Dritte Weltmeisterschaft der Schachcomputer in Linz:

Analogfunktion unterstützt "brutale Gewalt"

24.10.1980

LINZ (ik) - "Belle", das nordamerikanische Programm von Ken Thompson und Joe Condon von den Bell Telephone Laboratories in Murray Hills, New Jersey, USA - ist der neue Weltchampion 1980 des Computerschachs. Im Mittelfeld landeten die favorisierten Exweltmeister-Programme "Chess 4.9" aus den USA und "Kaissa" aus der UdSSR.

An der dritten Schachcomputer Weltmeisterschaft, die unter der

Schirmherrschaft der FIDE und des ICCA im Rahmen der "ars electronica" im österreichischen Linz vom 25. bis 29. 9. 80 ausgetragen wurde, nahmen die 18 besten Schachprogramme aus sieben Ländern teil. Schon die Ergebnisse der US-Meisterschaften 1978 und 1979, bei denen "Belle" zweimal Platz eins belegte, machten die Experten auf die steigende Leistung des neugebackenen Weltmeisters aufmerksam.

Der jüngste Erfolg dürfte nicht zu letzt auf folgende Tatsachen zurückzuführen sein:

Die auf der Basis des DEC-Minicomputers PDP-11/70 von Ken Thompson entwickelte "Chess-Hardware" ist imstande, 160 000 (!) Zugfolgen (Nodes) pro Sekunde zu untersuchen. Andere nach der "Brute Force" - Methode vorgehende Programme vermögen dagegen in der gleichen Zeit nur bis zu 5000 solcher Zugfolgen zu prüfen (etwa Chess 4.9). Das heißt daß "Belle" bei einer durchschnittlichen Bedenkzeit von drei Minuten je Zug an die 30 000 000 Zugfolgen untersuchen kann!

Auch mit rund 250 000 in der Eröffnungsbibliothek gespeicherten Positionen übertrifft "Belle" die übrige Konkurrenz bei weitem. Somit untersucht das Programm in der Mittelspielphase bei voller Suchbreite durchschnittlich sieben bis neun Halbzüge - im Endspiel kann die Berechnung partiell bis zu 30 Halbzügen (15 Züge) reichen. Auch von der Anwendung der sogenannten Assoziationsspeicherung und der Analogfunktion ist bei diesem Programm die Rede.

Auf diese Weise kann das Programm den Wert einer schon einmal vorhandenen Position abrufen, wodurch die mühsame Wiederholungssuche entfällt.

Ferner scheinen Thompson auch die Meßdatenerfassung mit Hilfe einer Analogfunktion für das Computerschach anwendbar zu sein.

Bauern unter Strom

Demnach können zum Beispiel die sonst digital erfaßten Bauerneinheiten durch den Wert einer Stromspannung dargestellt werden. Der Gesamtwert der einzelnen Figuren und Felder kann dann am Schaltbild über den Operationsverstärker abgelesen werden. Es sei dahingestellt, inwiefern dieses neuartige Programmkonzept die Diskussion über die Grenzen der "Brute-Force" - Methode, bei der alle möglichen Zugfolgen geprüft werden erneut aufleben läßt.

Fest steht jedenfalls, daß das "Strategie-Programm" "Belle" allen anderen "A"- und "B"-Strategie-Programmen in diesem Turnier überlegen war.

Mikroprogramme stagnieren

Bittere Niederlagen mußten vor allem die sieggewohnten Teams der Exweltmeister "Chess 4.9" (5. Platz) und der "Kaissa" (10. Platz) einstecken.

Von den relativ jungen Münchner Programmen "Schach 2.3" und "Parwell" hat sich ersteres mit einem Quentchen Glück (Remis in der zweiten Runde) noch einen Platz in der vorderen Tabellenhälfte gesichert. Die Leistungslücke zwischen den besten Großrechner-Programmen und den Schachprogrammen auf Mikrocomputern hat sich allem Anschein nach nicht weiter verringert.

Das leistungsstärkste Mikrosomputer-Schachprogramm "Mychess" von David Kittinger, mit dem Z-80-Prozessor und 30 KB Memory bestückt, konnte immerhin den 13. Platz von 18 Teilnehmen einnehmen (siehe Tabelle).

Gänzlich chancenlos war wider Erwarten der Mikrocomputer-Weltmeister 1980 "Chess Sensory Voice Challenger". Dem "Sargon 3" - Abkömmling von Kathe und Dan Spracklen scheint der Firmenwechsel von der Chafitz Co. zu Fidelity Electronics nicht besonders gut bekommen zu sein.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die in der Linzer WM bestplazierten Programme "Belle" und "Chaos" in den von der Fredkin-Stiftung vorgesehenen Zweikämpfen mit Großmeistern in den USA bewähren werden.

Daß etwa "Belle" durchaus eine Chance hat, zumindest im Simultan oder Blitzspiel einen Großmeister zu besiegen, ist nicht mehr abzustreiten.

Der Münchner Großmeister Dr. Pfleger verlor letztlich gegen "Belle" bei einer Simultanvorstellung in Hamburg.

An einen Sieg gegen den Weltmeister in einer Turnierpartie ist jedoch nach Ansicht von Fachleuten vorläufig nicht zu denken.

Die folgende Partie zeigt, daß die Computerprogramme im Lauf der Jahre auch das Opfern gelernt haben (Siehe Partie 2)

Partie 2

Weiß: Chaos - University of Michigan, Ann Arbor, auf Amdahl 470/V

Schwarz: Nuchess - Northwestern University Evanston, lllinois, auf Cyber 176

Gespielt in der 3. Runde der III. WM in Linz am 27. 9. 80.

Angenommenes Damengambit

Nach den Zügen:

1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 Sf6 4.e3 e6 5.Lxc4 c5 6.De2 a6 7.0-0 b5 8.Lb3 Lb7 9.Sc3 Sbd7 10.Td1 Ld6 11.e4 cxd4 12.Sxd4 Db8 13.g3 b4 14.Sa4 konnte der Chess 4.9.-Abkömmling "Nuchess" von David Slate der Versuchung nicht widerstehen und "verspeiste" im 14. Zug mit seinem Läufer einen vergifteten Bauern:

14...Lxe4?

Dies veranlaßte "Chaos" nach 15 f3! Lb7 zu einem schönen Springer-Opfer.

16.Sxe6!! (Siehe Diagramm 3) 16...fxe6 17.Dxe6+ Kd8 18.Txd6 Dc7

Hier hätte Schwarz auch nicht 18...Te8 retten können, wegen 19.Txd7+ Sxd7 20.Lg5+! Kc7 21.Tc1+

19.Le3! Te8 20.Lb6 Txe6 21.Lxe6 Lxf3 22.Tc1 Ta7 23.Txc7 Txc7 24.Lxc7?

24.Sc5 mit figurengewinn wäre vorzuziehen.

Aber auch nach dem Textzug: 24.Lxc7 Kxc7 25.Txa6 mit Qualitäts- und Bauerngewinn reichte der Vorteil schließlich zum Sieg von "Chaos" im 45. Zug.

Es ist bemerkenswert, daß es zu einer beinahe identischen Stellung schon vor sechs Jahren bei der WM 1974 in Stockholm zwischen "Chaos" und "Chess 4.0" kam. Der weißfeldrige schwarze Läufer begab sich damals im 15. Zug nach g6. Es folgte das gleiche Opfer im Stile von Tal 16.Sxe6 fxe6 17.Dxe6+

An dieser Stelle wählte der Zufallsgenerator von Schwarz (Chess 4.0) die Fortsetzung 17...Le7 und kam nach 18.Te1! Dd8 19.Lf4! Kf8 (es drohte Ld6) 20.Tad1 Ta7 usw. aus der Verlustzone nicht mehr heraus. Diese Niederlage kostete damals "Chess 4.0" den Weltmeistertitel.

Die Wiederholung der gleichen Opfervariante bei "Nuchess" deutet darauf hin, daß die Eröffnungsbibliothek von "Chess 4.9" bedenkenlos von David Slate übernommen wurde.