Christian Gansch verbindet Musik und IT

Zu viel Harmonie führt in die Sackgasse

23.06.2008 von Karen Funk
"Den Besten in einem Team darf man nicht vorwerfen, dass sie herausragen", sagt Dirigent Christian Gansch im Gespräch mit CW-Redakteurin Karen Funk. In vielen Unternehmen passiert es trotzdem.

CW: Als Musiker und Dirigent kommen Sie aus der Welt der schönen Künste. Zudem halten Sie Management-Vorträge unter anderem in IT-Unternehmen. Ist das nicht ein Widerspruch?

GANSCH: Im Gegenteil. Die orchestrale und die unternehmerische Welt haben viele Parallelen. Das zeigt sich beispielsweise in der Sprache. Viele Menschen glauben, man redet bei künstlerischen Prozessen im Orchester in einer blumigen Sprache. Das ist ein Klischee. Kein erstklassiger Dirigent würde etwa sagen: "Spielen Sie wahrer und tiefer." Er wird vielmehr klare Anweisungen für das "Wie" geben. Beispielsweise: "Bitte atmen Sie nach der dritten Note oder spielen Sie mit dem Bogen im oberen Drittel." Hohes Niveau im orchestralen Bereich, wo 100 exzentrische Menschen zusammenspielen, erreicht man durch klare Vorgaben und nicht durch eine wolkig-nebulöse Visionssprache.

CW: Der Dirigent als kühler Manager?

GANSCH: Natürlich geht es um Emotionalität und Inhalte, aber eben auch um die optimale Umsetzung. Der Weg zum Ziel ist im Orchester durchaus technisch und pragmatisch. Diesbezüglich treffen sich die künstlerische und wirtschaftliche Welt, auch wenn das Produkt unterschiedlich ist.

CW: Sie haben ein Buch zu diesem Thema geschrieben: "Vom Solo zur Sinfonie: Was Unternehmen von Orchestern lernen können". In wiefern lassen sich Orchester mit Unternehmen vergleichen?

GANSCH: Was selbst Konzertgänger oft nicht wissen: jedes Orchester besteht aus vielen Abteilungen, und jede Abteilung hat zwei bis drei Führungskräfte mit Stellvertretern. Der Dirigent gibt, wie auch in einem Unternehmen, das Konzept vor, die Vision. Die technische Umsetzung obliegt den Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern des Orchesters. Allein dieser Tatbestand zeigt schon, dass die Proben ganz anders sind, als das, was der Zuschauer im Konzertsaal erlebt.

CW: Und die Abteilungen eines Orchesters sind die Instrumentengruppen?

GANSCH: Von der Struktur her ja. Da gibt es die erste Geige, zweite Geige, Bratsche, Celli, Kontrabässe, die einzelnen Bläsergruppen, die Blechbläsergruppen, die Holzbläsergruppen und die jeweiligen Führungskräfte.

Christian Gansch

Christian Gansch, geboren 1960 in Österreich, ist international als Dirigent und Referent tätig. Er erhielt Engagements unter anderem vom englischen BBC Orchester, dem City of Birmingham Symphony Orchester, dem Deutsche Symphonie Orchester Berlin, dem Russian National Orchestra und dem Pariser Orchestre Philharmonique de Radio France. Höhepunkte waren die 9. Symphonie von Beethoven mit dem Orchestra Teatro La Fenice in Venedig und sein Proms-Debüt in der Londoner Royal Albert Hall. Als Operndirigent feierte er in England Erfolge mit Mozarts "Hochzeit des Figaro".

"Vom Solo zur Sinfonie" erschien 2006 bei Eichborn.
Foto: Eichborn

1990, nach seiner Zeit als Führungskraft bei den Münchner Philharmonikern, wechselte Christian Gansch als Produzent und Manager in die Musikindustrie. Er produzierte weltweit über 190 CDs, mit Künstlern wie Pierre Boulez, Claudio Abbado und Anna Netrebko. Neben vielen internationalen Preisen und Auszeichnungen gewann er vier Grammy Awards. Diese internationalen Erfahrungen sowohl in der Musik- als auch Wirtschaftswelt bilden das Fundament für seine Tätigkeit als Referent und Mangement-Coach. 2006 erschien im Eichborn Verlag, Frankfurt sein erstes Buch: "Vom Solo zur Sinfonie - Was Unternehmen von Orchestern lernen können."

Die erste Geige spielen

CW: Spielt die erste Geige die größte Rolle, ist das der wichtigste Bereichsleiter?

GANSCH: Nein, "die erste Geige spielen" ist nur so ein geflügeltes Wort. Das hat mit ihrer Wichtigkeit im Orchester nichts zu tun. Man muss nur irgendwo einmal zu zählen anfangen, das ist alles. Die zweite Geige ist auf eine andere Art und Weise genau so wichtig und vielleicht sogar beim Spielen spannender im Konzert, weil sie sich im orchestralen Gefüge permanent nach unterschiedlichen Gruppen ausrichtet. Manchmal spielt die zweite Geige zusammen mit der Klarinette, mal zusammen mit dem Schlagwerk, manchmal mit den Celli, manchmal mit der ersten Geige. Das ist von der Herausforderung her häufig viel bunter als die erste Geige, die oft die Melodie spielt. Das kann manchmal auch ein bisschen eintöniger sein. Aber die Melodie ist nicht nur bei der ersten Geige, sondern die ist auch mal in der Cello-Gruppe oder in der Flöte oder in der Trompete. Also die erste Geige ist eine wichtige Position, aber definitiv nicht wichtiger als die Cellogruppe.

CW: In einem Unternehmen haben wir einen CEO, der mit seinen Führungskräften wie CIO und CFO die Geschicke der Firma lenkt. Wie funktioniert das Zusammenspiel der einzelnen Führungskräfte im Orchester?

GANSCH: Das Orchester ist darauf angewiesen, dass der Dirigent ein klares, verständliches Konzept hat. Die Musikerinnen und Musiker müssen wissen, wo er hin will. Der Dirigent ist wiederum auf die Führungskräfte des Orchesters und deren Führungsstärke angewiesen. 50 bis 60 Prozent der Probenarbeit wird dafür verwendet, dass die Führungskräfte die technischen Strategien für ihre Abteilung austüfteln. Das ist hauptsächlich Schreibarbeit! In der Probe wird festgelegt, welcher Bogenstrich und welche Atemlinie konzeptionell sinnvoll sind. Jetzt kommt das Entscheidende: Wenn eine Abteilung eine Strategie für sich festgelegt hat, ist diese nicht für sich selbst gültig, sondern wird darauf überprüft, ob sie mit den Strategien der anderen Abteilungen kompatibel ist. Es wäre ja zwecklos, wenn etwa die Celli ihren Part wunderbar spielen können, aber die Flöte nicht mitkommt, weil es nicht zu ihren Möglichkeiten zu atmen passt. Also müssen sich die Celli mit den Flöten abstimmen und ihre Strategien wechselseitig anpassen.

Auf engem Raum

CW: Die Strukturen sind also ähnlich zwischen Orchestern und Unternehmen?

GANSCH: Es gibt natürlich einen offensichtlichen Unterschied zu den üblichen Unternehmensstrukturen, wenn man nicht gerade in einem Großraumbüro arbeitet, und zwar die räumliche Enge. Im Orchester sitzen 100 Damen und Herren auf engsten Raum zusammen ohne Fluchtmöglichkeiten ins eigene Büro.

CW: Es gibt auch ein paar Unternehmen, die bewusst auf eben diese "Enge" setzen. In der IT-Branche ist dies beispielsweise der Computerhersteller HP, der bekannt für sein Großraumkonzept ist. Chef und Abteilungsleiter und Mitarbeiter sitzen in einem Büro, getrennt höchstens durch ein paar Stellwände oder Grünpflanzen.

GANSCH: Das ist durchaus eine orchestrale Situation und diese soll wohl symbolisieren, dass sich eine Abteilung nicht abschottet, wie das in vielen Unternehmen passiert. Das permanente Ringen um Kompatibilität, um abteilungsübergreifende Kompatibilität ist das Wesentliche der täglichen Orchesterarbeit.

CW: Wie schaffen Sie es, dass alle Abteilungen an einem Strang ziehen?

GANSCH: Natürlich gibt es auch im Orchester Hoheitsgebiete. Eine Cellogruppe will nicht, dass ihr die Bläsergruppe reinredet. Auf der anderen Seite redet die Cellogruppe auch den Bläsern nicht in ihre Belange hinein. Diese international rekrutierten Fachleute haben dieses bereichsübergreifende Bewusstsein nur aus einem Grund: Sie wissen, der Kunde will Einheit erleben, er hat ein Recht auf ein stimmiges Produkt. Sie stimmen sich also nicht aufgrund einer verordneten Wertekultur ab, sondern weil sie wissen: das ist die einzige Chance als Orchester am Markt zu überleben.

CW: Vermitteln Sie diese Erkenntnisse in Ihren Seminaren und Vorträgen auch über die Musik?

GANSCH: Man erreicht in Seminaren oder Vorträgen nichts durch Verbalakrobatik, sondern durch Inspiration. Wenn es mir mit Musikbeispielen und Metaphern gelingt, einen Aha-Effekt auszulösen, dann löse ich Nachhaltigkeit aus. Das ist die einzige Chance. Ich kann die schönsten Weisheiten formulieren, aber wenn der Einzelne nicht angeregt und in ihm keine Lust zum Selbstdenken ausgelöst wird, hat es keinen Sinn. Denn Begriffe helfen nicht weiter. Ohne Praxisbezug laufen sie ins Leere. Auch der erhobene Zeigefinger ist kontraproduktiv.

Exzentriker und Diven

CW: Das Orchester haben Sie als Sammelbecken von Exzentrikern und Diven beschrieben. In Unternehmen werden hingegen Konzepte wie Teamfähigkeit und Kollegialität hochgehalten. Können Orchester von Unternehmen lernen?

GANSCH: Im Konzert muss ein Orchester ein harmonisches Team sein, das der Kunde als solches empfindet. Aber der Weg dorthin führt über eine offene und ehrliche Auseinandersetzung. Wenn ich die Harmonie schon an den Anfang stelle, dann verhindere ich den fruchtbaren Diskurs und das bedeutet Stillstand und nicht Innovation. Reibung in den Proben ist die Voraussetzung für Harmonie im Konzert.

CW: Stichwort Harmonie: Sie warnen immer wieder davor, den Begriff falsch zu verstehen.

GANSCH: In vielen Unternehmen gerade in Deutschland herrscht seit den letzten zwei, drei Jahrzehnten der Geist, dass wir nur erfolgreich sind, wenn wir uns alle unentwegt demokratisch und harmonisch verhalten. Das widerspricht der menschlichen Realität. Der Mensch ist und bleibt ein Individuum - egal welche unternehmenskulturellen Ideologien man auch einer Gruppe aufinstruieren will. Im Orchester braucht man die zeitweise Dominanz einzelner Instrumente. Auf Unternehmen übertragen heißt es, der Input des Einzelnen, der vielleicht einmal vorprescht mit einer tollen Idee, muss zugelassen werden. Stattdessen herrscht vielerorts Gleichmacherei und falsch verstandene Harmonie, damit sich andere, weniger kreative Mitarbeiter, nicht zurückversetzt fühlen.

Entscheidend ist: Die Trompete spielt ihr Solo, aber danach überlässt sie Instrumenten das Feld, die gegen sie keine Chance hätten, wie beispielsweise Flöte, Klarinette oder Fagott. Dominanz heißt also nicht, exzentrisch anfangen und dann nicht mehr aufhören. Es geht um das Wechselspiel der Kräfte. Man braucht sowohl die zarte Flöte, als auch eine dominante und vielleicht sogar aggressive Posaune. Wenn dieses Wechselspiel des Miteinanders in einem Unternehmen nicht funktioniert, zwingt man die kreativen Köpfe, sich einzuschränken, was das gesamte Innovationspotenzial blockiert.

Nieten in Nadelstreifen

CW: In vielen Unternehmen entsteht der Eindruck, dass eher die Nieten in Nadelstreifen nach oben kommen- Hauptsache sie beherrschen das laute Auftreten.

GANSCH: Meistens klettern Nieten die Karriereleiter hoch, weil bereits auf der untersten Hierarchiestufe das Prinzip Harmonie gilt. Während sich die Qualifizierten diesem Prinzip eher unterordnen, nützen die reinen Machtmenschen das strategisch geschickt für ihre Zwecke aus. Den Besten in einem Team darf man nicht vorwerfen, dass sie herausragen. Wenn sie ihre Qualitäten nicht unterdrücken müssen, um anerkannt zu sein, sondern ihre besonderen Fähigkeiten von ihrem Umfeld geschätzt werden, dann werden auch die Fähigen in Führungspositionen gelangen.

CW: Viele Führungskräfte lassen kompetente Mitarbeiter nicht nach oben - aus Angst, die sägen dann an ihrem Stuhl.

GANSCH: Wenn man als Führungskraft durch die eigene Kompetenz abgesichert ist, dann muss man auch nichts fürchten. Wenn man hingegen aufgrund von Ellbogen- und Ränkespielchen nach oben gekommen ist, dann hat man in jedem Meeting vor Fachfragen des Abteilungsleiters Angst. Fakt ist: Führungskräfte müssen die Kreativen fördern, die selten pflegeleicht sind, wenn sie die Substanz eines Unternehmens nicht gefährden wollen.

CW: In Ihrem neuen Buch "Wer auftritt, muss spielen" sprechen Sie vom unternehmerischen Dreiklang Wahrnehmen-Entscheiden-Handeln. Was verstehen Sie darunter?

GANSCH: In unserer Zeit liegt der Schwerpunkt auf Entscheiden und Handeln. Aber die Wahrnehmungsfähigkeit ist die Grundvoraussetzung dafür, dass richtig entschieden und richtig gehandelt wird. Unter Wahrnehmung verstehe ich keinesfalls den Tunnelblick, der manchmal unter Druck entsteht, sondern eine ausgeprägte "360-Grad-Wahrnehmung". Man muss bereit sein, Dinge wahrzunehmen, die einem nicht so willkommen sind, die nicht dem eigenen Wunschdenken entsprechen. Dennoch muss man lernen, sie auszuhalten. Menschen, die auch den Mut haben wahrzunehmen, was nicht in die üblichen Schubladen und Klischees passt, können auch innovative Entscheidungen treffen.

Wenn Marketing zu mächtig wird

CW: Die Disziplin Marketing kommt in Ihrem neuen Buch nicht sehr gut weg. Warum?

GANSCH: Das Marketing übernimmt zunehmend die Macht in Bereichen, von denen es keine Ahnung hat. Beispielsweise in Entwicklungsabteilungen, wo Leute an einem Produkt arbeiten, das vielleicht erst in zehn Jahren relevant ist. Wenn das Marketing nicht den Nutzen für eine unmittelbare Vermarktbarkeit erkennt, hat es in manchen Unternehmen die Macht, der Entwicklungsabteilung den Geldhahn zuzudrehen. Wenn die Macht eines nur auf den Augenblick gerichteten Marketings dominiert, kann dies die langfristige Substanz eines Unternehmens zerstören.

CW: "Wer auftritt, muss spielen" - ein Buch für Führungskräfte?

GANSCH: Nicht nur für Führungskräfte, sondern auch für angehende Manager und generell für Menschen, die Verantwortung tragen. Das bedeutet, eine Führungskraft muss sich im Vorfeld intensiv mit der Materie beschäftigt haben, bevor sie die Bühne betritt. Also nicht Learning by doing. Denn das Publikum hat nicht dafür bezahlt, beim Üben zuzuschauen.

Wer auftritt, muss spielen

Foto: Eichborn

Am 1. September 2008 erscheint das neuste Buch von Christian Gansch im Handel: Wer auftritt, muss spielen - Die drei Schritte zur Führungskompetenz: WAHRNEHMEN - ENTSCHEIDEN - HANDELN. (Verlag: Eichborn). Anhand von aufschlussreichen Analogien und originellen Beispielen aus Kunst und Musik rückt der Autor gestressten Managern diesen Dreiklang des Erfolgs ins Bewusstsein.