Wie Wissen in das Unternehmen kommt

12.11.2004 von Lars Reppesgaard
Der Aufbau eines umfangreichen, weltumspannenden Wissens-Managements bei der Siemens AG gibt ein Beispiel, wie sich künftig Know-how und Experten für Projekte effizienter einsetzen lassen.

Wer sich bei der Siemens AG mit dem Thema Wissens-Management (WM) beschäftigt, kann mit der Rückendeckung von ganz oben rechnen. "Die Existenz des Wissens-Managements innerhalb unseres Unternehmens spart nicht nur Zeit, weil redundantes Arbeiten vermieden wird, sondern auch, weil man schnell auf die Leute stößt, die das Wissen haben, das man braucht, auch wenn man sie nicht persönlich kennt", sagt Thomas Ganswindt, Vorstand des Siemens-Bereichs Information and Communication Networks (ICN).

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich Top-Manager so deutlich für das Thema aussprechen. WM gilt Skeptikern als fragwürdige Disziplin, weil sich seine Auswirkungen schwer in harten Zahlen ausdrücken lassen. Bei Siemens denkt man anders - unter anderem, weil weltweit die Bedeutung der Wissensarbeit im Geschäft immer größer wird, wie der Wissens-Management-Experte und Moderator der Siemens Wissens-Manager-Community, Josef Hofer-Alfeis von der Zentralabteilung Corporate Technology, erklärt.

Inhalte strukturiert bereitzustellen, damit sie in der täglichen Arbeit nützen, ist wettbewerbsentscheidend für den technologiegetriebenen Weltkonzern geworden, sagt der WM-Experte. Warum dies dem Unternehmen nützt, zeigt das Beispiel der "Urgent Request"-Anfragen im Siemens-eigenen Wissensnetzwerk. Gerät ein Projekt ins Stocken oder wird eine bestimmte Expertise zu einem bestimmten Thema gesucht, kann jeder Mitarbeiter eine Online-Anfrage an einen Expertenkreis stellen. "Das Prinzip funktioniert ja bereits im Internet in den Newsgroups", sagt Manfred Langen, Senior Principal Consultant für Knowledge Management in der Siemens-Zentrale. "Dort helfen Leute völlig Fremden mit Ratschlägen. Und unter Kollegen in einer Firma funktioniert es noch besser." Auf jede Frage gibt es im Schnitt zwei Antworten, länger als zwei Tage muss selten ein Ratsuchender warten. Und anders als bei den Newsgroups gibt es keine Informationen aus dubiosen Quellen, die Profis sind unter sich. Komplexere Fragen diskutieren oft mehrere Experten, und für drängende Probleme stellen Siemens-Experten Arbeitsgruppen zusammen.

Vielfalt strukturieren

Die Konzepte, die erforderlich sind, damit das unstrukturierte Wissen in Köpfen, auf Schreibtischen und auf verteilten Festplatten erfasst und nutzbar gemacht wird, werden bei Siemens zentral entwickelt. Hofer-Alfeis gehört zu den rund 25 Vollzeit-Wissensarbeitern, die das Knowledge Management dieser komplexen Matrixorganisation strukturieren. Eine gigantische Aufgabe für den weltweiten Konzern mit seinen 414 000 Mitarbeiter und insgesamt 13 Segmenten, die unter anderem Informations- und Kommunikationstechnologie, Automatisierung, Maschinensteuerung, Transport- oder Medizintechnik herstellen.

Wie in vielen anderen Unternehmen entstanden auch bei Siemens die ersten WM-Projekte durch Initiativen von unten. Fachexperten und Manager der mittleren Ebene, Personal- und Prozessmanager in unterschiedlichen Ländern sowie aus unterschiedlichen Bereichen begannen Anfang der 90er-Jahre, auf neue Herausforderungen der Arbeitswelt zu reagieren. "Das Geschäft veränderte sich in allen Bereichen nach ähnlichen Mustern", erklärt Bodo Winkler, Leiter der WM-Abteilung von Siemens Medical Solutions. "Wo vorher einzelne Produkte verkauft worden waren, fragten die Kunden immer komplexere Systeme und komplette Lösungen nach." Damit wuchsen das für die Prozesse benötige Wissen und die Zahl der in Projekten gesammelten Erfahrungen in Form von Dokumenten, Dokumentationen oder Arbeitsbeschreibungen.

Aus dem Austausch von Erfahrungsberichten, Projekten im Innovations- und Ideen-Management oder zur Optimierung von Lernen und Trainings entwickelte sich eine Vielzahl von Einzelprojekten und technischen Insellösungen, auf die enge, in der Regel auf die Bereiche beschränkte Nutzerkreise zugriffen. Ab 1994 ermöglichte das Intranet des Konzerns den Bereichen ihre Wissensinseln miteinander zu vernetzen. Es fehlte aber eine einheitliche Strategie und ein gemeinsames Verständnis für WM. "Wenn Firmen beim Wissens-Management scheitern, liegt es meist an Unsicherheit darüber, ob es nun ein Thema für die IT, die Personal- oder die Organisationsentwicklung ist", erklärt Josef Hofer-Alfeis.

Zentrale Wissensverwaltung

Heute weiß man bei Siemens, dass WM alle Bereiche gleichermaßen betrifft, weshalb Hofer-Alfeis WM-Systeme als "holistische oder sozio-technische Systeme" definiert. Parallel mit dieser Erkenntnis setzte im Weltkonzern ein Paradigmenwechsel bei der Organisation des WM ein: Von da an wurde zentral entschieden, wie das Wissen des Weltkonzerns allen Mitarbeitern zugänglich gemacht werden sollte. Das Siemens-Referat Wissens-Management führte hierzu zwischen Januar und Oktober 2001 den so genannten Wissensstrategie-Prozess ein. Die Methodik wurde von der holländischen Beratungsfirma Cibit aus Utrecht entwickelt, von Siemens lizenziert und gemeinsam angepasst. Aus ihr wird noch immer die Roadmap der Wissenswerker abgeleitet, wann und in welchem Bereich welche WM-Systeme und -Instrumente implementiert werden.

Im Februar 2002 entschied sich Siemens nach einer mehrmonatigen Entscheidungsphase für Open Text’s "Livelink" als Software für den global standardisierten Wissensaustausch. Die webbasierte Softwarearchitektur ist das Rückgrad des ShareNet. Dieses Netz der Wissensnetzwerke löste als gemeinsame Plattform die wild gewachsenen Einzelsysteme der Regional- und Fachbereiche ab. Livelink ermöglicht über einen einfachen Browser den Zugriff auf alle Ressourcen, unterstützt die virtuelle Teamarbeit und beinhaltet Dokumenten-Management sowie Such- und Alarmfunktionen. Selbstständig agierende Software-Bots informieren die Nutzer über Veränderungen in den von ihnen definierten Informationsbereichen. Navigationshilfen führen die Anwender durch die Flut der themen- oder projektorientierten Diskussionsgruppen.

In Prozessen denken

Bild: DJD

Eine zusätzliche Dynamik erhielt das Zusammenwachsen der Wissensnetze durch eine konzernweite Entwicklung: Durch den Zuschnitt neuer Vorstandsressorts vor 18 Monaten will Siemens zu einem überwiegend prozessorientierten Unternehmen werden. Diese Transformation ist noch nicht überall abgeschlossen. Mit ihr ging aber eine Neudefinition von Arbeitsabläufen einher, die unter anderem das Wissens-Management fest in den Prozessen verankerte. So ist heute beispielsweise festgeschrieben, wie ein Experte, der aus dem Unternehmen ausscheidet, sein Wissen an diejenigen weitergibt, die es in Zukunft benötigen. Auch beim Abschluss von Projekten gehört die Weitergabe von Wissen mittlerweile zum Standard-Prozedere. "Gerade für die ersten Projekte in einem neuen Themengebiet bedeutet das einen größeren Zeitaufwand", sagt Dirk Ramhorst, Leiter Projekt-/Knowledge-Managment bei Siemens Business Services (SBS). "Doch es ist mittlerweile ein Arbeitsschritt, der so selbstverständlich zur Projektarbeit gehört wie der kaufmännische Abschluss zum Projektende."

Die Folge: Siemens-Mitarbeiter können mittlerweile auf eine explosionsartig anwachsende Menge von geschäftsrelevanten Informationen zugreifen, die Wissensangebote des Portals sind zum geschäftstauglichen Werkzeug geworden. "Es geht nicht darum, einfach Wissen zu horten. Es muss verwertbar sein", sagt Ramhorst. Der Praxisnutzen sorgt dafür, dass die Nutzerzahlen rasant ansteigen. Innerhalb des Sharenet gibt es mehr als 1200 so genannte Communities of Practice (COP). Über 90000 Mitarbeiter nutzen diese IT-basierende Austauschforen und die Suchfunktionen, die das darüber liegende Wissensportal bietet. Rund 1000 Mitarbeiter aus der Praxis unterstützen als freiwillige COP-Moderatoren die konzernübergreifende Wissensstruktur.

Informationen zu 250000 Themen sind inzwischen im Wissensnetz abrufbar. Und täglich kommen neue hinzu, denn mit der Forschung und Entwicklung, zu der auch WM zählt, sind 53000 Mitarbeiter an 150 Entwicklungsstandorten in 30 Ländern beschäftigt. Fünf Milliarden Euro gab Siemens im Berichtsjahr 2002/2003 dafür aus. Was hier an Wissen entsteht, wird ebenfalls fortlaufend nach den zentralen Vorgaben in die Datenbanken eingepflegt. Die Methoden, nach denen Dokumente mit Metadaten versehen oder neue COPs zusammengestellt werden, sind in der langen WM-Praxis des Konzerns entstanden. Im Nachhinein zahlen sich dadurch auch die vielen weniger geglückten Ansätze aus, sagt Bodo Winkler. "Wir konnten von vielen guten Beispielen lernen, wie es geht, konnten aber auch erkennen, welche Ansätze sich in der Praxis als untauglich erwiesen hatten." Bei etlichen Projekten hatte sich etwa in der Frühphase der WM-Initiative gezeigt, dass zu wenige Mitarbeiter freiwillig ihre Erfahrungen aus Projekten oder Entwicklungsarbeiten teilen wollten. Entsprechende Berichte zu schreiben kostet Zeit, und die Zusatzarbeit nützt nicht direkt demjenigen, der sie verrichtet. Lange waren deshalb Betriebsvereinbarungen oder Belohungsprogramme wie das Gutschreiben von Bonusflugmeilen nötig, damit auch schwach frequentierte Communities mit Wissen gefüttert wurden. Erst als eine kritische Masse eines Wissensnetzwerks überwunden wurde und die Teilnehmer merken, dass ihnen der Input der anderen Kollegen rund um den Globus direkt bei der Arbeit hilft, wandelten sie sich zu Informationslieferanten.

Anwender vergeben Noten

Auch aktuelle Erfahrungen mit dem Sharenet führen dazu, dass Abläufe und Software immer weiter den Bedürfnissen der Mitarbeiter angepasst werden. Ein Beispiel dafür ist ein neues Bewertungssystem: Anhand der vergebenen Sterne sieht ein Mitarbeiter, für wie hilfreich ein Kollege seinen Input gehalten hat. Und alle anderen Community-Mitglieder sehen es auch. "Ein wesentlicher Wert von WM steckt im Heben von Synergien zwischen Support-Prozessen", bilanziert Josef Hofer-Alfeis. "Allerdings setzt das ein Fokussieren auf das geschäftskritische Wissen voraus, sonst verzettelt sich WM auf Nebenschauplätzen."

Die Frage nach dem Return on Investment dieser WM-Initiativen ist allerdings kaum zu beantworten. Messbar ist zwar der Erfolg einzelner Initiativen, etwa dass der Support bei SBS heute schneller reagiert und die Kundenzufriedenheit mit den Antworten der Hilfe-Hotline gestiegen ist. An einer Diskussion über nackte Zahlen will sich Hofer-Alfeis aber nur ungern beteiligen. "Wir können zeigen, dass wir die Wissensqualität im Unternehmen deutlich steigern", sagt er. "Ob das mehr Geschäft bringt, hängt noch von vielen anderen Faktoren ab." Externe WM-Fachleute überzeugt Siemens als wissensgetriebenes Unternehmen aber in jedem Fall. Bei den internationalen Vergleichsstudien des britischen KNOW-Networks wurde Siemens 2003 und 2004 zum Most Admired Knowledge Enterprise gekürt.