Wie Internet und Web 2.0 das Marketing verändern

05.09.2007 von Heinrich Vaske
Wenige Positionen im Unternehmen sind durch Internet und Web 2.0 so in Veränderung begriffen, wie die des Chief Marketing Officer, meinen die Management-Berater von McKinsey. Je kundenzentrierter Unternehmen agierten, desto größer die Herausforderungen für den Marketing-Manager.

Marketiers haben viel um die Ohren: Sie müssen die rasant steigende Zahl an Verkaufs- und Servicepunkten kontrollieren, das Aufkommen der neuen Medien in den Griff bekommen und die zunehmend fragmentierten Kundensegmente beherrschen. Dabei wächst der Druck in dem Maße, wie sich die Aufgaben verlagern: Der Chief Marketing Officer (CMO) wird angesichts der sich dynamisch verändernden Märkte in seinem Unternehmen die "Stimme des Kunden" sein, prophezeit McKinsey.

Hintergrund für diese Entwicklung ist die enorme Bedeutung des Internet und der Online-Distributionskanäle. Das Netz öffnet den Kunden neue Wege sich zu informieren und Produkte zu kaufen. Hinzu kommt, dass der Ruf einer Company zunehmend durch Empfehlungen und Kritiken von Bloggern und Content-Lieferanten in Meinungsforen geprägt wird. Und schließlich sind es die Marketiers, die in ihrem Unternehmen Antworten auf die Erfordernisse globaler Märkte und die Individualisierung der Kundenanforderungen geben müssen.

Diese Kräfte verändern nicht nur die Marketing-Funktion im Unternehmen, sondern alle Bereiche – von der Unternehmenssteuerung über Produktentwicklung und -vertrieb bis hin zu den Herstellungsprozessen. Laut McKinsey werden es aber die Marketing-Verantwortlichen sein, die im Unternehmen die Speerspitze für Wandel und Anpassung an neue Erfordernisse darstellen. Heute ist das in vielen Firmen noch nicht der Fall, die CMOs definieren ihre Rollen und Zuständigkeiten überwiegend sehr eng. Doch Vorstände und Aufsichtsräte gehen das Marketing oft hart an, um bessere Wachstumsraten und überzeugendere Verkaufsargumente zu bekommen. Laut McKinsey sind sie vielfach enttäuscht darüber, wie schwierig es ist, CMOs mit den gewünschten Skills zu finden. Im Vergleich zu anderen Managern auf C-Level werden Marketing-Chefs häufig ausgetauscht. Gleichzeitig klagen Headhunter darüber, dass sie es ihren Kunden bei der Besetzung der CMO-Position kaum recht machen können.

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McKinsey gibt den Unternehmen zwei Tipps, um das Problem zu lösen. Zunächst gelte es, die erweiterte Rolle der Marketing-Organisation und des CMO möglichst exakt zu beschreiben. Durch den hohen Veränderungsdruck müssten die Verantwortlichen ihr Selbstverständnis ändern. Veränderungsprozesse im Unternehmen müssten vom Marketing ausgehen, es müsse zudem eine führende Rolle in der Definition des Unternehmensprofils einnehmen. Der zweite Tipp für Unternehmenslenker lautet: Stellen Sie sicher, dass Sie die Position des CMO optimal besetzt haben! Laut McKinsey ist das die Voraussetzung dafür, dass ein Unternehmen wirklich versteht, wie sich die Kundenbasis mit ihren Anforderungen ändert, und dass im gesamten Konzern die nötigen Marketing-Fähigkeiten entwickelt werden.

In Marketing-Kreisen wird derzeit häufig die sich verringernde Effektivität der TV-Werbung diskutiert. Laut McKinsey ist das lediglich ein Symptom für grundlegende Veränderungen, nicht aber da eigentliche Problem. Neu und herausfordernd ist für Unternehmen die Art und Weise, wie Konsumenten sich über Produkte informieren und diese beschaffen. In Kategorien wie Elektronik, Finanzdienstleistungen oder Gesundheit ignorieren die Anwender zunehmend das herkömmliche Push-Marketing und informieren sich stattdessen aktiv im Internet. Mehr als die Hälfte der Elektronik-Käufer in den USA verlassen sich im Vorfeld eines Kaufs auf die Ergebnisse ihrer Internet-Recherche und ignorieren die Ratschläge des Verkaufspersonals in den Elektronikläden. Im Jahr 2005 hat sich rund die Hälfte derjenigen, die ein Versicherungsprodukt gekauft haben, vorab im Netz schlau gemacht, bevor der Kontakt zu einem Agenten zustande kam. Und fast 60 Prozent der Baby-Boomer-Generation holt ergänzend zu ärztlichen Diagnosen und Ratschlägen Informationen im Internet ein.

Das veränderte Konsumentenverhalten hat enorme Auswirkungen, auf die Firmen nur schleppend reagieren. In Zukunft entwickelt sich das untere Marktsegement – nicht zuletzt aufgrund der starken Nachfrage aus den Emerging Markets - stark, dasselbe gilt für das konsumfreudige High-end. Im breiten mittleren Marktsegment herrscht Stagnation. In der Folge sind einerseits preiswerte, zeitsparende "Facts-only"-Verkaufsansätze gefragt. Zum anderen müssen höherwertige, serviceorientierte Ansätze über alternative Distributionskanäle realisiert werden.

Marketing-Manager kämpfen an vielen Baustellen – und immer gegen die Uhr.
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Die Herausforderungen für Marketiers sind vielfältig: Beispielsweise ist es vielen Anbietern bislang nicht gelungen, ihre Klientel in der gewünschten Breite über das Web zu erreichen. Die Folge sind fragmentierte Werbeausgaben und manchmal auch gestiegene Kosten. Schwierig stellt sich außerdem oft die interdisziplinäre Zusammenarbeit dar: Sollen höhere Wertbeiträge für den Kunden entwickelt und erbracht werden, muss die Kommunikation mit anderen Funktionen im Konzern stimmen. Wenn etwa bei einem Anbieter von weißer Ware der Marketier die veränderten Kundenanforderungen erkennen und darauf reagieren will, braucht er die Unterstützung von Produktion und Vertrieb. Die Einbindung von Third Partys ist ein weiteres Problem: Ihr Einfluss auf das Marketing und den Ruf des Unternehmens wächst rasant.

Unbekanntes Terrain ist für viele Marketiers alles, was im Zusammenhang mit Web 2.0 steht. User-generierte Inhalte in Blogs, Meinungsforen oder auf Video-Sharing-Sites stehen bereits für ein Drittel des Traffics, der auf den 100 meistbesuchten Websites der USA generiert wird. Was für Konsumenten gut ist, birgt für Unternehmen enorme Risiken. Einzelpersonen oder Organisationen mit bestimmten Interessen können – auch wenn sie ein Produkt gar nicht verstehen oder bloß destruktiv wirken wollen – einen enormen Einfluss ausüben. Sie sind in der Lage, das Image eines Unternehmens stärker zu manipulieren als es die eigene Marketing-Abteilung jemals schaffen würde.

Als seien dies noch nicht genug Probleme, kommen auch noch die Herausforderungen hinzu, die durch die Öffnung der weltweiten Märkte entstehen. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass die Emerging Markets aufgrund günstigerer Produktionsbedingungen einen wachsenden Anteil an der globalen Wertschöpfung für sich verbuchen können. In den westlichen Volkswirtschaften herrscht – bezüglich der Bruttoinlandsprodukte – eher Stagnation. Wachstumshungrige Marketiers müssen also lernen, die Anforderungen neuer Märkte, Segmente und Kunden zu verstehen und Kapital aus deren Bedürfnissen zu schlagen. Dabei gilt es auch Rücksicht darauf zu nehmen, dass die Kaufkraft der neuen Zielkunden oft eingeschränkt ist.

McKinsey identifiziert folgende zentrale Herausforderungen für Marketing-Chefs:

1. Das veränderte Kaufverhalten der Kunden

In dem Maße, wie sich Kunden an Online-Recherchen und -Einkäufe gewöhnen, müssen Unternehmen ihre Geschäftsmodelle anpassen. Die Pharmaindustrie etwa, die ihre Referenten immer noch auf die Ärzte loslässt, wird erkennen müssen, dass deren Bedeutung in dem Maße abnimmt, wie sich Kunden im Web über Indikationen und Medikamente austauschen. Ein zweites Beispiel ist der Handel: Er muss dafür sorgen, dass Kunden in den Läden nicht nur die Produkte zu sehen bekommen, die vor Ort sind, sondern – virtuell – auch die, die irgendwo gelagert werden. Generell müssen außerdem Marketing und Vertrieb stärker miteinander verschmolzen werden, da Web-basierende Kanäle in Werbung, Vertrieb und Marketing wichtiger werden.

Die resultierenden Geschäftsveränderungen werden das traditionelle Marketing massiv fordern. Ein Beispiel ist die Präsenz vieler Unternehmen auf der virtuellen Plattform Second Life. Sie hat für Marketiers den Vorteil, dass sich Kundeninteressen abfragen und Verkaufsszenarien simulieren lassen. Ein anderes Beispiel ist die Präsenz auf den Emerging Markets: Interessen und Kaufkraft unterscheiden sich massiv von den westlichen Verhaltensmustern. Um die richtige Balance zwischen Preis und Qualität herzustellen, müssen Produktdesigns und Vermarktungsszenarien entwickelt werden, die den Gegebenheiten entsprechen. Beispiele wie Nokias Low-cost-Handys für Indien oder Procter & Gambles Zahncreme für China zeigen, wie Unternehmen ihre Kenntnisse über das lokale Konsumverhalten in ein Geschäft umwandeln können.

2. Entwerfen eines öffentlichen Unternehmensprofils

In dem Maße, wie Produkte über Third-Parties vermarktet werden, steigt die Notwendigkeit, dass sich Unternehmen in den relevanten Blogs, Chat Rooms und sonstigen Social-Networking-Foren auskennen. Kunden verraten dort ihre Bedürfnisse, weshalb diese Foren eine Schatzgrube für Produktentwickler und –vermarkter sind. Außerdem muss man hier präsent sein, um gegebenenfalls Attacken abzuwehren. McKinsey ist in den vergangenen Jahren immer wieder beauftragt worden, an einer Imagekorrektur von großen Unternehmen mitzuwirken. Man sei zu der Überzeugung gekommen, dass die Grundlage für einen solchen Prozess die Kenntnis und das Verständnis der Quellen für bestimmte Kundenmeinungen seien. PR- und Lobbykampagnen seien gegenüber der klassischen Recherche beim Kunden in ihrer Wirkung zu vernachlässigen. Die Marketing-Abteilungen seien in der Lage, diese Aufgabe zu bewältigen – insofern seien Bereiche wie PR, Corporate Affairs oder Investor Relations von ihnen abhängig.

3. Komplexität managen

Je mehr Länder, Kundensegmente, Medientypen und Distributionskanäle ins Spiel kommen, desto schwieriger wird es für Unternehmen und ihre Marketingabteilungen, den Überblick zu behalten. Als Beispiel mag die Preisbildung dienen: Wer hier effektiv sein will, muss sich in zahlreichen Verkaufskanälen, in unterschiedlichen Regionen und in diversen Marktsegmenten bestens auskennen. Viele Unternehmen entwickeln neue Ansätze, um die Komplexität zu beherrschen. Die Verantwortung bekommt meistens der Manager, der für eine Marke oder eine Region verantwortlich ist. Er wird durch etablierte, zentrale Prozesse und Policies unterstützt, damit er die Preiskonsistenz über bestimmte Segmente und Geographien sicher stellen kann. Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, werden außerdem häufig kleinere Analyse-Gruppen hinzugezogen, die über Preisdaten mit bestimmen.

Inzwischen gehen aber einige Unternehmen dazu über, dem CMO hier eine wichtigere Funktion zukommen zu lassen. Anhand von Daten-Management-Tools und Prozessen, die für ein konsistentes Marken-Image sorgen und dieses trotz wachsender Komplexität aufrecht erhalten sollen, ermitteln diese Manager Zusammenhänge zwischen Verkaufskanälen, Marken und Regionen, um daraus Preisvorschläge zu erarbeiten.

4. Neue Marketing-Fähigkeiten aufbauen

Sowohl in der Marketing-Organisation als auch im ganzen Unternehmen müssen bestimmte Fähigkeiten neu ausgebildet und trainiert werden. Unternehmen sollten in der Lage sein, Marken über unterschiedliche Medien hinweg aufzubauen und dabei auch Vehikel wie den User-generierten Content zu nutzen. Wichtig ist auch die Fähigkeit, mit einer Vielzahl von Werbe- und PR-Partnern umzugehen. Außerdem muss auf dem Gebiet der Analyse dazugelernt werden: Skills für das Daten-Management werden gebraucht, um die Effektivität von Online- und Offline-Marketing-Aktionen zu maximieren und zu vergleichen. Oft kann in einzelnen Bereichen eine Spezialisierung notwendig sein. Marketing- und Vertriebsorganisationen werden in solchen Fällen restrukturiert. Centers of Excellence werden gegründet oder spezielle Aufgaben per Outsourcing an einen Dienstleister abgegeben. In einer Umfrage von McKinsey sagten 75 Prozent der befragten Marketing-Verantwortlichen, dass die benötigten Skills so speziell würden, dass ihre Organisationen in Zukunft völlig anders arbeiten müssten. Der Veränderungsprozess ist also bereits im vollen Gang. (hv)