Wenn's hinten und vorne nicht passt

18.02.2004 von Wolf-Rüdger Bretzke
Auch die bestgeplante Lieferkette ist nicht gegen alle Unwägbarkeiten gefeit. Bei unerwarteten Lieferausfällen oder Maschinenproblemen dient ein durchdachtes Supply-Chain-Event-Management (SCEM) als "Feuerwehr". Gleichzeitig bildet es aber auch die Grundlage für einen proaktiven "Brandschutz".

*Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bretzke ist Exclusive Advisor der Bearingpoint GmbH und Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Logistik e.V.. Patrick Ploenes arbeitet als Consultant im Bereich SCM bei Bearingpoint in Düsseldorf.

Entscheidungshilfe für den Notfall: Wenn die Supply Chain mal nicht so funktioniert wie geplant, hilft das Supply-Chain-Event-Management. Foto: Joachim Wendler

Eine grundlegende Voraussetzung für alle Supply-Chain-Management-Konzepte ist die Fähigkeit zur Collaboration in der Wertschöpfungskette. Möglich wird sie durch einen übergreifenden Informationsaustausch, der zu einer transparenteren Wertschöpfung führt. In der betriebswirtschaftlichen Literatur der vergangenen Jahre betraf diese "Visibilität" vornehmlich die Sicht auf unternehmensinterne und -externe Ressourcen. Unter dem Stichwort "Advanced Planning Systems" (APS) zielte sie auf die Verbesserung der Planungsqualität: Je tiefer der Planer in die vor- oder nachgelagerten Wertschöpfungsstufen blicken kann, desto eher ist er vor unliebsamen Überraschungen in Form von Bedarfsveränderungen, Bestandslücken und Kapazitätsengpässen gefeit, so der geplante Effekt. Schnellere Reaktionszeiten sowie eine höhere Produkt- und Servicequalität durch engere Ausrichtung an den Bedürfnissen des Endkunden sollten die natürliche Folge

davo sein.

Nun mag die Supply Chain durch die Integrationsbemühungen der Wertschöpfungspartner ärmer an Überraschungen werden; völlig überraschungsfrei wird sie dadurch noch lange nicht. Dies liegt zum einen in der Natur der Sache. Wir können nicht alle Unwägbarkeiten in unsere Planungen einbeziehen, geschweige denn die Risiken quantifizieren. Ob Maschinen- oder Personalausfälle, ein Werksbrand, der eine Fertigungslinie zeitweilig lahm legt, oder ein unerwartet erfolgreiches Konkurrenzprodukt - wo geplant wird, gibt es auch Planabweichungen.

Zum anderen ist es in einer wettbewerbsgetriebenen Gesellschaft mit wechselnden Wertschöpfungspartnern kaum möglich oder sinnvoll, überall das gleiche Integrationsniveau anzustreben. So wird nicht jeder Zulieferer dem Endfertiger die eigene Fertigungskapazitäten detailliert preisgeben wollen, auch wenn dies im Hinblick auf eine engpassorientierte Optimalplanung sinnvoll wäre. Zu groß ist die Angst, dass dieses Wissen bei Preisverhandlungen missbraucht werden könnte. Somit sind der Supply-Chain-Planung enge Grenzen gesetzt. Das Risiko verborgener Engpässe auf vorgelagerten Wertschöpfungsstufen bleibt also prinzipiell erhalten.

SCEM-Konzepte setzen genau an diesem Punkt an. Getrieben von der Erkenntnis, dass selbst hochmoderne APS nicht auf jede Störung mit einer Neuplanung der Ressourcen reagieren können, bilden sie einen zur Planung komplementären Ansatz. Sie ersetzen die Ressourcensicht im Sinne eines "Constraint-based Planning" durch die Prozesssicht: Dadurch, dass der Prozess beherrschbar wird, lässt sich auch die Reaktionsfähigkeit auf Planungsfehler verbessern.

Visibilität bedeutet hier nicht die Offenlegung zugeordneter Ressourcen, sondern das Wissen über den Prozessfortschritt innerhalb der Leistungserstellung - Abweichungen eingeschlossen. Eine Grundvoraussetzung für die Messung dieses Fortschritts ist allerdings die Fähigkeit der Prozesskette, Statusmeldungen zu generieren.

Von der Statusmeldung zum Event

Dazu ein Beispiel: Für die Veredelung von Blechen stellt der Zulieferer vor Schichtbeginn Vormaterialien (Rohbleche) bereit, die im Rahmen der industriellen Fertigung dem Teilprozess "Oberflächenbehandlung" zugeführt werden. In dieser Wertschöpfungskette lassen sich an zwei Stellen Statusmeldungen generieren: als Fortschrittszahlen in der Produktion und in Form von Tracking-and-Tracing-Signalen auf Seiten des Zulieferers.

Informationstheoretisch betrachtet, reduziert jede Statusmeldung die Unsicherheit auf dem Weg der Leistungserfüllung - auch dann, wenn sie im Hinblick auf die Zielerreichung den Erwartungen entspricht. Das Tracking-Signal, durch das der LKW permanent seine Geoposition aktualisiert, erhöht mit jedem gefahrenen Kilometer die Gewissheit, dass die Ladung ihr Ziel planmäßig erreichen wird. Dasselbe gilt für die Meldung des Produktionsfortschritts an den Leitstand: Es hätte ja auch anders kommen können!

Jede Statusmeldung bietet also einen Grundnutzen gegenüber der Alternative des "Nicht-Bescheid-Wissens." Doch ein permanentes Monitoring stößt durch die Fülle der eingehenden Informationen schnell an die kognitiven Grenzen der Beobachter. Es gilt also, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, um wirkliche "Events" aus der Fülle von Statusmeldungen zu filtern.

Meilensteine und Frühwarnsystem

Wann aber ist eine Statusmeldung wesentlich für den weiteren Prozess der Leistungserstellung? Zumindest zwei unterschiedliche Arten von Statusmeldungen mit Event-Charakter lassen sich unterscheiden. Das sind zum einen "beobachtbare" Statusmeldungen, die an vorher definierten Messpunkten generiert werden, quasi Fortschrittsmeldungen mit "Meilensteincharakter". Eine zusätzliche Bedeutung, etwa zur rechtlichen Absicherung gegenüber Dritten im Rahmen von Nachweispflichten, erhalten solche Statusmeldungen, wenn sie in Form von Ablieferquittungen und Transportschadensprotokollen in die Dokumentation eingehen.

Im oben beschriebenen Beispiel signalisiert der Wareneingangs-Scan das Eintreffen der Rohbleche im Produktionslager. Ein solcher Event reflektiert nicht nur den Anfangs- beziehungsweise Endzustand eines Teilprozesses, sondern markiert häufig auch als "Trigger" den Beginn des nachfolgenden. So dient die erfolgreiche Abfertigung der Rohbleche zugleich als Startsignal für den Fertigungsprozess.

Es gibt aber noch eine zweite, wesentlich interessantere Kategorie von Events - die "antizipierbaren" Statusmeldungen. Sie greifen dem Prozessverlauf vor, indem sie Abweichungen vom Plan so früh wie möglich anzeigen. Beispielsweise mag sich bei der Veredelung der Rohbleche abzeichnen, dass ein Maschinenfehler eine erhöhte Ausschussrate hervorruft und folglich der Sicherheitsbestand vorzeitig erschöpft ist. Vorausgesetzt, diese Information wird möglichst früh verteilt, schafft sie zusätzlichen Handlungsspielraum für den Produktionsleiter. Er kann nun entscheiden, ob eine Sonderfahrt zu organisieren ist, um einem möglichen Bandstillstand vorzubeugen, oder ob unter Inkaufnahme zusätzlicher Rüstkosten auf eine andere Maschine ausgewichen werden soll. Auf jeden Fall weiß er, dass die Planabweichung einen Eingriff des Managers erfordert und sich nicht ohne Zusatzkosten bereinigen lässt.

Die jeweilige Entscheidung hängt vom Kontext des Gesamtprozesses ab. Wenn durch die zu erwartende Fehlmenge ein wichtiger Kundenauftrag unerfüllt bleibt, hat ein Event beispielsweise eine deutlich höhere Relevanz. Der Prozesseigner sollte sich daher sowohl über das Spektrum der zur Verfügung stehenden Maßnahmen im Klaren sein als auch über die Konsequenzen des Anwendens beziehungsweise Unterlassens für den Gesamtprozess. Ein gutes SCEM-Werkzeug bietet ihm strukturierte Entscheidungsunterstützung, indem es die Funktion der Frühwarnung mit der eines Decision-Support-Systems koppelt.

Im Tagesgeschäft wird ein Event fast immer nur auf der Ebene seiner Auswirkungen bekämpft: Der Manager bewegt sich im System; um die Folgekosten zu verringern, reagiert er also mit (möglichst sinnvollen) Gegenmaßnahmen. Wenn sie zu einer grundlegenden Verbesserung der Supply Chain führen sollen, müssen diese Maßnahmen jedoch gründlich durchdacht sein.

Präventiver Feuerschutz

Darüber hinaus eröffnet sich für den Manager aber durch die Arbeit am System selbst eine zusätzliche Perspektive: Er findet möglicherweise präventive Maßnahmen, die die Eintrittwahrscheinlichkeit bestimmter Events verringern. Zu einer effizienten "aktiven Brandbekämpfung" gesellt sich damit der "präventive Feuerschutz" auf der strategisch-konzeptionellen Ebene des Prozess-Redesigns.

Eintrittswahrscheinlichkeit und Folgekosten bilden hier die Koordinaten, innerhalb derer Events bewertet werden. Zunächst ist zu fragen: Wie häufig hat sich die Anlieferung im letzten Jahr wodurch verzögert, welche Kosten entstanden daraus, und wie oft führte eine erhöhte Ausschussrate zu einer Fehlmenge bei der Erfüllung von Kundenaufträgen? Je höher die konkreten Werte für diese Parameter liegen, desto mehr Handlungsbedarf besteht.

Geeignete Maßnahmen können zum einen das Übel "an der Wurzel packen", indem sie sich auf die Auslöser des Events konzentrieren. So lassen sich im Falle einer wiederholt verspäteten Anlieferung beispielsweise die Transportrisiken vermeiden, wenn der Zulieferer veranlasst wird, sich am Werksgelände anzusiedeln, oder wenn ein dort ansässiges Unternehmen diese Aufgabe übernimmt.

Daneben gibt es kompensatorische Maßnahmen, die das Event selbst in Kauf nehmen und lediglich seine Wirkung bekämpfen, also für den Fall einer Planabweichung die Folgekosten verringern. So wäre etwa die Ausdehnung des Sicherheitsbestandes eine Maßnahme, mit der sich eine erhöhte Ausschussrate bei einer bestimmten Maschine auffangen ließe. Oder im Falle einer verspäteten Anlieferung könnte die Vereinbarung von Konventionalstrafen helfen, den Produktionsausfall wenigstens teilweise zu kompensieren.