, revolutionären Softwaretechnologien stets erforderlich ist. Alpha ist nicht die VAX der 90er Jahre. Die geschäftlichen Schwierigkeiten fast aller großen Computeranbieter zeigen, daß mit dem olympischen Prinzip "Höher, schneller, weiter" in der Informationstechnologie keine Blumentöpfe mehr zu gewinnen sind. Neue Wege bei der Anwendungsarchitektur, den Algorithmen und - vor allem - der Präsentation der Benutzerschnittstellen sind gefragt. DECs neue 64-Bit-Systeme bieten dafür eine erste wirtschaftliche Basis, und sie geben dem gebeutelten Anbieter die Chance, auch mit deutlich weniger Vertriebspersonal, als Lieferant von Computer-Halbfabrikaten wieder an alte Erfolge anzuknüpfen.

Frank-Michael Fischer ist DV-Berater und freier Fachjournalist in Gauting bei München.