Wissenslücken kosten Milliarden

11.07.2005 von Ina Hönicke
Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren an der IT-Weiterbildung ihrer Mitarbeiter gespart. Experten warnen vor den hohen Folgekosten, die fehlerhafte Softwareimplementierungen und schlampig entwickelte Anwendungen verursachen können.

Hier lesen Sie ...

  • welche Folgekosten fehlende Fortbildung im IT-Sektor nach sich zieht;

  • ob Zertifizierungen das Problem lösen können;

  • warum Firmen über eine kontinuierliche Weiterqualifizierung ihrer IT-Mitarbeiter nachdenken sollten.

Rund 100 Milliarden Euro Schaden haben fehlerhafte IT-Implementierungen in Europa allein im vergangenen Jahr verursacht. Diese alarmierende Zahl haben die British Computer Society und die Royal Academy of Electrical Engineering im Rahmen verschiedener europaweiter Studien ermittelt und jüngst bekannt gegeben. Gleichzeitig seien in den vergangenen beiden Jahren die Investitionen in IT-Trainings und -Zertifizierungen um rund 50 Prozent gesunken - was immense Ausbildungslücken zur Folge habe. Fazit der britischen Marktbeobachter: "Wenn es nicht gelingt, den Wissensstand der britischen Hightech-Profis zu erhöhen, kann dies gravierende Folgen nach sich ziehen."

Declan O'Mahony, Geschäftsführer der Onsite Computer GmbH in Hallbergmoos, ist überzeugt, dass sich die Ergebnisse der britischen Untersuchung auf Deutschland nahezu eins zu eins übertragen lassen. Das IT-Trainingsunternehmen hat zusammen mit dem Marktforschungsinstitut Interrogare jüngst bei deutschen IT-Spezialisten nachgefragt, wie sie ihren Ausbildungsstand beurteilen. O'Mahony: "Die Untersuchung belegt, dass der Ausbildungs- und Zertifizierungsstand der Hightech-Profis große Lücken aufweist. Mehr als 64 Prozent der 517 Befragten bestätigten, dass sie aufgrund von fehlenden Kenntnissen erhebliche Probleme bei der Implementierung von IT-Projekten haben."

Für den Weiterbildungsexperten steht fest, dass mangelhaftes IT-Wissen und vernachlässigte Zertifizierungen ein Grund für die Misere sind. In der Untersuchung gaben nur rund 15 Prozent der Befragten an, dass ihre Zertifizierung auf dem neuesten Stand sei. Besonderen Nachholbedarf sieht Onsite bei dem Zertifikat des Microsoft Certified Systems Engineer (MCSE). 21 Prozent der Befragten gaben zu Protokoll, dass sie dieses Qualitätssiegel nicht besäßen, obwohl es ihre Tätigkeit erfordere.

"Die Nachfrage nach IT-Zertifizierungen ist in den letzten drei Jahren spürbar rückläufig - und das, obwohl die Implementierungsprojekte immer komplexer werden", wundert sich O'Mahony. Seiner Meinung nach sollten die deutschen IT-Chefs sich genau überlegen, welche Gefahren mittelfristig auf ihre Unternehmen zukommen. Der Onsite-Manager: "Häufig betreffen IT-Projekte sensible Bereiche in Unternehmen, da können schadhafte Implementierungen zu massiven Problemen führen."

Weiterbildungsstudien

Nach Schätzungen britischer Marktforscher betrugen die IT-Ausgaben in Großbritannien im Jahr 2003/04 rund 22 Milliarden Pfund. Gleichzeitig ergaben diverse Untersuchungen, dass eine immer größere Anzahl von IT-Projekten fehlschlägt oder wesentlich teurer wurde als geplant. Aufgrund dieser alarmierenden Meldungen befragte die Royal Academy of Engineering (RAEE) gemeinsam mit der British Computer Society (BCS) 70 CIOs, Projekt-Manager und Softwareingenieure nach möglichen Gründen für das Dilemma. Der am häufigsten genannte Grund waren zunehmende Wissenslücken der IT-Profis. Diese Defizite würden verstärkt zu fehlerhaften Implementierungen und sonstigen Schäden führen.

Das Trainingsinstitut Onsite in Hallbergmoos bei München nahm die britische Studie zum Anlass, um gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Interrogare den Kenntnis- und Trainingsstand von IT-Profis weltweit zu untersuchen. Die Marktforscher befragten 517 Unternehmen in 26 Ländern vom Tschad über die Ukraine bis zu den Vereinigten Staaten, ob ihre IT-Spezialisten, Systemingenieure und Administratoren in puncto Ausbildung auf dem neuesten Stand sind. Resultat: 64 Prozent der Hightech-Experten bestätigten, dass sie aufgrund von Wissensdefiziten in ihrem Job teilweise erhebliche Probleme hätten. Dazu gehörten vor allem Fehler bei der Implementierung von IT-Projekten. Diese Aussage gilt auch für die deutschen IT-Profis, die mit 66 Prozent aller Befragten eine relativ große Gruppe darstellen.

Deutsche IT-Verantwortliche räumen zwar ein, weniger in die IT-Weiterbildung zu investieren, bezweifeln aber, dass dies automatisch Fehler in der Projektarbeit nach sich ziehe. Dass die Untersuchung von einem Trainingsinstitut stammt, stimmt viele IT-Chefs skeptisch. Elmar Haag, technischer Leiter bei der Sicherheitsfirma Integralis in Heilbronn: "Natürlich können Implementierungsschäden auftreten, weil IT-Profis nicht ausreichend qualifiziert sind, das ist aber doch fast nie der alleinige Grund. Was ist mit Aspekten wie Nachlässigkeit oder Zeitdruck?". Bei einem unter großem Zeitdruck stehenden Projekt könnten die Mitarbeiter noch so gut geschult sein - dennoch würden fast immer Fehler auftreten. So sei es beispielsweise gerade bei Sicherheitsprojekten wichtig, die vorgegebenen Prozeduren einzuhalten. Tatsächlich geschehe das jedoch nur selten. Als ein Beispiel nennt der Sicherheitsexperte die Freigabeprozedur, die

selbst in großen Unternehmen meist nachlässig behandelt werde.

"Selbstverständlich ist die Qualifizierung der Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung", bestätigt Haag. Allerdings müsse sie praxis- und zeitnah sein - und genau daran hapere es. Zertifikate sagen oft wenig über die tatsächliche Qualifikation eines Kandidaten aus. Haag räumt allerdings ein, dass viele Kunden dies anders sehen und verstärkt nach zertifizierten Sicherheitsexperten fragen. Ganz oben auf der Wunschliste ständen herstellerunabhängige Zeugnisse wie Certified Information Systems Security Professional (CISSP). Wie viele seiner Kollegen hat der Integralis-Manager in den vergangenen Jahren mit Schulungsanbietern auch schlechte Erfahrungen gemacht. Um aus dem Weiterbildungsdilemma herauszukommen, sind seiner Meinung nach viele Gespräche zwischen allen Beteiligten notwendig.

Das sieht Stephan Pfisterer, Bereichsleiter Bildung und Personal beim Bitkom, ähnlich. Seiner Meinung nach wäre es sogar sinnvoll, die gesamte Weiterbildung neu zu gestalten. "Dieser Belohnungstourismus", jeder Mitarbeiter darf mal irgendwo hinfahren, sei weder für die Betroffenen noch für die Unternehmen sehr effektiv. Pfisterer: "Die Weiterbildung sollte in die Projektarbeit integriert werden, wie es viele Firmen bereits praktizieren." Ein Beispiel hierfür sei das neue System der IT-Weiterbildung und die daran angeschlossene Personalzertifizierung nach internationalen Normen. Interessant sei zudem, einzelne Bausteine des E-Learnings in das Bildungskonzept einzubauen. Der Bitkom-Vertreter: "Die zunehmend mobile Arbeitswelt erfordert neue Lernmodelle."

Stephan Pfisterer, Bitkom: "Die zunehmend mobile Arbeitswelt erfordert neue Lernmodelle."
Foto: Stephan Pfisterer

Ob Zertifizierungen allein diesen Anforderungen entsprechen, weiß Pfisterer ebenfalls nicht: "Natürlich zeigen Kunden und Mitarbeiter großes Interesse daran - entscheidend ist aber immer die Umsetzung des Gelernten. Und daran scheint es bei manchen Zertifikaten zu hapern." Den dramatischen Einbruch im Weiterbildungsmarkt sieht Pfisterer mit großer Sorge: "Know-how-Defizite werden gravierende Folgen haben. Wenn Mitarbeiter nicht genügend qualifiziert sind, besteht auf jeden Fall die Gefahr, dass sie vermehrt Fehler machen."

Bernd Hilgenberg, IT-Leiter bei der Fressnapf Tiernahrungs GmbH in Krefeld, hält die Rotstiftpolitik vieler Unternehmen für eine Vermeidungsstrategie: "In den kommenden Jahren wird eine Reihe von ihnen nach dem Motto 'Lernen durch Schmerzen' handeln müssen." Seiner Ansicht nach ist es vorhersehbar, dass eine mangelhafte Weiterbildung etwa zur IT-Sicherheit Schäden anrichten wird. Wenn es Ausfälle gibt, wird man versuchen, diese Kenntnislücken punktuell und in großer Eile zu stopfen. Hilgenberg kritisiert, dass sich in der IT bisher keine kontinuierliche Weiterbildung etabliert hat, weil immer nur aufs neueste Budget geschaut wird: Eingesparte Weiterbildungskosten entlasten sofort die jeweilige Kostenstelle, daraus entstehende Gefahren werden ignoriert.

Wie stark Unternehmen in interne Schulungen investieren, hängt auch vom Geschäftsfeld ab. Firmen, die Innovationszyklen in der IT länger hinausschieben, benötigen weniger Schulungen als Unternehmen, die in einem dynamischen Umfeld tätig sind. Hilgenberg: "Wir fordern die Weiterbildung von unseren Mitarbeitern konsequent ein." Permanente Qualifizierung ist seiner Meinung eine wichtige Voraussetzung, um falsch konfigurierte Systeme oder Fehlentscheidungen in der IT zu verhindern oder zu verringern. Auf wenig Gegenliebe indes stoßen bei dem Fressnapf-Manager IT-Zertifizierungen als alleiniges Qualifizierungsmerkmal. Zertifikate würden lediglich bescheinigen, dass jemand einen bestimmten Kurs besucht hat, und nicht, ob er das Gelernte auch im Arbeitsalltag umsetzen kann. Hilgenberg: "Wenn wir uns bei der Einstellung neuer Leute zwischen einem potenziellen Mitarbeiter mit Praxiserfahrung und einem mit Zertifizierung entscheiden müssen, erhält der Berufserfahrene

den Vorzug, denn erst die Erfahrung macht den Unterschied." (iw)

*Ina Hönicke arbeitet als freiberufliche Journalistin in München.