Standardsoftware für den Vertrieb

An die Spitze durch mehr Dienstleistungen

13.02.1998

Player im Telekommunikationsmarkt, so eine Studie von Pyramid Research, werden in den kommenden fünf Jahren mehr als 200 Milliarden Dollar in neue Technologien investieren, um ihre Marktposition zu verbessern. Damit wächst der Bedarf an Support-Lösungen für die Kundenbetreuung. Aber dabei läßt man es nicht bewenden. Ein funktionierendes Call-Center oder interne Helpdesks sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht mit weiteren unternehmenskritischen Anwendungen in Technik, Marketing und Vertrieb verkoppelt. Zudem müssen Schnittstellen zu technischen und betriebswirtschaftlichen Systemen ê la SAP und Baan vorhanden sein, um die Power des kumulierten Wissens nutzen und just in time distribuieren zu können. Es gibt keinen Zweifel: Damit das Call-Center im Front-Office funktioniert, ziehen leistungsfähige IT-Architekturen im Hintergrund wie Heinzelmännchen die Fäden.

Wer seine Kunden heute nachlässig behandelt, muß sich warm anziehen. Denn damit zeigt er ein Selbstverständnis, das beim Paradigmenwechsel zu mehr Dienstleistung und Wettbewerb seine Existenzberechtigung längst eingebüßt hat. Eine Kurskorrektur ist allerdings gar nicht so einfach: Solange Angestellte glauben, ihr Arbeitgeber finanziere ihnen ihr Gehalt und nicht der Kunde, scheint jede Mühe hoffnungslos. "Oft", so Sozialpsychologe Dieter Frey von der Technischen Universität München, "bleibt Kundenorientierung ein abstraktes Phänomen, das kaum zur gewünschten Verhaltensänderung führt." Dornen pflastern den Weg zum Ziel. Wählt ein Kunde die Nummer eines Dienstleisters, etwa den First Level Support eines Modemherstellers, hegt er konkrete Erwartungen. Lange Wartezeiten oder die Weiterleitung von Kreti zu Pleti sind ihm zuwider. Daß er dabei Standards fordert wie Höflichkeit, Generosität im kleinen, Freundlichkeit und Rundumbetreuung ist selbstverständlich. Doch werden sie auch technisch angemessen unterstützt? Mehr als dreimal darf das Telefon nicht läuten, mehr als einmal der Gesprächspartner nicht wechseln. Eine exakte Ansprache des Kunden schließt die genaue Kenntnis der bisherigen Kontakt- und Problemhistorie mit ein.

Langfristige Kundenbeziehungen setzen eine schnelle und flexible Problemlösung voraus. Unternehmen zögern nicht, ihre Dienstleister zu wechseln, wenn sie unzufrieden sind. Einige US-Telekommunikations-Provider sind schon mit einem Kunden-Turnover von 40 Prozent pro Jahr konfrontiert.

Die eigentliche Power steckt in der IT

Zwar läuft die Ausbildung professioneller Ansprechpartner am Telefon derzeit auf Hochtouren, und erst jüngst hat das Land Nordrhein-Westfalen eine Call-Center-Akademie ins Leben gerufen. Die Hansestadt Bremen empfiehlt sich sogar als "Call Center City", während strukturschwache Gebiete durch die Ansiedlung neuer Dienstleistungszentren ihre desolate Arbeitsplatzbilanz aufpeppen wollen. Nach Angaben des Deutschen Direktmarketing Verbands (DDV) beschäftigen derzeit rund 1000 Call-Center etwa 120000 Personen. Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie (ZVEI) hat sogar 2500 Call-Center ausfindig gemacht.

Doch die eigentliche Power steckt in der IT. Ob es sich um die Bearbeitung gewaltiger Anrufwellen nach PR-Kampagnen handelt, zum Beispiel anläßlich des Börsengangs der Telekom, oder ob technische Hotlines, die Annahme von Warenbestellungen, Banktransaktionen oder Reisebuchungen sowie Telefonverkauf und Terminvereinbarungen das Servicespektrum charakterisieren - je anspruchsvoller die Aufgaben im Kunden-Management werden, desto mehr werden sie zur Visitenkarte des Unternehmens.

Um dieser Herausforderung zu begegnen, stemmen spezielle Softwaresysteme und DV-Architekturen gewaltige Informationsbrocken und zerpflücken sie zugleich im wahrsten Sinne des Wortes in mundgerechte Häppchen, die der Agent am Telefon von seinem Front-end herunterdeklamieren kann. Eingehende Gespräche werden automatisch an freie Anschlüsse weitergeleitet, ausgehende Telefonate vorgewählt. Auf Knopfdruck zaubert der Rechner Kundendaten hervor und pumpt weitere Informationen aus angedockten Datenbanken auf die Mattscheibe. Computer Telephone Integration (CTI) und redundant ausgelegte Hardwarekonfigurationen sorgen für ein Höchstmaß an Schnelligkeit und reduzieren die gefürchtete Ausfallquote auf ein Minimum.

Kein Wunder also, daß unter solchen Vorzeichen der Markt für Customer-Interaction-Systeme (CIS) beeindruckend wächst. Nach jüngsten Untersuchungen der Aberdeen Group (siehe auch CW 3/98, Seite 15) verbuchten die Anbieter 1996 rund eine Milliarde Dollar Umsatz, und bis zum Jahr 2000 soll der Markt jährlich um 35 Prozent zulegen - auf etwa 3,4 Milliarden Dollar. Übers Front-Office suchen Anwender den direkten Draht zum Kunden. Wer dabei auf das richtige System gesetzt hat, für den amortisieren sich die Investitionen in Windeseile: Nur sechs Monate nach Produktivstart, so ermittelten die Researcher der Aberdeen Group, wurden die Kosten für Hard- und Softwarelizenzen, Mitarbeiterschulung und Beratung wieder eingespielt.

Eine etwas andere Sicht der Dinge vertritt die Gartner Group. Einem ebenfalls 1997 vorgelegten Report über TES-(Technology-enabled-selling-) und TERM-Systeme (Technology-enabled Relationship Management, siehe Abbildung 1) zufolge haben beide Märkte bereits 1996 ein Volumen von 2,7 Milliarden respektive 3,4 Milliarden Dollar erreicht. Anwendern empfehlen die Analysten ein klares "Buy". Selbstentwickelte Kunden-Management-Applikationen stießen immer deutlicher an ihre Scalability- und Performance-Grenzen. Auf der anderen Seite aber mahnen die Experten: "Buy with caution", denn ein riesiges Angebot an funktionstüchtigen Lösungen lasse auf den ersten Blick kaum die Risiken erkennen, die sich hinter wohlfeilen Oberflächen verbergen.

Die Einschätzung des Herstellers ist oft wichtiger als kleine Funktionsdetails. In welcher Marktposition befindet sich der Hersteller? Welche Qualität in Sachen Service und Support kann er liefern? Wie steht es um die technologische Kompetenz der Lösung? Und welche Kostenperspektive handelt man sich ein? Im Unterschied zu anderen Marktbeobachtern kalkuliert die Gartner Group denn auch satte 25 bis 35 Prozent der Gesamtkosten allein für den Evaluationsprozeß.

Über welche Erfahrungen berichten nun die Anwender? "Durchgängigkeit und Komplexität sind für Eigenentwicklungen eine Nummer zu groß", behauptet Günter Münzberger, verantwortlich für vertriebsorientierte Geschäftsprozesse bei Siemens Nixdorf Business Services (SBS) in Paderborn. Zwar habe man bis dato auf ISIS (International Sales Information System), eine selbstgestrickte Lösung für die Vertriebsunterstützung, gesetzt. Nun sei es aber an der Zeit, die "Sales Force" mit einem Standardprodukt auszustatten.

Entschieden haben sich bereits einige Geschäftsbereiche des Siemens-Konzerns für "Siebel Sales Enterprise", eine Lösung des gleichnamigen US-Anbieters. Der von den Analysten einstimmig als führender Anbieter integrierter Kunden-Management-Systeme bezeichnete Hersteller verspricht für das anstehende Release die Integration von Mobile Computing und Internet-/Intranet-Applikationen. Außerdem sollen Dokumenten- und Workflow-Management sowie die Integration von Microsoft-Produkten das Leistungsspektrum noch stärker als bisher prägen. "Einen Vorsprung von mehreren Jahren", meint Münzberger, habe Siebel gegenüber der Konkurrenz. Das dürfte zunächst auch über die Kosten für 800 Lizenzen zum stolzen Preis von je rund 2600 Mark hinwegtrösten.

Genauso optimistisch blickt Andreas Geiger, Leiter Informa- tion Resources in der Münchener Niederlassung des Pharmakonzerns Smith Kline Beecham, in die Zukunft. Vor einem Jahr hat man sich für den Aufbau eines Customer Care Center entschieden. Mit dem favorisierten Produkt von Scopus Technology wolle man die stark gestiegene Nachfrage von Ärzten, Apothekern und Kliniken bewältigen. "80 Prozent aller Anrufe wollen wir im ersten Schritt erledigen, ohne die Kunden in die medizinische Fachabteilung weiterleiten zu müssen."

Das sich selbst als "Vorreiter der Pharmabranche" einordnende Unternehmen hat erkannt, daß der Verkauf von Medikamenten nicht mehr ausreicht, um seine Position zu behaupten. Aktuell bearbeiten die zwölf "Allrounder" im Front-Office zwischen acht und 20 Uhr rund 400 Anrufe täglich. "Doch damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht", so Geiger. Als nächster Schritt ist CTI vorgesehen, und auch das laufende Data-Warehouse-Projekt mit Business Objects als Auswertungswerkzeug soll der Kunden-Management-Lösung zugute kommen.

Customer Service als Wettbewerbsvorteil - so lautet auch der Ansatz bei der Deutschen Telekom Online Service GmbH in Darmstadt. "In nur acht Wochen", erinnert sich Torsten Bonikowski, habe der für die Applikationsentwicklung verantwortliche Spezialist die erste Version des Clarify-Systems installiert. 220 technisch versierte Mitarbeiter im Neu-Ulmer Call-Center bedienen sich dabei einer klassischen Helpdesk-Lösung, die demnächst um die Leistungsparameter Sales, Marketing und Auftragsservice erweitert wird. Um CTI ergänzt, erkenne das System automatisch den Kunden und liefere dem Berater am Telefon sämtliche Stammdaten, Probleme und bisherigen Kontaktinformationen auf den Bildschirm.

Eine Wissensdatenbank mit Musterlösungen, etwa eine ausgefeilte Modemexpertise, trage dazu bei, daß selbst ungewöhnliche Problemstellungen nur in Ausnahmefällen an den Second Level Support weitergereicht würden. Für das zweite Quartal sei die Integration von E-Mail, Fax und Internet fest vorgesehen, was insbesondere Online-Kunden interessiere.

Ein virtuelles Call-, Clearing- und Supportzentrum (VCCS) vermeldet die in Köln ansässige Stoll Com AG. Mit Unterstützung des Landes NRW hat der ehemalige Distributor einen Dachverband gegründet, in dem Software- und Systemhäuser, Dienstleister und Fachhändler elektronischen Service beanspruchen können.

Ein dafür errichtetes Call-Center in Dortmund bearbeitet inzwischen 15000 Anrufe pro Monat. Größter Kunde ist die Softwarefirma Cheyenne, die ihren kompletten Support in der Westfalen-Metropole bewältigt. CTI, Datenbankabfragen sowie kundenbezogene Auswertungen und Statistiken laufen zum großen Teil über eine Notes-basierende Software. Um den Kommunikationsfluß im Partnerverbund zu erhöhen, bedienen sich alle Beteiligten der Groupware-Plattform, die per Replikation das aktuelle Informationsniveau gewährleistet. Daß auch individuelle DV-Umgebungen durchaus das Zeug zum Erfolg haben, zeigt das Beispiel der Advance Bank. Zwar hat man die zum Start Anfang 1996 anvisierte Kundenzahl knapp verfehlt. Allerdings wird dieses Manko nicht der vermeintlichen Inkompetenz der Systeme zur Last gelegt. Die von Grund auf neukonzipierte Architektur der Direktbank mit dem Namen Apollo habe so viel Aufmerksamkeit erregt, so Technik-Vorstand Volker Visser, daß man das System auch selbst vermarkten und somit die gewaltigen Anlaufinvestitionen hereinholen könne. So hat man zum Beispiel 1997 in der italienischen Direktbank Ambrosiano de Veneto einen Käufer gefunden.

Kundenwünsche in Strategien gegossen

Apollo, eine Gemeinschaftsentwicklung von Advance Bank, Vereinsbank und Andersen Consulting, sei eigentlich "eine technisch konzipierte Werbeagentur mit angeschlossener Direktbank", so Visser. Mit anderen Worten: Um den Wünschen der Zielgruppe möglichst genau zu entsprechen, werden alle Informationen des Kunden sofort in angemessene Werbekampagnen und Marketing-Strategien gegossen. Daß per CTI synchron Daten und Sprache weitergeleitet werden können, ist nach Aussage von Visser zumindest im Directbanking einmalig. Eine hohe Systemstabilität sowie komplette Redundanz zeichnen Apollo ebenso aus wie der Ersatz konventioneller Ablagen durch das elektronische Archiv.

Welche Wahl Anwender auch immer treffen - sie sollten sich auch mit dem Gedanken vertraut machen, daß ihr Softwarepartner schon bald von der Bildfläche verschwinden könnte. "Das große Sterben geht weiter", prognostiziert Lutz Peichert, Senior Consultant bei der Meta Group in Ismaning. Remedy, einstiger Weltmarktführer im Helpdesk-Bereich, sei ein warnendes Beispiel. Einerseits lasse die Vielzahl der Anbieter dem Markt keine andere Wahl. Andererseits wachse der Appetit insbesondere der ERP-Anbieter (Enterprise Resource Planning) auf erfolgreiche Übernahmekandidaten im Front-Office-Segment. So habe sich Baan die kalifornische Aurum einverleibt, SAP im Gegenzug 50 Prozent am Spezialisten K & V Information Systems erworben. "Wer in Customer-Care-Systeme investiert, muß auf Logistik, Buchhaltung und Marketing zurückgreifen können", schreibt Peichert geneigten Anwendern ins Stammbuch. Daß sich die Aufmerksamkeit erst jetzt auf das boomende Front-Office-Geschäft richte, hat laut Peichert einen überraschend einfachen Grund: "Mittlerweile hat sich herumgesprochen, daß man mit dem Einsatz von DV-gestützten Systemen Wettbewerbsvorteile erzielen kann." Vielleicht gelingt es den DVlern nun, ihr Imageproblem zu lösen.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.