Der Trend ist klar: Technologie kommt immer näher an uns Menschen heran und wird zunehmend invasiv. Dabei verwischt die Grenze zwischen einem Individuum und seiner Umwelt zunehmend. Individuelle Mobilität konnten wir uns als Technologie in Form unserer Autos noch in die Garage stellen und damit beim Gang in unser Büro oder unser Zuhause hinter uns lassen. Der PC hat es längst bis in unser Arbeitszimmer zu Hause geschafft - und in Form von Notebooks sogar bis auf das Sofa. Smartphones und Tablets - Technologien deren Umsetzung noch nicht einmal 10 Jahre zurückliegt - erlauben wir den Zugang zu unseren intimsten Privatbereichen und nehmen sie mit ins Bett und Bad.
Wearables - die Technologie mit Körperkontakt
Das schien erstmal der Gipfel zu sein, den man mit technologischer Nähe erreichen kann. Und so verwundert es nicht, dass die Technologie-Unternehmen das Muster geändert haben: In den letzten neun Jahren ging es vor allem darum, mit immer neuer Software auf diesen wundersamen Geräten unsere Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die eine App oder Webseite, die wir Nutzer vor allen anderen aufrufen und zum Mittelpunkt unseres digitalen Lebens machen. Alle Informationskanäle galt es zu besetzen. Doch die meisten Kanäle haben die Unternehmen mit ausgeklügelten Algorithmen selbst verstopft. Denn nach noch mehr Nähe kommt bei Informationen erstmal eines: Rauschen und Desorientierung.
In den letzten drei Jahren gab es dann endlich einen neuen Trend: Wearables. Kleine Anstecker die Schritte zählen, Kopfhörer die auch noch unseren Puls messen und die Königsdisziplin: smarte Uhren. Über deren Nutzen erhitzen sich die Gemüter. Aber ganz nüchtern betrachtet ist klar: Mit Smartwatches kann man zwar endlich ein paar Körperdaten kontinuierlich aufzeichnen, aber näher an unser Ich kommt eine intelligente Uhr gegenüber einem Smartphone nicht heran. Denn die Geräte sind zwar kleiner, aber wohin - außer zum Schwimmen und in die Dusche - kann man mit intelligenten Uhren vordringen, wo noch kein Konzern zuvor mit dem Smartphone war? Und die paar Signale, die per Vibrationsalarm übertragen werden können, helfen auch nicht weiter. So gehypt die Smartwatch ist, ein Technologiesprung ist sie nicht!
Was an Apples Airpods wirklich revolutionär ist
Den neuen Weg zeigt uns Apple mit den Airpods und dem Verzicht auf die analoge Klinkenbuchse. Die Welt schreit auf, dabei wird hier die Zukunft vorbereitet: Eine weitere Schnittstelle wird digitalisiert. Denn über drei analoge Adern kann man nicht nur mit einem weiten Kompatibilitätsbereich Daten von einem Körpersensor, der zufällig auch noch Musik überträgt, auf das Smartphone zurückmelden. Die neuen Airpods zeigen den Weg: Lagesensoren, Trageerkennung und Beschleunigungssensoren machen daraus weit mehr als einen drahtlosen Bluetooth-Kopfhörer. Der Kopfhörer gibt dem Smartphone wertvolle weitere Körperinformationen, für die das Telefon in der Hosentasche schon zu weit weg ist - etwa unsere Blickrichtung.
Immer weitere Sensoren werden wir nach der Uhr und dem Kopfhörer an unseren Körper hängen, kleben oder was auch immer. Und diese Sensoren unterhalten sich per Bluetooth mit unserem Smartphone und lassen die Technologie damit wieder ein Stückchen näher an unser Ich heran.
Digitale Prothetik als neues Annäherungsfeld
Damit werden sich die Technologiekonzerne in den nächsten Jahren ein weiteres Feld einverleiben: Die digitale Prothetik. Früher waren unsere Körper noch so vollkommen, dass wir Technologie nur an uns herangelassen haben, wenn ein Körperteil oder Organ nicht mehr richtig "funktionierte" oder Unterstützung brauchte. Eine Brille, Kontaktlinsen oder eben ein künstliches Bein.
Heute gibt es bereits so gute Prothesen, dass deren Träger mit einem künstlichen Sprunggelenk nicht mehr bei den Paralympics startet, sondern gegen die "Normalen" gewinnt. Die digitalen Prothesen und Sensoren werden uns Menschen mit Eigenschaften ausstatten, die wir uns früher ohne Technologie-Unterstützung noch nicht vorstellen konnten. Was diese Entwicklung aus uns Menschen, unserem Ich und unserer Identität machen wird, ist noch völlig unklar. Für die Tech-Konzerne wird das vor allem eines bringen: Geld.
Direkter Zugang zu unserem Gehirn?
Und dennoch ist diees Feld für den Informations-Kapitalismus bei weitem nicht das interessanteste. Bei der nächsten entscheidenden Schlacht um die Nähe einer Technologie zu unserem Ich geht es nicht um invasive Prothetik, sondern um einen direkten Link in unser Gehirn.
Bisher mussten wir Menschen uns auf die Technologie und die Schnittstellen die sie für uns bereitstellt, einlassen und sie erlernen. Wir wurden konditioniert, unsere Fragen an die Welt in eine kleine Suchleiste einzutippen. Auch wenn 99 Prozent aller Suchmaschinen-Nutzer nicht wissen, was man mit ein paar Zeichen noch so alles aus diesen Wundermaschinen herausholen kann: Wir haben gelernt, in einem Quasi-Dialog unsere Ergebnisse zu verfeinern, auszuprobieren und eine Balance zwischen Anfrage, Suchergebnis und gefühlter Freiheit und Autonomie bei der Auswahl der Ergebnisse für unser Selbst zu erzielen. Die Unternehmen auf der anderen Seite des Suchschlitzes haben in den letzten 15 Jahren versucht, aus dieser seltsamen Suchleisten-Maschinen-Schnittstelle unsere Absichten, Wünsche und Vorstellungen zu prognostizieren.
Intelligente Assistenten sorgen für Durchdringung
Für die Silicon-Valley-Unternehmen sind künstliche Intelligenz und die daraus entstandenen, intelligenten Assistenten eine neue Einnahme- und Datenquelle. Das Wetteifern - mit dem typischen "Alles oder Nichts"-Ethos - um das absolute Monopol über unsere Gedanken ist längst entbrannt. Denn diese intelligenten Helfer brauchen keine Suchleiste mehr. Wir können ihnen in natürlicher Sprache ganz direkt unsere Wünsche und Absichten mitteilen. Kein Umweg mehr über eine Suchleiste, kein Lernen von Maschinenlogik, nur einfaches Aussprechen. Und wenn die Technologie smart genug ist, dürfte es auch keine - oder zumindest deutlich weniger - Missverständnisse mehr bei der Interpretation unserer Vorstellungen aus verstümmelten Suchanfragen geben.
Die Wunder-Assistenten kommen aktuell meist in Form sympathischer Frauenstimmen daher: Erst Siri (Apple) und Cortana (Microsoft), dann Alexa (Amazon) und jetzt Google Home. Waren es erst einfache Fragen nach dem Wetter, die dank unserer mobilen "Wanzen" mit unserem aktuellen Aufenthaltsort angereichert wurden, sind aktuell auch schon komplexe Fragen möglich: "Nenne mir alle siebensitzigen Geländewagen mit einem Verbrauch von unter zehn Litern" beispielsweise. Dazu hätten wir mit dem kleinen Suchschlitz schon ein paar Interaktionen mehr gebraucht.
Ganz erstaunlich dabei ist, dass das jahrzehntelange Spiel, wie die Technologie näher an uns Menschen herankommt, eine neue Wendung bekommen hat. Es geht nicht mehr darum, ein Stück Technik noch näher an unseren Körper zu bekommen, sondern näher an unseren Geist: Mit einem Mal konnte Amazon ein paar Rivalen links überholen. Ganz ohne eigenes Smartphone ist Alexa mit Lautsprecher und Mikrofon ganz nah an uns dran. Und zwar dort, wo wir ganz ungezwungen wir selbst sind: zu Hause in der Küche oder im Wohnzimmer.
Service oder Angriff auf unsere Autonomie?
Die intelligenten Assistenten können auch in Chatbots eingebaut werden und so Klartext-Anfragen, die wir beispielsweise mit einem Unternehmen führen, beantworten und lenken. Große Fortschritte werden aktuell auf dem Gebiet der Kontextualität und der persönlichen Erinnerung gemacht. Schon heute ist die Antwort auf eine Suchanfrage nicht mehr bei jeder Person gleich (Stichwort "Filterblase"). In Zukunft wird die Antwort eines persönlichen Assistenten durch die Verwendung des persönlichen Kontextes massiv individualisiert sein.
Dabei verschwindet eine ganze Ebene unserer bisher empfundenen Autonomie, weil wir keine Auswahl aus einer Liste mehr treffen müssen, sondern das Ergebnis direkt serviert bekommen. Wir heben Maschinen und Technologie damit auf die Ebene persönlicher, individueller Kommunikation und werden das in Zukunft immer schwerer unterscheiden können. Denn wie in jeder engen Zusammenarbeit mit einem persönlichen Assistenten werden wir auch den digitalen bereitwillig Zugang zu unseren persönlichen Informationen gewähren und ihnen so erlauben, uns immer besser einzuschätzen.
Schnittstelle Mensch als Geschäftsmodell
Die Vision im Silicon Valley ist klar: Wer diese neue Technologie und die direkte Schnittstelle zu uns Menschen beherrscht, der wird es vielleicht schaffen, ein völlig neues Unternehmen aufzubauen. Tummeln sich heute Technologie- und Erdöl-Unternehmen mit Umsatz- und Marktkapitalisierungs-Zahlen jenseits der 300 Milliarden Dollar in den Börsenlisten, könnte mit diesem neuen Ansatz das erste Eine-Billion-Dollar-Unternehmen Wirklichkeit werden. Damit ließen sich auch die heutigen Umsätze von 10 Dollar pro Weltbürger (Google) oder 50 Dollar pro US-Bürger (Facebook) noch bei weitem übertreffen.
Und was kommt danach? Naja, wer unsere Absichten kennt, der wird sie in Zukunft wahrscheinlich auch beeinflussen wollen. Ob unsere Bequemlichkeit das wert ist? (fm)